Schwerhörigkeit: Der Wert von Ritualen

Früher langweilten mich politische Rituale. Ich wollte das wichtigste in Kürze, keine hingeleierten Sprechakte. Ich weiss nicht, ob es am Alter, an der Weltlage oder an meiner Schwerhörigkeit liegt, aber das hat sich stark geändert.

Das merkte ich zum Beispiel gestern, als das das Schweizer Parlament einen neuen Minister wählte. Das ist immer ein Spektakel. Diesmal ging es um die Nachfolge der abtretenden Verteidigungsministerin. Zwei Männer kandidierten: Martin Pfister und Markus Ritter, beide von der Mitte-Partei. Die Diskussionen im Vorfeld waren schwierig – wie jedes Mal bei solchen Bundesratswahlen. Der Entscheid jedoch fiel bereits im zweiten Wahlgang. Um 9.11 Uhr gab Nationalratspräsidentin Maja Riniker nach dem immergleichen Ritual bekannt: „Gewählt ist mit 134 Stimmen – Martin Pfister.“ Dazu ein Echo in der zweiten Landessprache: „Est élu avec 134 voix ….“. Diesen Moment hört und sieht man danach als Medienkonsumentin den ganzen Tag mehrmals. Hier ist er.

Obwohl ich das alles am Mittag längst wusste hörte ich die Bekanntgabe Rinikers am Radio mit Herrn T. nochmals. Ich mag es nicht, wenn Herr T. mittags Radio hört, ich verstehe dann meistens am Radio nichts und ihn auch nicht mehr. Aber Rinikers deutlich gesprochene, feierliche Ankündigung mochte ich. Ich war sogar gerührt. Der Bundesrat ist wieder vollzählig. Die Welt ist in Ordnung.

Eine deutliche Aussprache ist im Parlamentssaal nötig, denn die Akustik ist in der über 120 Jahre alten Halle nicht die beste. Aber eine so präzis inszenierte Botschaft wird auch Parlamentarier mit nachlassendem Gehör erreichen und sogar Schwerhörige auf den Besuchertribünen. Das Problem könnte bloss gewesen sein, dass beide Kandidaten so ähnlich heissen. Beide tragen die Vokalfolge „a…i i…e“ im Namen.

19 Gedanken zu „Schwerhörigkeit: Der Wert von Ritualen“

  1. Ich glaube, wir Hörende, sind uns alle nicht bewusst wie schwierig es doch manchmal ist, ähnlich klingende Wörter auseinanderzuhalten. Ich weiß um die Bedeutung des deutlichen Sprechens und doch verschlucke ich von Zeit zu Zeit einzelne Silben oder bin schlampig in der Aussprache.

    1. Ach, da musst Du Dir kein Gewissen machen, das ist bei ganz vielen so. Man sagt es gleich am Anfang und nach drei Sätzen hat das Gegenüber es wieder vergessen. Und so weiter. Wobei ich Ausnahmen kenne, Freundinnen, die sich wirklich Mühe geben, mit mir langsam und deutlich zu sprechen. Gerade mit ihnen gibt es so viel auszutauschen, dass man sich dann manchmal wünscht, es würde schneller gehen. Du bist es gewohnt, auf andere zu achten, die nicht so fix sind. Du würdest es im Bedarfsfall sicher lernen!

  2. Auch für mich war es nicht einfach, im Vorfeld der Wahlen die Namen der beiden Kandidaten auseinanderzuhalten, nicht so sehr akkustisch, aber doch irgendwie wegen dem Gleichklang: Wer ist nun der besser nicht zu Wählende? Pfister oder Ritter? Meine inzwischen etwas angestaubten Hirnwindungen benötigten für das Aha jeweils etwas Zeit – und eine Eselsbrücke: Jener der mit Familiennamen wie der (Noch-)Präsident der Mitte-Partei (Gerhard Pfister) hiess, war wählbar. Der andere weniger.

    1. Ja, am Anfang hatte das schon was, es sah ein bisschen nach Alibi-Übung aus. Aber ich bin eigentlich ganz zufrieden mit dem Wahlausgang. Pfister hat schnell gemerkt, dass er sich inhaltlich von Ritter absetzen muss. Er bediente dann eher das EU-offene, mitte-linke Feld, Ritter driftete – so schien mir – im Verlaufe seiner Kampagne wieder mehr nach rechts. Dass Pfister sich durchsetzen konnte, ist für mich ein gutes Zeichen. Jetzt hat er ja bereits geradezu provokant eine stärkere Öffnung Richtung Nato und EU propagiert. Damit bin ich angesichts der Weltlage einverstanden. Ich habe mich am Anfang allerdings auch gefragt, ob Mitte-Chef Gerhard Pfister nun einfach seinen Cousin (oder so) ins Rennen schickt. Ich bin nicht die einzige, es ist zu den Pfisters die am meisten gegoogelte Frage, ich habe jedoch keine Antwort gefunden. Wenn Martin Pfister sich bewährt, was ich hoffe, wird man es hoffentlich irgendwann erfahren.

    2. Meine Eselsbrücke wäre: der Ritter ist derjenige mit dem Schwert. Der haut schon mal dazwischen.
      Ein Pfister (muss ich googeln) ist ein Bäcker oder auch jemand, der Tiere hütet – also etwas Sanfteres als der Ritter.

      1. Ja, gute Idee, das mit der Eselsbrücke! Wir werden wohl nun unseren Pfister kennenlernen, während sich der Ritter mit zerbeulter Rüstung aus dem Kampf zurückzieht 🙂

  3. Ich lese gerade die Schlagzeile in Blick.ch: Der neue Bundesrat stürzt fast bei der Tribüne. Markus Ritter nach Niederlage: «Habe Pfister vorher nicht gekannt»

    Sollte das ein Witz sein? Jedenfalls klingt das ziemlich seltsam.

    1. Ja, da hast Du jetzt nicht die relevantesten News zum Thema gesehen. Musst Du vielleicht Deine Google-Abfrage ein wenig präzisieren.

  4. Du steckst natürlich in der Schweizer Politik tiefer drin. Mich amüsieren eher manche Detail-Aussagen, wie z.B. dass der Bauernpräsident Ritter behauptete, Städter würden weniger arbeiten als Leute auf dem Land. Oder dass Pfister den Linken als „Anti-Ritter“ dient.
    Ob das alles stimmt, kann ich nicht beurteilen. Ich finde das eher lustig, aber andere mögen solche Aussagen auf die Palme bringen.

    1. Diese Aussage über Bauern und Städter finde ich überhaupt nicht amüsant, aber ganz und gar nicht! Sie bedient das Narrativ der SVP, dass es in der Schweiz einen Stadt-/Land-Graben gibt, dass Städter faul sind und sich nicht für die Leute auf dem Land interessieren, sondern nur für Ausländer. Und dass Städter in allen Dingen privilegiert sind. Was aus vielerlei Gründen nicht stimmt. Aber es gehört hierzulande zur rechten Strategie, verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Es fing mit den Kosovaren an, ging über die IV-Beziehenden und erreichte ungefähr vorletztes Jahr die Städter. Dass Ritter diese Rhetorik bediente, hat möglicherweise dazu beigetragen, dass er die Wahl verloren hat. Viele vermuten in ihm einen SVPler im Mitte-Pelz, und diese Aussage hat solche Befürchtungen bestätigt.

  5. Ich hätte nicht gedacht, dass es in so einem (relativ zu Deutschland) so kleinen Land wie die Schweiz auch so viele Konflikte gibt, wie z.B. Land versus Stadt. Und was Ausländer betrifft, da sind die Schweizer wohl wesentlich selektiver, wen sie überhaupt ins Land lassen.

    Früher (als Kind) hatte ich auch gedacht, dass doch jeder dort leben soll, wo er will. Im Deutschen Grundgesetz gibt es ja das Recht auf Freizügigkeit, was besagt, dass jeder Deutscher innerhalb Deutschlands da hinziehen darf, wo er will. Aber in der PRAXIS kann so etwas nicht funktionieren: die schönste Gegend Deutschlands ist wahrscheinlich der Starnberger See – und nun stell dir vor, alle 80 Millionen Deutsche pochen auf ihr Grundrecht, dort zu leben.

    Was sich in der Theorie immer so toll anhört und gerade von den Linken verfochten wird, ist oftmals weltfremd (aber vielleicht ist das jetzt nur meine Ideologie)

    1. Das Gute ist, dass jeder etwas anderes als für sich schönste Gegend empfindet. Nicht alle Einwohner hätten den Starnberger See als Favoriten.
      Manche mögens lieber am Meer, im flachen Land, oder in einer Stadt…..unendliche Möglichkeiten.

    2. Äh, a propos, „wen wir ins Land lassen“: 27 Prozent der Menschen in unserem Land haben keinen Schweizer Pass (Quelle: https://www.ch-info.swiss/de/edition-2024/die-schweiz/fakten1). Diese hohe Zuwanderung ist zum grossen Teil nötig, denn ohne Menschen mit Migrationshintergrund würden wir hier auf der Strasse sterben: nicht genügend Ärzte, nicht genügend Pflegepersonal, nicht genügend Bauleute und sowieso nicht genügend Taxifahrer und Buschauffeure. Natürlich sorgt das mitunter für Spannungen, die rechte Partei zielt aber wohlweisslich vor allem auf Asylsuchende und von Arbeitskräften nachgezogene Familien.

      In der Asylpolitik sind wir Teil des Schengenraums, haben also grundsätzlich dieselben Regeln wie die EU-Staaten, die ebenfalls im Schengenraum sind, auch (noch) Deutschland.

  6. Das meinte ich mit „selektiv“: man will sich „nützliche“ Leute aussuchen, die man ins Land lässt, wie eben Ärzte oder Pflegepersonal. Es dürfen auch Millionäre sein, also Menschen, die Geld ins Land bringen, aber auf keinen Fall solche, die Geld kosten ohne eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen.

  7. Das „Missverständnis“ besteht weniger zwischen schweizer und deutschen EU-Regelungen, sondern eher darin, was ich ausdrücken will und was du darin liest.
    Um es anders zu sagen: Was wollen die Politiker? versus Was wollen die Bürger? Wobei es natürlich sowohl „rechte“ als auch „linke“ Politiker, sowie „rechte“ und „linke“ Bürger gibt.

    Das Problem scheint aber wohl darin zu liegen, dass die Bürger die Entscheidungen der Politker mehr auszubaden haben als die Politiker selbst.

    Ohne dieses „Ausbaden“ würde es wahrscheinlich keine Widerstände gegen politische Entscheidungen geben.
    Andererseits: wenn niemand betroffen wäre, bräuchte es auch keine Entscheidungen.

    Im normalen-zivilen Leben trifft doch jeder die Entscheidungen für sich selbst, also z.B. in welcher Stadt du wohnst, welchen Beruf du wählst etc. – Und nun stell dir vor, ein Politiker bestimmt, dass du dein Eigentum (dein Haus) mit jemand anderem teilen musst <== so geschehen bei meinen Großeltern in der DDR (so waren die linken Kommunisten. Ist ja auch verständlich: wer was hat, soll dem was abgeben, der nichts hat)

  8. Ich möchte hier nicht über Migrationspolitik diskutieren. Ich erlaube mir, den Thread hiermit abzuschneiden. Es ist mir lieber, wenn wir demnächst mit etwas Heitererem weiterfahren können.

  9. Da gebe ich dir vollkommen recht !!!!

    Ich will jetzt auch nicht sagen: „Ey, du bist doch diejenige, die immer damit anfängt, über Trump & Co. zu schreiben“. – Okay, in diesem Thread war ich es, der auf Migration umgeschwenkt ist, aber „Schwerhörigkeit“ fällt auch nicht gerade in die Kategorie „heiter“.

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