Kann man als Schwerhörige flanieren?

Flanieren kann doch jede und jeder, denkt man. Aber das stimmt eben nicht so richtig. Louis Huart, einer der Väter der Flanerie, definierte 1841 sehr genau, wer in den exklusiven Club der Flaneure aufgenommen wird. Es sind selbstverständlich Männer, und sie haben: „Gute Beine, gute Ohren und gute Augen (siehe hier).“ Ich bin also gleich doppelt für die Mitgliedschaft im Club der Flaneure disqualifiziert – als Frau und als Schwerhörige. Die begnadete Amerikanerin Lauren Elkin erledigte 2016 in ihrem Buch „Flâneuse“ zum Glück die Geschlechterfrage. Überhaupt ist das Flanieren ja kein Wettkampfsport, sondern etwas im Grunde Verspieltes, ja, Subversives.

Und doch nagte die Disqualifikation wegen schlechten Gehörs an mir. Huart findet, man brauche ein gutes Gehör, damit einem keiner der Dialogfetzen von Passantinnen und Passanten entgeht in einer Stadt, in der Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten sich begegnen. Da kann ich leider tatsächlich nicht mithalten. Und es stimmt ja: So ein Tinnitus als einziger Begleiter beim Durchstreifen einer Stadt kann sehr langweilig sein.

Was also soll ich machen, um allen Ernstes als Flaneuse gelten zu dürfen? Soll ich Inklusion im Club als mein Menschenrecht einfordern? Oder soll ich dem Club etwas anzubieten versuchen, was den anderen Mitgliedern imponiert?

11 Gedanken zu „Kann man als Schwerhörige flanieren?“

  1. Unbedingt Inklusion im Club der Flaneure einfordern, liebe Frau Frogg! Ich würde mich anschliessen. Trotzdem wird es wohl noch Generationen dauern, bis auch Rollstuhlfahrer als «richtige» Flaneure anerkannt werden – geschweige den Rollstuhlfahrerinnen. ;-))

    Und anbieten könnten wir: frische Luft, nicht nur draussen im Park, sondern auch in den Gehirnwindungen der Clubmitglieder. Das könnte geschehen in Form von Horizonterweiterungsintensivkursen. Ich übernähme den theoretischen Teil, du den praktischen. Oder vice versa? Und nochmals ;-))

    1. Oh ja, frische Luft in den Gehirnwindungen der Clubmitglieder! Da bin ich sofffort dabei, und bei Theorie und Praxis wechseln wir ab. Du gibst Praxis-Kurse im heiteren Umfahren von Hindernissen (wobei ich volles Verständnis hätte, wenn Du dabei nicht immer restlos heiter bleiben könntest auf dem alten Pflaster von Luzern). Ich in der grossräumigen Umgehung von Lärm und Gedränge und in der Erkundung der Schönheiten von Autobahnrändern (kein Witz, aber Mitnahme von Ohropax empfohlen).

  2. Es liegt nicht an deinem Geschlecht oder deiner Schwerhörigkeit, aber irgendwie kann ich mir dich als Flaneuse nicht so richtig vorstellen.
    Woran liegt das? Hmmm, vielleicht erscheinst du mir für diesen „Job“ zu ernsthaft. Ein wahrhafter Flaneur würde sich zum Beispiel nicht so über Herrn Trump aufregen, sondern höchstens müde über seine Eskapaden lächeln.
    Ach, da fällt mir ein, dass unser Mit-Autor Schreibman mal schrieb, dass er in mir einen Flaneur sieht. Damals wusste ich nicht so recht, was er damit meint. Musste erst mal bei Wikipedia nachsehen:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Flaneur

    Eines finde ich allerdings tragisch für dich, nämlich dass du die Dialogfetzen von Passantinnen und Passanten nicht mitbekommst. Die sind tatsächlich für einen Flaneur sehr aufschlussreich: wenn man sie aneinanderreiht, könnte man ein Buch darüber schreiben, was die Menschen auf der Straße so bewegt.

    1. Danke für den Wikipedia-Link, Rabi. Das ist tatsächlich eine Bereicherung für diesen Blogbeitrag. Ich möchte allerdings anmerken: Ich lächle oft müde, nicht zuletzt über jene, die – mit Verlaub – den Ernst der Lage in Bezug auf Donald Trump noch nicht erkannt haben.

  3. Wenn man sich die Wiki Beschreibung durchliest, bist du ein Flaneur. Der Begriff hat sich im Laufe der Zeit ständig gewandelt und einen anderen Charakter beschrieben. Nun eben auch weiblich und ohne gute Ohren. Andere Merkmale wie intellektuell, gute Beobachtungsgabe und Spaß am flanieren… alles da. 🙂

  4. The Guardian schrieb am 29.07.2016 unter anderem: „For a woman to be a flâneuse, first and foremost, she’s got to be a walker – someone who gets to know the city by wandering its streets, investigating its dark corners, peering behind façades, penetrating into secret courtyards“. – Ach übrigens, mein Englischlehrer (der vorher ein bekannter Bundesliga-Fußballspieler war) nannte mich immer Sherlock Holmes, wahrscheinlich weil ich schon als Schüler immer unmögliche Dinge rausgefunden habe, so wie jetzt das Guardian-Zitat.

    1. Danke, Rabi! Das ist ein schöner Text und er passt zu mir (oder passte zu mir, im Moment ist meine Flaneusen-Tätigkeit aus verschiedenen Gründen eingeschränkt). Ich kopiere hier auch gleich noch den Link zum ganzen „Guardian“-Artikel ein.

      https://www.theguardian.com/cities/2016/jul/29/female-flaneur-women-reclaim-streets#:~:text=For%20a%20woman%20to%20be,fa%C3%A7ades%2C%20penetrating%20into%20secret%20courtyards.

      Dass Detektiv Rabi dieses „unmögliche“ Ding gefunden hat, verdankt er zu einem millionsten Teil auch mir. Ich habe ein Digital-Abo des „Guardian“.

  5. Wie hast du den Artikel gefunden? Über das von mir erwähnte Datum? – Ich hatte – Sherlock-Holmes-mäßig – bei google „flaneuse sourde“ eingegeben, worauf mich google erstmal fragte, ob er wirklich im französisch-sprachigen Raum nach einer flanierenden Frau suchen soll, die nichts hört. Da erschien dann unter anderem dieser Guardian-Artikel.
    Ich hätte den naürlich auch direkt verlinken können, aber da er so lang war, hatte ich dann nur den einen Satz rausgepickt.

    1. Ich habe einfach einen Teil Deines Satzes mit dem Stichwort „Guardian“ gegoogelt. Ja, er ist verdammt lang, und ich bin zu zerstreut zum Codieren geworden, sonst hätte ich ihn verlinkt unter dem „hier“.

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