Spazieren: Der Hauch der Erinnerung im Strassendorf

Neulich hörte ich auf, über die schwierige Sache mit dem Club der Flaneure und der Schwerhörigkeit nachzudenken. Ich stieg in Ebikon aus einem Bus und spazierte einfach los. Ebikon ist ein Strassendorf mit zahlreichen berotlichterten Übergängen, deshalb auch Amplikon genannt. An den Hängen stehen Neu- und Altbauten kreuz und quer wie wild parkierte SUVs an einem Grümpeltournier. Ich marschierte los und flüsterte: „Oh Agglo, offenbare Deine Geheimnisse!“ Aber der Ort blieb öd und verlassen.

Bis ich an die Strassenecke kam, an der einst Herr und Frau Nitroglyzerin  – kurz: Nitro – gewohnt hatten, in einem von der Bauwut vergessenen Bauernhaus. Hier pflegten die beiden in den neunziger Jahren einen Salon abzuhalten. Herr T. und ich waren oft dort. Es kamen allerhand Intellektuelle, zum Teil von weit her. Wir diskutierten über Paul Virilio, über Utopien und über die Genderfrage. Wir assen und rauchten und tranken und lachten, bis tief in die Nacht.

In den nuller Jahren mussten Herr und Frau Nitro dann doch ausziehen, das alte Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie zog in einen anderen Vorort, er verliess die Gegend ganz. Jetzt stehen dort gesichtslose Wohnblocks. Mir aber hauchte mit einem Mal aus dem Keller des Betonklotzes, der genau an der Stelle des alten Holzhauses steht, der dionysische Geist von damals entgegen. Er warf mich beinahe um. Ob dieser Geist abends auch in die Wohnungen der Menschen steigt, die in den neuen Häusern wohnen? Beschleicht sie nachts manchmal geistige Unruhe und eine seltsame schöpferische Gefrässigkeit? Hören sie ferne Stimmen über Paul Virilio reden? Riechen sie gar Wein? Oder – Gott bewahre! – Zigarettenrauch?

Ist die Erinnerung mächtiger, wenn man schwerhörig ist? Ich weiss es nicht.

18 Gedanken zu „Spazieren: Der Hauch der Erinnerung im Strassendorf“

  1. Ich weiß nicht, welche besondere Gabe Schwerhörige haben. Habe mal danach gegoogelt bzw. die KI befragt. = Dabei kam raus, dass Schwerhörige insbesonders DAS verstehen, was sie NICHT hören sollen.
    Ob das tatsächlich stimmt oder eine böse Unterstellung ist, kann ich nicht beurteilen.

    1. Danke, Rabi, das ist sehr informativ, denn es zeigt, dass die KI in diesem Fall ja einfach die gängigen Klischees reproduziert, scheint mir. Das es so ist, hat mehr mit den Sprechenden zu tun als mit den schlecht Hörenden. Weil: Wenn Person A der Person B etwas mitteilen will, was die Schwerhörige C nicht hören soll (was ich per se schon unanständig finde), dann senkt A ihre Stimme, redet dafür aber sehr deutlich, damit B sie versteht. Somit erweist sie aber auch der Schwerhörigen C einen Dienst, für die man nicht schreien, sondern einfach deutlich sprechen sollte. Dafür musste ich aber nicht KI, sondern nur meine eigene Erfahrung befragen.

      1. Ich kann mir gut vorstellen, dass die KI gängige Klischees bedient, weil sie diese oft im Internet findet bzw. entsprechend trainiert wurde. Sie kann zwar logische Schlüsse ziehen, aber erkennt nicht, ob etwas unanständig ist.

        Zum Beispiel: a) Menschen hören Dinge, die sie nicht hören sollen. b) Es gibt schwerhörige Menschen. c) Menschen tun Dinge, die sie nicht tun sollten.
        Aus a), b) und c) ergibt sich: „Schwerhörige verstehen insbesonders DAS verstehen, was sie NICHT hören sollen“

        1. Diese Kombination von Prämissen und der daraus gezogene Schluss scheinen mir überhaupt nicht angebracht. Ich kann ja als Schwerhörige C nicht selbst entscheiden, ob ich einen zwischen A und B gesprochenen Satz verstehen will oder nicht. Ist KI wirklich so dumm?

          1. Die KI ist sicherlich nicht schlauer oder dümmer als Menschen. Mein Leitspruch ist, dass aus richtigen Beobachtungen oftmals falsche Schlüsse gezogen werden.

            Gibt es nicht auch das Sprichwort „Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand“? Woher kommt so ein Sprichwort? (Auch wenn man sein Ohr verbotenerweise an die Wand hält, kann man nicht entscheiden, was man zu hören bekommt).

            Ich bin oft erstaunt, wie „menschlich“ die KI heutzutage bereits ist. Es ist oft sehr schwer zu erkennen, ob ein Text von einem Menschen oder einer KI erzeugt wurde. Beide können sowohl Geniales als auch Quatsch hervorbringen.

  2. Was für schöne und vielschichtige Bilder! Die invasiven Neubauten am Hang wie wild parkierte SUVs beim Grümpeli. Auch Herr und Frau Nitroglyzerin kann ich mir gut vorstellen, wie sie ihre brandgefährlichen politischen Ideen nach Amplikon brachten.

    Auch dass die Aufbruchstimmung von damals – die gab’s damals bestimmt noch, zumindest aus heutiger Sicht – plattgemacht wurde und gesichtslosen Wohnblocks weichen musste, sehe ich geradezu plastisch vor mir. Aber vielleicht überinterpretiere ich hier etwas.

    Jedenfalls tippe ich auf Nostalgie, welche die Erinnerungen mächtiger erscheinen lässt. Selbst der Zigarettenrauch trägt dazu bei … (Ich spreche/schreibe aus Erfahrung.)

    1. Danke, Walter! Es freut mich, dass Du dem Text so viel abgewinnen konntest! Der Name Nitroglyzerin haben eigentlich nichts mit dem Salon-Ort zu tun, sondern mehr mit einer Organisation ähnlichen Namens, die sie auch noch hatten. Und ein bisschen mit dem Charakter von Herr N., einen sehr liebenswürdigen Menschen, mit dem ich mitunter aber auch schwierige Konflikte erlebte.

      Keinesfalls wollte ich nahelegen, dass in gesichtslosen Wohnblöcken gesichtslose Menschen wohnen. Ich habe selbst schon in einem Wohnblock gewohnt und fand dort – beinahe jedenfalls – die Familie, die ich zu jener Zeit sonst schmerzlich vermisste. Nur habe ich von diesen Leuten halt niemanden gesehen, geschweige denn gesprochen, und so kann ich nicht einmal Vermutungen über ihr Wesen anstellen. Wohnen in gesichtslosen Wohnblöcken hat für viele vielleicht etwas Vorläufiges, als seien sie selbst noch dabei, ihr Gesicht zu finden. Bei mir war es damals so. Das war ironischerweise während der Zeit, als ich bei den N’s zugange war.

      Und Du hast recht: Die Nostalgie spielt hier sicher mit, aber nicht in ihrer honigsüssen Gestalt, sondern als etwas Mächtiges, was mir fast den Asphalt unter den Füssen weggezogen hat.

  3. Um Deine abschliessende Frage zu beantworten: Nein!
    Ich bin auch mit anderen Schwerhörigen aufgewachsen und hatte als „Ausgewachsene“ mit weiteren Schwerhörigen zu tun gehabt und verzweifelte genauso an denen wie an den „Hearies“, wenn sie Erinnerungslücken aufwiesen.
    Was Schwerhörigen aber nachgesagt wird, dass sie einen Blick für Details haben, die den Guthörenden entgeht. Aber mir kann es passieren, wenn ich nach einem Monat plötzlich eine Zimmerpflanze registiere, die schon seit einem Monat dort steht. Was für meinen keinen grünen Daumen spricht.

    1. Danke, Sori! Ich bin froh um diesen Kommentar. Ich weiss, dass dieser Beitrag irgendwo „lödelet“, und Du packst genau die lose Stelle. Ich glaube eigentlich auch nicht, dass Schwerhörigkeit das Erinnerungsvermögen verbessert.

      Ich weiss sogar selbst, dass ich auch vieles vergesse, immer mehr in letzter Zeit. Ich habe aber diese merkwürdigen, intensiven Flashbacks alter Zeiten. Früher waren solche Erinnerungsmomente viel weniger überwältigend. Dass es jetzt anders ist, könnte aber auch eine Folge des Alterungsprozesses sein.

  4. Das Bild der Neubauten, die wie wild geparkte SUVs durcheinanderstehen, gefiel mir besonders. Und ich habe erstmal gegoogelt, ob „Grümpel“ dem standarddeutschen „Gerümpel“ entspricht.

  5. 🙂 Danke! Ja, Grümpel und Gerümpel ist meines Wissens genau dasselbe. Wir sagen auch „Grümpi“ statt Grümpeltournier.

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