
Im Schaufenster des Coiffeurs d’Oro, an der Ecke zur Voltastrasse, sehe ich eine klassizistische Aphroditestatue sich räkeln. Da zieht mir ein Textfragment durch den Kopf wie eine Songzeile „… un confiseur: Aux armes de Werther“. Es ist Samstagmittag an der Moosmattstrasse. Hier, in der früheren Vorstadt von Luzern, sind rund um eine Kreuzung in letzter Zeit 100 oder 200 Einkaufsmeter mit Cachet entstanden. Die Ladenlokale wurden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erbaut, es gibt sogar noch einen Schuhmacher, gleich daneben die Blumensaison, an der Nummer 24 das Restaurant Moosmatt und, schräg vis à vis, das Schaufenster mit den gediegenen Polster- und Vorhangstoffen von Monig Z’Rotz.
Weil das alles so einen feierlich bourgeoisen Touch hat vielleicht, muss ich an jene Confiserie in Paris denken, die „In den Armen von Werther“ hiess. Der Name stammt aus einer Aufzählung von Ladengeschäften im Passagen-Werk* von Walter Benjamin. Durch dieses Buch flaniere ich gerade bezaubert (der Pedestrian hat mir geraten, es flanierend zu erforschen, vielleicht die einzige Art, in diesem umfangreichen Werk überhaupt vom Fleck zu kommen). Mit den Passagen sind die mit Glaskonstruktionen überdeckten Einkaufsarkaden des 19. Jahrhunderts in Paris gemeint. Benjamin erforschte sie, entdeckte in ihnen die Trugbilder des kapitalistischen Warenmarktes und fügte die Fragmente seiner Überlegungen zu einem traumartigen Text.
Wer aber würde in den Armen von Werther liegen wollen, noch dazu bei einem Confiseur? Zu Hause stelle ich Nachforschungen an, und siehe da, es handelt sich tatsächlich um eine Songzeile – aus einer nach dem unglücklich liebenden Deutschen benannten Oper von Jules Massenet (hier mehr).
- *Walter Benjamin: Das Passagen-Werk ; Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, edition Suhrkamp 1200, S. 84
Ich werde verrückt… durch deinen Eintrag bin ich auf etwas Unglaubliches gestoßen. Ich habe meine Kindheit in Werther verbracht (einem kleinen Ort in der Nähe von Bielefeld) und dort bei meiner Oma in der Ravensburger Straße 16 gewohnt. Das sind nun schon fast 70 Jahre her.
Und jetzt stoße ich auf diese Seite hier und sehe, was sich nun an dieser Stelle befindet. Ich kann das kaum glauben: https://1621-werther.de/
Werthers Echte, die kenne ich natürlich auch! Dass die aus Deinem Geburtsort stammen wusste ich aber nicht. Ich dachte immer, die haben etwas mit Goethes Werther zu tun und habe mich manchmal gefragt, warum diese Pastillen nach einem unglücklich Verliebten benannt sind. Ob er vom vielen Weinen Halsschmerzen hatte?
Das finde ich witzig, dass bei „Werther“ die meisten an Goethe denken. Sogar bei den Bildern auf Google leidet als Erstes so ein junger Mann, bevor es Fotos aus der Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen gibt.
Goehte hat übrigens langezeit in Jena gelebt (dort u.a. den „Erlkönig“ geschrieben), von wo mein Vater stammt.
Kurzum: die Beziehung von Goehte zu Jena und Werther ist so wie die Beziehung meiner Eltern…
Oh, es freut mich, dass dieser Text bei Dir diese Assoziation ausgelöst hat, und dass Du auf das Haus Deiner Oma in Werther gestossen bist. In einem 400 Jahre alten Haus hat sie gewohnt! Sehr beachtlich. Auch das Restaurant sieht attraktiv aus.
Vor allem aber, dass die Familie Heidsiek in dem Haus gelebt haben soll, bevor sie nach Frankreich auswanderte und die weltberühmte Champagner-Dynastie Heidsiek begründete, ist beachtlich. Also, wenn die tatsächlich aus Werther kommen, dann hätte das doch schon ewig bekannt sein müssen! So wie mit Gustav Nebel, der die Bonbons „Werther Echte“ erfunden hat. Meine Mutter (und insbesondere meine Oma) haben ihn noch gekannt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Werther%E2%80%99s_Original
Ob es wirklich nur um Süßkram geht? Oder doch eine gewisse Todessehnsucht, Leidensbereitschaft, eine unglückliche Liebe den Connaisseur in die Confiserie treibt?
Er sucht eine zuckrige Ersatzbefriedigung, die ihn dann wehklagend zu den Ärzten treibt, wenn er nicht mehr von ihr lassen kann, vom Dentisten über den Internisten zum Kardiologen…
Der zuckersüßte Arm umfaßt den Liebenden und läßt ihn nicht mehr los. Werther selbst wählte den einfachsten Ausweg, vermied lange Leidenszeiten und Altersdiabetes gekonnt mit einem Pistolenschuß. Etwas mehr Selbstbeherrschung wäre ihm, aber nicht dem Roman, wäre dem Zuckersüchtigen gut angestanden.
Ja, die Todessehnsucht! Diese Frage hat mich auch beschäftigt, als dieser Satz mir im Kopf herumspukte. Wahrscheinlich ist der Schlüssel bei der Opernbefindlichkeit zu suchen, eine liebe Freundin hat mir geschrieben, dass die Oper ganz wunderbar sei.
Ich selbst habe Werther nie gemocht, ich stamme aus einfachen Verhältnissen und habe früh gelernt: Wer wegen Klassendünkel zurückgewiesen wird, marschiert einfach weiter, überwindet seinen Kummer, und wenn es nur aus Trotz ist.