S’esch scho äine gschtorbe bem Warte!
Standarddeutsch: Es ist schon einer gestorben beim Warten!
Wenn ich zu Fuss ins Spital gehe, muss ich die vierspurige Pilatusstrasse beim Hotel Anker überqueren. Das braucht Geduld. Man wartet zweimal, bis es grün wird, beim zweiten Mal auf einer zu kleinen Mittelinsel im tosenden Verkehr. Wenn ich da so stehe, denke ich an die obige Redensart meiner Mutter. Sie sagte das immer, wenn sie irgendwo unsinnig lange warten musste. Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, wie man sterben kann beim Warten. Aber jetzt kann ich es. Ich stelle mir diesen beim Ausharren Verblichenen vor, wie er auf der Mittelinsel steht und steht, wie er immer hohläugiger wird, seine Kleider zerfetzt und seine Haare zerzaust, wie ihm nie jemand auch nur „es Kafi verbiibrengt“ und wie er in einer Novembernacht einem Herzversagen erliegt. Und am nächsten Tag lerne ich dann, wo der perfekte Ort ist, den einsamen Tod der Wartenden zu erleiden: in der Warteschlaufe am Telefon des Hausarztes, bei breiiger Klaviermusik.
Deine Geschichte vom Tod in der Warteschleife wird noch getoppt durch diese von einer KI erfundenen Story:
„Er saß auf der Bank, wartend, wie so oft. Die Straßen waren leer, nur das leise Rauschen der Bäume begleitete ihn. Er blickte auf die Uhr, noch fünf Minuten bis zum letzten Zug, der ihn nach Hause bringen sollte. Doch als die fünf Minuten verstrichen waren, kam der Zug nicht. Er wartete weiter, Stunde um Stunde, bis er schließlich zusammenbrach. Als der erste Morgenstrahl den Bahnhof erleuchtete, fand ihn ein früher Wanderer.“
„Getoppt?!“ Ich glaube, ich lese nicht richtig! Du nimmst die Redensart meiner Mutter, fütterst sie der KI und erzählst mir dann, diese lauwarme Automaten-Melancholie würde meine Geschichte toppen?! Das finde ich jetzt aber ziemlich respektlos! Damit versöhnt mich nur ein kleines Dankeschön deinerseits für den offenbar inspirierenden Input!
Natürlich ist menschliche Kreativität immer besser als die einer KI, und klar: ohne deine Telefon-Warteschlaufe-Geschichte hätte ich die KI niemals gebeten, eine kurze Story zu schreiben, in der jemand beim Warten stirbt. Das „toppen“ bezog sich eher auf meine Bewunderung darüber, dass die KI diese Story bereits wenige Sekunden nach meiner Anfrage aufs Papier (sprich: den Bildschirm) brachte.
Übrigens denke ich oft deine Mutter bzw. ihren Ausspruch „Verschrei es nicht. Noch sind wir nicht am Ziel“ (als Anwort auf deinen Satz „Gleich sind wir zu Hause“). So war es letzte Woche, als ich bereits begutachtungsfertig beim Arzt auf der Liege saß – und dann wegen dieser Geiselgeschichte spontan nach Hause geschickt wurde (ich schrieb darüber).
Meine Güte, Du erinnerst Dich noch an die Geschichte über das, was meine Mutter immer sagte!? Das muss mehr zwanzig Jahre her sein. Das ist ja geradezu unheimlich!
An manche DETAILS erinnere ich mich auch noch Jahrzehnte später. Das hat aber nichts mit dir oder deiner Mutter zu tun. Auch bei meiner Mutter weiß ich noch manche Sprüche, die sie gesagt hat, als ich ein kleines Kind war. Meine Schwestern sagen dann immer, dass sie sich an so etwas gar nicht erinnern könnten.
Andererseits weiß ich oftmals nicht mehr so genau, was gestern war oder was jemand letzte Woche gesagt hat.
Was ist schon das Leben… bestimmt sinnierten die Weisen darüber bei Gelegenheit des Wartens. Und Brecht dichtete über die Autopanne (und Valentin spielte den Buchbinder Wanninger, der in einer frühen Telefonschleife irre geht). Warten ist, etwa auf einer wenig wohnlichen Verkehrsinsel, nervenzehrend. Aber wann warten wir eigentlich nicht? Warten wir nicht immer auf etwas, auf jemanden, auf ein Ereignis, auf die nächste Sekunde? Nicht umsonst. Sie kommt und sogar der Arzt kommt – irgendwann.
Ja, gute Frage: Wann warten wir eigentlich nicht? Warten ist für mich das Gegenteil von Handeln, also in einer bestimmten Situation etwas aktiv zur Bewältigung einer Aufgabe oder Bewältigung eines Problems beizutragen. Aber während ich hier eine Pause von einem Putzeinsatz nehme, frage ich mich: Kann man das Warten, bis es 16 Uhr ist und man zum Besuch beim Vater aufbricht, auch mit Tätigkeit verbringen, zum Beispiel mit Badputzend. Und ist es dann immer noch Warten?
Aber ich habe den Eindruck, dass Du „das Leben“ etwas unterschätzt. Das Leben, unser Leben, ist alles, was wir haben. Das habe ich gesehen, als ich Krebs hatte.