Grandson und Caernarfon: Schicksalshafte Begegnungen

Meine zweite Begegnung mit Otto von Grandson hatte ich 2023 bei unseren Ferien in Nordwales. Die Destination war eher zufällig gewählt, eigentlich wollten wir vor allem unsere Freunde, die Hooligans, in England besuchen, danach Wales neu entdecken. Dass wir – schon mal dort – das Schloss in Caernarfon besichtigten, lag auf der Hand. Es ist ein Prachtsbau, eine Machtdemonstration der Engländer, die Nordwales 1277 eroberten. Im Schloss lasen wir, dass Edward I. einen gewissen Othon of Grandison in Nordwales zum Justiziar machte. Unser Graf Otto – und es war sein Job, das Recht der Eroberer in Wales durchzusetzen.

Caernarfon 2023

Ich vergass die Geschichte, erwähnte sie aber später beiläufig einem Kollegen gegenüber, dessen Vater Engländer ist. Da hatte ich meine dritte Begegnung mit Otto. Der Kumpel rief aus: „Oh! Mein Vater hat ein Buch über ihn geschrieben!“ Das fühlte sich geradezu schicksalshaft an, zumal in der Deutschschweiz kein Mensch Otto von Grandson kennt. Aber Mr. Dean, der Vater meines Kumpels, der sein Arbeitsleben in der Schweiz verbracht hat, war eben auch an der Welsh Connection des Grafen interessiert. Mein Kollege besorgte mir das Buch*, und diesen Sommer studierte ich es wie besessen. Auch zur Ablenkung von der aktuellen Weltlage. Die Menschheit hat das Mittelalter zwar nicht überwunden (neuere Geschehnisse legen eher das Gegenteil nahe) – aber doch überstanden.

Das Mittelalter war eine blutige Zeit, und Otto war auch keine Friedenstaube. Im Sommer 1277, vor der Eroberung von Wales, setzte er mit einer Truppe auf die Insel Anglesey über, erntete dort kurzerhand alles Getreide ab und stellte es der englischen Armee zur Verfügung. Folge: Die Zivilbevölkerung in Wales hungerte. Hätte er dasselbe nach 2018 getan, wäre er ein mutmasslicher Kriegsverbrecher.

Mr Dean erzählt viele solche Episoden. Das Hauptinteresse des pensionierten Ingenieurs gilt aber savoyischen Architekten und Bauleuten, die sowohl in der Westschweiz als auch in Wales Schlösser bauten und wohl im Umfeld von Otto nach England kamen.

3 Gedanken zu „Grandson und Caernarfon: Schicksalshafte Begegnungen“

  1. Schweizer Architekten sind wohl überall. Am Ende wurden diese Gemäuer nach Schweizer Vorgaben erstellt? Na ja, sie halten ja noch, insofern könnte das schon sein. Wer Käse mit Löchern versehen kann ohne ihn instabil zu machen, es sei denn, man erhitzt ihn, versteht sich auf so etwas!
    Und ganz im Ernst, es ist hochinteressant, wie weit der Austausch in jenen Zeiten doch ging. Klar, die vielen Reisenden, die unbenannt und unbesehen verschollen sind werden seltener erwähnt. Und von denen gab es noch viel mehr. Aber so können wir doch kreuz und quer durch Europa reisen und darüber hinaus und kommen doch nicht weiter als unsere Vorfahren mit Pferd und Segelschiff.

    1. 😀 Schweizer Vorgaben! Faszinierende Idee. Nur: Damals existierten – wie gesagt – weder die Schweiz noch Schweizer*innen und schon gar nicht Schweizer Normen in der Architektur. Es waren savoyische Architekten.

      Aber zu Deiner ernst gemeinten Passage: Da begibst Du Dich genau auf die Stelle, auf die ich hinauswill. Aber möglicherweise blindlings, wie sollst Du auch den Schweizer Diskurs über unsere Rolle in Europa kennen! Es ist halt so, dass die Deutschschweiz bis zum heutigen Tag in dieser ermüdenden Rhetorik gefangen ist, dass wir uns damals im Mittelalter von den Habsburgern freigestrampelt haben und nie wieder „fremde Vögte“ akzeptieren werden. Daher die in der Deutschschweiz vorherrschende EU-Skepsis. Die französischsprachige Schweiz ist da ganz anders: Jahrhundertlang gehörten grosse Teile von ihr zu Savoyen, Teile der Oberschicht tummelten sich mit den aristokratischen Eliten Europas (das wurde mir erst mit der Auseinandersetzung mit Otto klar). Danach wurde zumindest das Waadtland von Bern (also von den Schweizern) erobert und erst 1803 ein eigener Kanton. Die Einstellung zur Welt und insbesondere zur EU ist dort eine ganz andere. Als ich mich Otto zu beschäftigen begann, ist mir zum ersten Mal klargeworden, dass diese Unterschiede möglicherweise tief sitzende und gut nachvollziehbare historische Hintergründe haben.

      Und: Natürlich hat es immer Reisende gegeben, auch solche, die verschollen sind. Ich erinnere zum Beispiel an die Schweizer Söldnertruppen. Sie bestanden aus brotlosen Söhnen von Bauernfamilien und wurden nicht selten kommandiert von Innerschweizer Aristokraten (nicht Architekten!). Sie heuerten bei Fürsten in halb Europa an, zum Beispiel Spanien, Frankreich, Sachsen, Mailand und waren für ihre Brutalität Schlagkraft berüchtigt. Sie sind wohl auch in grosser Zahl niedergemetzelt worden, manchmal von Landsleuten im anderen Team.

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