Wir schreiben den 22. Juni, in der Nacht zuvor hat Donald Trump Bomben auf Iran geworfen. In Sion sind wieder über 30 Grad angekündigt. Herrn T. will an den Lac de Derborence, 1451 Meter über Meer, dort ist es kühler. Aber Achtung: „Das gilt als die gefährlichste Postautostrecke der Schweiz“, sagt er. „Ok“, sage ich und so steigen wir in den gelben Bus, der zunächst über grüne Hänge den Bergen entgegenkurvt. Wenn der Chauffeur das Posthorn erklingen lässt, rennen Kinder herbei und winken. Hinter dem Fahrer sitzen vier Typen, so übermütig, als hätten sie schon am frühen Morgen dem Fendant zugesprochen.
Nach Aven wird die Strasse einspurig, nur da und dort eine Ausweichstelle. Dann eine enge Kurve und nun fahren wir auf einem schmalen Sims über der Schlucht. „Nur neun Chauffeure haben überhaupt die Erlaubnisse, diese Strecke zu fahren“, sagt Herr T. Er sitzt am Fenster und knipst, später zeigt er mir die Bilder, man sieht nur Sitzpolster und senkrecht abfallende Felsen. Ich schaue lieber nach vorn. Der Chauffeur lässt das Horn jetzt vor jeder Kurve erklingen, es kommen keine Kinder mehr. Auch kaum Gegenverkehr, zum Glück.
Vor einer Linkskurve hält der Fahrer an, ziemlich lange. Ich sehe ihn im Spiegel, ein behäbiger, junger Mann mit pechschwarzem Haar. Er kratzt sich am Unterkiefer. Ein Anzeichen von Nervosität? Es ist mäuschenstill im Bus, auch die Fendant-Männer schweigen. Ein Töffli kommt aus der Kurve, zieht vorbei. Der Fahrer wartet weiter. Herr T. bekommt irgendwie mit, dass hinter der Kurve ein Tunnel ist, vielleicht steht auf der anderen Seite eine Ampel und er muss abwarten, bis der Gegenverkehr vorbei ist. Oder so.
Vielleicht funktioniert ja etwas nicht.
Ich habe der Postauto AG immer vertraut, ein Bundesbetrieb, verlässlich und integer (also, abgesehen von diesem seltsamen Finanzskandal, aber das beeinträchtigt die Fahrgastsicherheit ja nicht, oder?), die Busse erschliessen noch das fernste Alpental, das ist politisch gewollt und sinnvoll. Aber den Amerikanern haben wir auch vertraut und schaut her, was passiert ist! Kann man überhaupt noch jemandem vertrauen?
Wir warten. Über den News-Bildschirm vorne flimmert wieder und wieder die Nachricht, dass im nahen Conthey eine invasive Ameisenart in sechs Häuser gedrungen ist. Die Insekten würden in riesigen Staaten leben. „Es waren so viele, man konnte vor lauter Ameisen den Fussboden nicht mehr sehen“, soll die Bewohnerin eines betroffenen Hauses gesagt haben.
Endlich fährt der Chauffeur hinein in den Tunnel, bewegt den Bus Zentimeter um Zentimeter vorwärts, er passt genau ins Gewölbe, ein ungenaues Manöver und das Dach sieht aus wie nach einem Eiertütschen. Das Posthorn erklingt so oft, ich kann es schon gar nicht mehr hören.
Als das Postauto das Ende der Schlucht und auf flacheres Terrain erreicht hat, klatschen die Leute im Bus. Wie in einem Flugzeug, das vom Piloten bei ruppigem Wetter heil auf die Piste gesetzt wurde. Ich bin nicht sicher, ob das mein Vertrauen in die Welt wieder herstellt. Aber ich habe Hochachtung vor Buschauffeuren, die Verantwortung für so viele Leute auf sich nehmen.
Wir steigen aus, gehen über den Parkplatz und dann zeigt Herr T. auf ein Auto und sagt: „Schau, ein Niederländer!“ Wir lachen beide, denn so ist es immer auf diesen teuflischen Bergstrecken: Zuoberst auf dem Parkplatz steht ein Auto mit NL-Kennzeichen, das Fahrzeug eines Flachländers, der bewiesen hat, dass er hier hochkommt.
Und dann kommen wir zum See, und ich muss zugeben, es ist ganz wunderprächtig dort oben. Man kann für Stunden alles vergessen.


Danke für diesen Reisebericht – hab es gerne gelesen und mitgezittert.
Danke, piri!
Schließe mich Piri an! 🙂
Toll, das steht auch noch auf meiner Löffelliste! Habe vor kurzem eine gute Doku darüber gesehen: „Die Helden der Postautos“
https://www.playsuisse.ch/detail/3749077?locale=de
Danke für den Tipp, Markus! Den kurzen Film über die Postautostrecke wird sich Herr T. sicher auch sehen wollen, ich gebe ihn heute Abend in die Runde. „Löffelliste“ ist ein neues Wort für mich, aber ich habe eigentlich auch keine, höchstens bei Büchern. Die Fahrt mit dem eigenen Auto dort hinauf kann ich nur Leuten mit starken Nerven empfehlen, und einem nicht so grossen Auto. Oben ist die Vegetation tatsächlich speziell, wegen der Bergstürze im 18. Jahrhundert. Es gibt zwei Restaurants, eins am Lac de Derborance selbst und in Godey (dort haben wir gut gegessen). Zum Wandern: sehr schön. Leider bin ich nicht sehr weit gekommen, meine Knie, schade.
Die Fahrt nach oben klingt nervenaufreibend. 😯
Ja, das war sie in der Tat. Abwärts mussten wir ja dann auch noch (ein Weg dauert rund eine Stunde). Aber da wir den Weg schon kannten, fühlte es sich etwas weniger beängstigend an (richtig ruhig war ich allerdings erst, als wir unterhalb Aven wieder auf zweispuriger Strasse waren).
Man geht dort eigentlich nicht wegen der Aufregung hoch, sondern wegen der phantastischen Landschaft und der historischen Bedeutung (zwei Felsstürze im 18. Jahrhundert und ein gleichnamiger Roman unseres Westschweizer Nationaldichters C. F. Ramuz.