
Im Frühling 1328 machte Ritter Otto von Grandson seine letzte Reise. Er war 90 Jahre alt, ein immer noch mächtiger Mann. Seine Zeit als Krieger lag lange hinter ihm. Er war in England wohlhabend geworden, seine diplomatischen Dienste in halb Europa gefragt. Nun brach er, zusammen mit ein paar Männern, von Grandson aus auf, um den Grossen St. Bernhard zu überqueren und nach Rom zu gelangen.

Er kam bis ins 80 Kilometer entfernte Aigle, wo er beim Prior des Klosters weilte und erkrankte. Am 5. April starb er. Man legte ihn in der damals funkelnagelneuen Kathedrale von Lausanne in einem prächtigen Sarkophag zur Ruhe. In Aigle selbsts erinnert nichts mehr an den prominenten Gast des damaligen Priors. Ich bin nicht einmal sicher, ob das Haus des Priors im Klosterviertel noch steht. Das heute mächtige Schloss hatte bei der Ankunft von Otto sowieso erst zwei Türme. Meine Suche nach Ottos Spuren war voller Missverständnisse gewesen: Er war kein Schweizer, sondern eher ein Savoyer, kein Abenteurer, sondern ein Karrierist in fernen Ländern.

Aber im Weinbau-Museum des Schlosses Aigle erinnerte eine dort ausgestellte Flaschen-Etikette aus dem Jahre 1991, daran, was Otto in einem gewissen Sinne gewesen ist: ein Europäer. Um zu verstehen, warum mich das interessiert, muss man eine Ahnung haben von der komplizierten Beziehung der Schweiz zur EU. Am 6. Dezember 1992 scheiterte der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) knapp in einer Volksabstimmung. Wir EU-Befürworter standen damals mit ähnlich abgesägten Hosen da wie heute die Demokraten in den USA. In der konservativen Zentralschweiz zogen an jenem Sonntag die Trychler im Triumphzug durch die Strassen. Hier schlummert der Mythos von Wilhelm Tell nur leicht und lässt sich mit wenigen Inseraten wecken. Dann ist man gegen alles, was im Entferntesten wie ein fremder Vogt aussehen könnte. Ich erinnere mich gut an jenen Abstimmungssonntag, ich war 27 und stinkwütend. Ich fühlte mich als Europäerin, nicht als verdammte Trychlerin. Vielen Stimmbürgerinnen und -bürgern der Westschweiz dürfte es ähnlich gegangen sein. Die Romandie hatte den Beitritt mehrheitlich befürwortet. Seither ist die barrière de rösti auch ein Graben zwischen EU-Befürwortenden und EU-Gegnern.
Für mich aber, in der Zentralschweiz aufgewachsen, wurde Otto von Grandson trotz seiner kriegerischen Natur zur Identifikationsfigur: Als Savoyen sich seiner Haustür näherte, griff er nicht trotzig zur Armbrust. Er nutzte die Chancen europaweiter Netzwerke von damals.
Wir sollten bei der Gestaltung unserer Zukunft nicht immer an Wilhelm Tell denken, sondern auch mal an Leute wie Otto von Grandson.
Es heisst, Otto sei ein grosser Verehrer von Eleonore von Kastilien gewesen, der Ehefrau seines Freundes Edward I. Er habe ihr geschworen, dass er eines Tages in der Grabeskirche in Jerusalem beten werde. Dass sie 1290 gestorben war, erfuhr er erst ein Jahr später, als er nach der verlorenen Schlacht um Akko in Zypern eintraf. Robert J. Dean schreibt, die Nachricht habe den Ritter dazu bewegt, als Pilger nach Jerusalem zurückzukehren – obwohl es äusserst gefährlich gewesen sei, denn westliche Kriegsgefangene wurden dort gerade in grosser Zahl auf den Sklavenmärkten zum Verkauf angeboten. Jemand hätte ihn erkennen und verraten können. Aber es gelang ihm, seinen Eid in Jerusalem zu vollbringen und heil nach Zypern zurückzukehren.
So führt eine Reise zur anderen. Vielleicht wird eine unserer nächsten über den Grossen St. Bernhard führen. Nicht zu Fuss, denn obwohl ich erst zwei Drittel des Lebensalters von Otto erreicht habe, traue ich meinen Knien einen solchen Marsch nicht mehr zu. Und nicht bis Rom, das ist mir wahrscheinlich zu weit. Aber, wenn es geht, vielleicht bis nach Turin. Gerade als Tochter des Gotthardpasses will ich damit der Mehrsprachigkeit und den verschiedenen Möglichkeiten, die Schweiz zu sehen, meinen Respekt erweisen.

Ob all die Ziele, die sich die spät auf den Spuren Grandsons Wandelnde, steckt, so europäisch sind? Jerusalem ist nicht nur auf einem anderen Kontinent, sondern in derart verfahren verfeindeten Zeiten ferner denn je, vielleicht vergleichbar mit damals. Zypern ist zur Hälfte türkisch besetzt, aber auch in der anderen Hälfte ein sicherer Hafen für Oligarchen aus aller Herren Länder. Spanien kämpft noch um seine Modernität, Italien aber hat sich zurückbegeben in seine unseligsten Tage und möchte gern andere mitziehen. Und die Schweiz, mittendrin, immer schön neutral und eigentlich mit allen gut Freund bekommt die Quittung. Zumindest aus Amerika. – Genug der leidigen Aktualität!
Ja, der Ritter war fraglos eine eindrucksvolle Figur. Etwas einschüchternd sogar, nicht nur wegen seiner kriegerischen Attitüde. Sondern auch weil er in damaliger Zeit offenbar vor Gesundheit und Lebenskraft strotzte, sich in einer noch weit kleinräumiger und engstirniger, als es unsere Tage kennen, sortierten Welt zurechtfand. Nachahmenswert? Vielleicht. Aber dazu muß man erst einmal fähig sein. Sowohl, was die notwendigen Rücksichten anbelangt, als auch die Rücksichtslosigkeit, auf die er sich fraglos auch verstand.
Aber jemand, der mit den Engländern zurechtkam und aus Jerusalem heil wieder heraus, der ist oder war ohne jede Frage ein fähiger Bursche.
Nun ja, man sollte historische Gegebenheiten stets mit Vorsicht vergleichen, finde ich. Was für mich hier im Vordergrund steht ist für mich der Vergleich der Geisteshaltung von Wilhelm Tell gegenüber jener von Otto von Grandson.