Shoppen nach dem Lockdown

Am Mittwoch musste ich in die Stadt zum Arzt. Die Stimmung auf den Strassen war gelöst, viel lockerer als während des Lockdowns. Noch war auf den Gassen kein Gedränge – einzelne Frauen huschten über die Plätze, mit beigen Regenmänteln, dezenten Halstüchern und Schirmen, wie ich. Es hat dieses Jahr keine Frühlingsmode gegeben, dachte ich. Einige trugen die Schuhe vom letzten Jahr. Es fiel mir auf. Ausser mir trägt in dieser Stadt sonst nie jemand Schuhe vom letzten Jahr. Seit Wochen hatte ich nicht darauf geachtet, was irgendwer trägt.

Nein, ich kaufe jetzt noch keine Kleider, dachte ich. Dafür fand ich mich, wie von Geisterhand hingeführt, plötzlich vor der Filiale eines global bekannten Kaffeekapselherstellers wieder. Ich habe immer geglaubt, die Kette nicht besonders zu mögen und meine Kapselmaschine aus rein praktischen Überlegungen zu besitzen. Doch nun trat ich ein, desinfizierte mir die Hände und reihte mich in die Schlange der Wartenden ein. Und als ich am Tresen stand und mich die Verkäuferin mit dem Mundschutz begrüsst hatte, hörte ich mich gegen die Plexiglasscheibe zwischen uns sagen: „Hach, ist es schön, wieder Kaffee zu kaufen!“ Ich glaube, sie lächelte, ihre Augenwinkel zogen sich leicht zusammen.

Es ist nicht so, dass ich während des Lockdowns unter Kaffee-Entzug gelitten habe. Ich habe meine Kaffeekapseln halt einfach beim Grossverteiler aus dem Gestell genommen. Aber mit der Zeit fehlte mir dabei etwas. Der extra starke Espresso in der nachtblauen Verpackung? Dieses Wohlgefühl des Bedientwerdens? „Dienen und bedient werden ist ein Grundbedürfnis“, sagte eine Wirtin in unserer Lokalzeitung, als bei uns die Gastronomie wieder geöffnet wurde. Naja, dachte ich beim Lesen. Ich bin Konsumskeptikerin. Das hat mit meiner katholischen Kindheit zu tun, die auch einen asketischen Zug hatte. Dienen und Bedientwerden hatte etwas Anrüchiges. Der Vorwurf lag in der Luft, dass der (öfter die) Dienende bei der Ausübung ihrer Funktion gedemütigt werde, sich verleugnen und sich alles mögliche bieten lassen müsse. Noch in jungen Jahren kam die Erkenntnis: Konsum schadet der Umwelt. Das passte alles gut zusammen und führte dazu, dass ich immer eine zurückhaltende Shopperin gewesen bin.

Doch dann kam das Coronavirus, und wir haben gelernt: Wenn wir nicht konsumieren, fällt uns innert einem Monat der Himmel auf den Kopf. Wenn wir nicht ständig rennen, unser Geld ausgeben, uns Vergnügungen und neues Material um die Ohren schlagen, dann verarmen erst die Kulturveranstalterinnen, dann die Wirte, die Verkäufer, die Ladenbesitzerinnen und schliesslich auch wir selber. Konsumieren ist systemrelevant. Sich bedienen lassen ein Akt der Solidarität.

Ich packte meine Kaffeekapseln ein, lächelte, ging dann noch in den Computerladen und in die Buchhandlung. Nein, ich bestelle meine Bücher nicht online. Ich unterstütze die Buchhandlung in der Nachbarschaft, die beste, die ich kenne. Jetzt noch viel mehr. Als ich nach Hause kam, versorgte ich zufrieden meine neuen Schätze. Nur der penetrante Geruch fünf verschiedener Handdesinfektionsmittel störte ein wenig.

Raus aus dem Lockdown

Hier in der Schweiz wird gerade der Shutdown gelockert. Auch hier: Schlangen vor den Baumärkten. Wieder mehr Betrieb in den Strassen. Am Mittwoch kann ich mir wahrscheinlich die Haare schneiden lassen. Ist überfällig. Aber wir sollten uns nicht zu früh freuen: Vieles ist anders als früher – zudem bleibt die Angst vor der zweiten Welle. Die Situation kommt mir vor wie die Phase nach dem ersten Schub einer chronischen Krankheit. Chronische Krankheit: Da kenne ich mich aus, ich lebe seit vielen Jahren mit Morbus Menière. Deshalb sage ich: Das wird kein Sonntagsspaziergang. Das ist fast so schwierig wie der Lockdown selber, wenn auch auf andere Art. Aber die gute Nachricht: Wir werden lernen, damit zu leben.

Der erste Schub einer chronischen Krankheit ist ein überwältigendes Erlebnis. Da ist der Schreck darüber, dass einen der eigene Körper im Stich lässt – in meinem Fall war es das Gehör. Dann die Diagnose. Die Angst. Die Angst davor, dass das jetzt so bleibt oder schlimmer wird. Die langsam sich einstellende Erkenntnis, dass Willenskraft ungefähr gleich viel nützt wie Geisterbeschwörung. Dass Stress alles schlimmer macht. Und dass die Ärzte nicht viel ausrichten können. Dann die Fragen: Wie wird das jetzt weitergehen? Wird mein Mann mich noch lieben? Werde ich verarmen? Hat diese Krankheit ein Muster? Kann ich sie überlisten, wenn ich sie durchschaue? Warum habe ich das bekommen? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Bei meinem ersten Schub bin ich in den persönlichen Lockdown gegangen. Ich wurde zwei Monate krank geschrieben und blieb zu Hause. Ich sah fast nur noch meinen Mann und ab und zu ein paar Freunde. Klingt vertraut, oder?

Der Schub ging vorbei. Ich hörte Musik und vergoss Freudentränen dabei. Ich liebte es, wieder zu arbeiten. Aber was man schafft, muss erkämpft sein – und vom Kämpfen flammten die Symptome wieder auf. Egal, was ich tat: Da war immer die Angst. Da waren immer die Fragen. Einige meiner Freundschaften zerbrachen an diesen Ängsten. Andere daran, dass es mit mir abwärts ging in der Welt. Und eine gewisse Einsamkeit wählte ich selber. Manchmal war alles gut, ich war voller Glück und Zuversicht. Manchmal verfolgte mich sachte eine kleine Depression, wenn ich morgen zur Arbeit ging. Es war ein verdammtes Wechselbad der Gefühle.

Irgendetwas hat mich damals gerettet. Wahrscheinlich war es die Hilfe vieler Menschen: Mein Mann. Ärzte, Chefs, ein paar Freundinnen und Freunde. Und ich glaube, meine Einstellung hat mich gerettet – und ich würde jetzt gerne sagen, es sei Optimismus gewesen oder Dankbarkeit oder etwas anderes Kalenderspruchartiges. Aber es war etwas anderes: Es war Durchhaltewille. Schierer, hartnäckiger, unbeirrbarer Durchhaltewille. Egal, was passiert. Mich an meinem Tagesrhythmus festhalten. Freundlich bleiben. Neugierig bleiben. Spazieren gehen. Leere aushalten lernen. Arbeiten. Schreiben. Die Dinge kommen und gehen sehen. Und mich im richtigen Moment freuen können.

Geschichten, die mir nahe gegangen sind

Hier sitze ich und schone meinen linken Fuss. Die Knochen sind heil, das konnte der Arzt mittels Röntgenbild klären. Sonst konnte er mir nichts Genaues sagen. So ein Arztbesuch hat zu Corona-Zeiten etwas Surreales, aber mehr darüber ein andermal. Tatsache ist: Der Fuss ist blau und am Knöchel leicht geschwollen. Ich ziehe den Fuss nach, an einen Sonntagsspaziergang ist aus mehreren Gründen nicht zu denken.

So forste ich mich durch die Beiträge meiner MyTagebuch-Kollegen. MyTagebuch, das ist jene Community, die auf Blogs einfach mal von ihrem täglichen Leben erzählt. Das ist oft spannend, jetzt gerade aber besonders lesenswert. Denn wir bekommen ja alle gar nicht mehr mit, was andere in ihren Home Offices, in ihren stillen Wohnungen, in den Zimmern mit den unterbeschäftigten Kindern so erleben. Dabei ist die Lektüre von Alltagserlebnissen anderer eine sehr wirksame Arznei gegen Corona-Stinkigkeit und alle Arten von Selbstmitleid.

Wer Zeit hat, surft durch die Bloggroll von Nell. Sie hat getreulich alle alten MyTagebuch-Kolleginnen und Kollegen aufgelistet. Dort finden sich Dutzende von total subjektiven Schilderungen des Lebens im Corona-Modus. Beiträge, die mir besonders nahe gegangen sind (kein Ranking, einfach eine Liste):

Ginger überlegt sich hier gerade, ob er seine Hochzeit im Sommer verschieben soll. Ausserdem versucht er sich – mit viel schwarzem Humor – vorzustellen, wie es wäre, als Pathologe zur Pflege von Corona-Patienten eingesetzt zu werden.

Milou berichtet hier, dass sie im Home Office wohl bald sehr viel Arbeit bekommen wird. Sie muss sich um insolvent gewordene Reisebüros kümmern.

Mohseshoh bestätigt mir hier mit einer unnachahmlichen Anekdote, dass man beim Maskentragen nuschelt.

Phoebeweatherfield ist Lehrerin in Bayern und fragt sich hier, wie wohl der wegen der Abstandsregeln in die Turnhalle verlegte Englisch-Unterricht an der wiedereröffneten Schule vor sich gehen wird.

Hypermental erzählt hier hier sehr sachlich, wie er versucht, an Fördermittel zu kommen, um die Pleite seines Kleinunternehmens abzuwenden.

Erinnye macht sich Sorgen um eine Verwandte, deren WG-Mitbewohner an Covid-19 erkrankt sind. Es geschah bei der Apres-Ski-Party im Südtirol. Sie fragt sich hier, warum es eigentlich noch Leute gab, die Skipartys durchführten, als man längst wusste, dass das gefährlich ist.

Bloggen in Zeiten des Coronavirus

Heute hatte die Sonntagszeitung einen schockierenden Bericht über den Notstand in Schweizer Alters- und Pflegezentren. Das Coronavirus breite sich ausgerechnet in solchen Institutionen rasant aus, heisst es. Das liege unter anderem „an der schlechten Versorgung (der Heime) mit Schutzmaterialien“. Es herrsche akuter Mangel an Masken und Schutzkleidung. „Die Mitarbeitenden eines Berner Altersheims erhielten letzte Woche per Post je fünf einfache Hygienemasken. Sie wurden aufgefordert, nur eine pro Tag zu verwenden und sie dann zu Hause zu trocknen.“ „Wenn alle Masken gebraucht wurden, beginnt man wieder mit der ersten“, steht in einer Weisung, die der Zeitung vorliegt. Dabei sind die Masken unmissverständlich für den einmaligen Gebrauch bestimmt. Ich war entsetzt. Wie konnte es soweit kommen, dass wir ausgerechnet die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft so schlecht schützen können?

Und ich hatte auch wieder dieses merkwürdige Gefühl der Deplatziertheit, das ich beim Bloggen in den letzten Wochen oft habe. Ich habe nie geglaubt, meine Blogbeiträge seien besonders relevant. Sie sind meine Art, der Welt meine Erfahrungen mitzuteilen. Mehr will ich gar nicht. Meistens drehen sie sich um das Thema Schwerhörigkeit, ist halt so. Bis vor zwei Monaten hatte ich dennoch selten den Eindruck, meine Postings liessen mich aussehen wie eine totale Idiotin. Doch seit das Corona-Chaos begonnen hat, habe ich dieses Gefühl ständig. Jeder Beitrag wird von den News oft schon nach Stunden mit einer derartigen Wucht überholt, dass ich nur dasitzen und den Mund aufsperren kann.

Am letzten Sonntag zum Beispiel schrieb ich einen Beitrag über das Kommunikations-Desaster, das ich als stark hörbehinderte Patientin bei einem Mundschutz tragenden Arzt erlebt hatte (hier nachzulesen). Ich schickte den Text auch meiner Freundin Angie Hagmann vom Netzwerk avanti donne für Frauen mit Behinderung. Sie räumte ein, dass Mundschutzmasken für Hörbehinderte ein Problem sind, gerade im Gesundheitsbereich. Sie mahnte aber: So vehement, wie ich die Mundschutzmaske ablehne, könne man das nicht tun. Wahrscheinlich würden die Masken eben doch helfen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Der Montag gab ihr recht: An jenem Tag rief der österreichische Kanzler Sebastian Kurz die Maskentragepflicht in den Läden Österreichs aus. Wer jetzt noch ein Problem mit Masken hatte, war renitent oder hatte den Ernst der Lage nicht begriffen. Inklusion hin oder her. Ich grummelte ein bisschen. Dann schrieb ich – eine Idee von Angie – eine Liste mit Tipps, wie man gefährliche Missverständnisse zwischen MaskenträgerInnen und Schwerhörigen vermeidet – gerade in der Pflege. Kann man hier nachlesen, ist am Freitag erschienen. Angie hat viel dazu beigetragen. Unter anderem ein lustiges Bild von einer Frau mit durchsichtiger Gesichtsmaske für den Umgang mit Schwerhörigen und Gehörlosen.

Nun, da haben wir einen akzeptablen Umgang mit der Situation gefunden, dachte ich zufrieden.

Dann kam der Bericht in der Sonntagszeitung, und ich sah mich widerlegt. Kann man angesichts solch himmelschreiender Missstände noch die Sondersituation von Menschen mit Hörbehinderung anmahnen? Ist das jetzt nicht vollkommen lachhaft?

Die Instagrammerin @joulesgent macht sehr spannende, sehr persönliche Postings zum Thema Schwerhörigkeit. Vor ein paar Tagen hat sie geschrieben, sie höre vorläufig auf damit. Sie habe das Gefühl, das sei im Moment alles kein Thema.

Am besten höre ich auch auf zu bloggen, dachte ich.

Aber das werde ich wohl nicht. Vielleicht sind die Texte später doch wieder mal nützlich – um zu dokumentieren, wie blind die meisten von uns 2020 in das Desaster stolperten. Oder als Denkanstoss, wie Inklusion funktionieren könnte, wenn wieder bessere Zeiten kommen.

Bitte, bitte keine Mundschutzmasken

Im Internet gibt es herzige Anleitungen für selbst gemachte Atemmasken. Wenn ich das sehe, bekomme ich als Schwerhörige leichte Panik. (Quelle: smarticular.net).

Als Schwerhörige Ü50 denkt man ja, so ein Lockdown könne einem nicht viel nehmen. Unsere wilden Partyjahre sind vorbei. Wir haben längst gelernt, dass man auch wichtige Dinge notfalls per WhatsApp oder E-Mail sagen kann. Nur Gelassenheit kann es bringen, dachte ich. Als meine Coiffeuse unseren Termin strich, dachte ich: Naja, ich muss im Moment ja auch nicht ständig meine Frisur herzeigen. Als ich merkte, dass Konversationen über zwei Meter Abstand für mich eine ziemliche Herausforderung sind, zuckte ich mit den Achseln. Als mir die Assistentin unseres Hausarztes sagte, dass ich nur – und wirklich nur – telefonisch mit dem Hausarzt Kontakt aufnehmen kann, war ich leicht verärgert.

Vor zwei Tagen erlitt ich dann einen richtigen Schock, als ich beim Ohrenarzt war. Ich war ja unbesorgt hingegangen, ich hatte nur ein Ekzem im Gehörgang. Ich habe das auch schon gehabt, es kommt vom Hörgerätetragen. Ich musste bloss zum Arzt, um es mir bestätigen zu lassen und neue Medikamente zu holen. Das Problem war: Der Ohrenarzt trug einen Mundschutz. Klar, es ist zwingend, dass Ärztinnen und Ärzte mitten in der Corona-Krise eine Maske tragen. Ich weiss das und finde das ok. Ich muss jetzt aber einfach trotzdem sagen: Ich verstand nicht, was er zu mir sagte. Einfach nicht. Auch als er mich beim dritten Mal anschrie, verstand ich nur Satzfetzen.

Gott sei Dank wusste ich schon, was ich im Gehörgang habe. Der Arzt brauchte im Grunde nur mit dem Kopf zu nicken und mir das richtige Medikament mit dem richtigen Dosierungskleber mitzugeben. Trotzdem: Meine Panik flaute nur sehr langsam ab. Ich musste an die Bewohner von Betagtenzentren denken, die oft schwerhörig sind und nun Tag und Nacht von Frauen und Männern mit Mundschutz umsorgt werden. Kann man da überhaupt noch von «umsorgen» sprechen? Und was passiert, wenn ich Covid-19 komme und ins Spital muss? Ich will gar nicht dran denken.

Ja, in der Medizin braucht das Personal im Moment dieses Masken. Aber brauchen wir sie im Alltag nun alle? Täglich taucht in den Medien irgendwo diese Frage auf. Auf YouTube gibt es herzige Anleitungen, wie man die Dinger selber näht. Zum Beispiel Hier. Ab und zu äussert sich Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit zur Mundschutz-Frage. «10vor10» sagte er am 27. März: «Wenn man Masken trägt, hat man das Gefühl, man sei besser geschützt. Und es führt wahrscheinlich dazu, dass gewisse Leute andere Vorsichtsmassnahmen weniger gut einhalten: dass man die Hände weniger wäscht, sich vielleicht mehr an die Maske und ins Gesicht fasst und vor allem, dass man Distanzen nicht einhält. Das Distanzhalten ist aber nach wie vor der bessere Schutz.» (Quelle: hier. Schwerhörige erwähnt er nicht, aber die Botschaft ist klar genug. Danke, Herr Koch!

Ich verstehe ja, dass viele als kreative Antwort auf die Krise nun etwas Buntes nähen wollen. Mir wäre es aber lieber, die Leute würden raffinierte Kopfbedeckungen herstellen. Die werden wir bald sehr gut brauchen können. Wir können ja nicht mehr zum Coiffeur.

Josephine

Die meisten Frauenbilder von Edward Hopper stellen seine Ehefrau Josephine dar, heisst es. Wer war sie? Dieses Bild, Morgen in Cape Cod, ist zurzeit in der Fondation Beyeler ausgestellt.

Gestern besuchten Herr T. und ich mit Freunden eine Ausstellung von Edward Hopper. Im Zug nach Basel streckte Herr T. mir einen kleinen Bildband entgegen. „Lies das mal, Du kannst uns nachher einen Vortrag halten“, sagte er. Merkwürdiges Ansinnen, dachte ich, aber ich las zerstreut ein paar Zeilen. Auf der Seite 11 stand, «einige Bilder» würden «eine Fixierung auf die eigene Frau» verraten, «die auffällt. Offensichtlich steht die Beziehung zu Jo im Zeichen einer geheimen Konkurrenz. Die Ehefrau ist nicht allein Kommentatorin und Managerin ihres Mannes, sondern selbst Malerin.»*

Wenn Hopper sie als Konkurrenz empfunden hat, muss sie gut gewesen sein, dachte ich. Warum kann man ihre Werke nirgends sehen? Meine Neugier war geweckt.

Bei Beyeler las ich nebenbei, dass Hopper die geheimnisvolle Jo 1924 heiratete, ein Jahr nach seiner ersten erfolgreichen Einzelausstellung. Damals war er 41. „Hing der Erfolg irgendwie mit der Heirat zusammen?“ fragte ich mich.

Und wie! Eine kleine Online-Recherche brachte später an den Tag, dass Josephine Nivison den Erfolg des Göttergatten überhaupt erst ermöglichte. Jo war selber Malerin, ein Jahr jünger als Edward. Sie arrivierte früh und hatte Edward 1923 die Teilnahme an einer Gruppenausstellung im Brooklyn Museum Art ermöglicht. Dort wurde er entdeckt.

Josephine selber malte nach der Heirat zwar noch, verschwand aber zusehends hinter ihrem Mann. Sie wurde seine Muse, sein Modell, seine Sekretärin und Managerin. Hier gibt es einen erschütternden Beitrag über sie von Senta Trömel-Plötz. Er enthält zahlreiche Auszüge aus dem Tagebuch der Künstlerin. Jo wusste um ihr Verschwinden. Sie war wütend und verbittert. „Für eine Künstlerin ist es fatal zu heiraten, ihr Bewusstsein wird zu sehr aufgerührt. Sie kann nicht mehr genügend in sich selbst leben, um produktiv zu sein. Aber es ist schwer, dies zu akzeptieren“, schriebt sie. Und: „Zwei können nicht Künstler sein.“ Als Ehemann war Hopper ein Tyrann. Und doch hat sie ihn nie verlassen.

Immerhin, sie vernachlässigte die ihr auferlegten Pflichten als Hausfrau, um malen. Doch was ist mit ihrem Werk passiert?

Als sie starb, gingen ihre Bilder zusammen mit jenen von Edward ans Whitney Museum in New York. 96 Gemälde wurden an New Yorker Spitäler verschenkt. Vieles verschwand. Eine Ausstellung mit Bildern von Edward und Josephine fand 2018 hier statt.

Wenn heute nicht Internationaler Tag der Frau wäre, hätte ich das wohl gar nie niedergeschrieben – eine Einladung, über unsere Arbeit, unsere Ehen, unserer Rollen nachzudenken.

Als Herr T. und ich mit unseren Freunden gestern in der Fondation Beyeler ankamen, habe ich den Vortrag dann gehalten. Er ist vielleicht nicht so herausgekommen, wie mein Mann ihn sich vorgestellt hat. Jede Ehe ist kompliziert. Während ich dies hier schreibe, kocht er. Ich habe offene Rechnungen mit der Kunst – jener des Schreibens. Aber ich kann mich jedenfalls nicht darüber beklagen, dass er mich zu Schweigen gebracht hat.

* Rolf Günter Renner: „Edward Hopper“, Benedikt Taschen Verlag, Köln 1992

Wahnsinn, Küsse und Corona

Habe ich Angst vor dem Coronavirus? Nein, eigentlich nicht. Das ist merkwürdig, denn ich bin ein furchtsamer Mensch. Aber ich habe gerade deswegen gelernt: Die Angst ist eine schlechte Prognostikerin. Sie steht oft in einem völlig falschen Verhältnis zum gefürchteten Ereignis. Beispiel: Einmal in meinem Leben habe ich mich nicht davor gefürchtet, meinen Job zu verlieren. „Das wäre jetzt so bescheuert, dass es gar nicht passieren kann“, dachte ich. Genau damals ist dann doch passiert. Ich habe es überlebt. Also denke ich jetzt: „Es ist ok, dass ich mich nicht fürchte. Es kommt, wie es muss.“ Ich wasche mir trotzdem häufig und gründlich die Hände und niese in meine Armbeuge. Man tut, was man kann.

Ich fürchtete mich auch nicht vor der Isolation, die eine solche Epidemie mit sich bringt. Zunächst. Bis am Freitagmorgen. Da rief zuerst unser Gesundheitsminister Alain Berset eine „besondere Lage“ aus und verbot alle Veranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern. Unter anderem sagte er die Basler Fasnacht ab. Das alarmierte mich, aber es betraf mich noch nicht. Wegen meiner Schwerhörigkeit lebe ich seit einem Jahrzehnt in einer Art Halbquarantäne. Veranstaltungen mit 1000 Personen besuche ich so gut wie nie, viel zu stressig. Gott schütze mich vor der Basler Fasnacht!

Dann las ich im Büro auf dem Intranet, ein Kollege sei positiv getestet worden. Da kribbelte es mich im Nacken. Aber, gut, unser Konzern hat um die 1800 Angestellte, verteilt auf ein gutes Dutzend Standorte im der ganzen Schweiz. Der Mann, den es getroffen hat, arbeitet 60 Kilometer weit weg. In einer Zweigstelle, die sehr wahrscheinlich keiner meiner Kollegen je betreten hat. Der Betroffene war in Mailand gewesen.

Wenig später schritt unsere Chefsekretärin durch den fast leeren Korridor (bei uns sind viele Arbeitsplätze abgebaut worden). Sie streckte mir eine giftgelbe Sprühflasche entgegen und sagte: „Damit kannst Du Deine Computertastatur desinfizieren, und die Arbeitsflächen.“ Ich sagte: „Ja, gerne, ich mache das, sobald ich Zeit habe.“ Ich hatte mir eben die Hände desinfiziert und musste dringende Sachen erledigen. Meinen Schreibtisch berührt ausser mir und der Reinigungskraft niemand. Nie werde ich den Blick vergessen, den mir die Chefsekretärin zuwarf. Ich fühlte mich schmutzig. Eine Gefährderin.

Da wusste ich: Jetzt ist etwas passiert. Ab jetzt ist jeder in diesem Haus gefährlich und gefährdet. Ab jetzt misstraut jeder jedem. Ab jetzt muss ich als Schwerhörige mich besonders in Acht nehmen. Ich darf den Leuten ja nicht mehr zu nahe treten, damit ich sie besser höre.

Später ging ich in die Apotheke, um mir ein zweites Fläschchen Desinfektionsmittel zu kaufen. Der Apotheker ist ein raubeiniger, weisshaariger Kerl. Ich schätzte ihn als einer jener Typen ein, bei denen man sich fast entschuldigen muss, wenn man so etwas kauft. Aber Irrtum: Der Mann zuckte sichtlich zusammen, als ich ihn beim Zahlen versehentlich mit den Fingerspitzen berührte. Ich schämte mich. Er ist über 60 und lebt in seiner Apotheke sicher gefährlich. Es war alles noch unangenehmer, weil ich gar nicht mit ihm reden konnte. Ich hörte an diesem Tag zu schlecht.

Ich trat aus der Apotheke und fühlte mich von da an wie ein Gespenst. Nachts schlief ich schlecht. Ich hustete leicht und hatte merkwürdige Schmerzen.

Am Samstag gingen Herr T. und ich an eine kleine Geburtstagsparty. „Wie machen wir es? Küssen? Hände schütteln? Oder nicht?“ fragten alle Eintreffenden am Eingang. Die Gastgeber lachten. Wir umarmten und küssten uns alle herzlich. Es war so ein fröhliches, entspanntes Festchen! Wunderbar! Wie aus einer anderen Zeit. Schmerzen und Gehüstel – wie verflogen.

Heute Morgen sagt Gesundheitsminister Berset in der „Sonntagszeitung“: „Der Verzicht auf Begrüssungsküsse sollte ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Wir wissen, dass soziale Distanzierung der beste Weg ist, die Verbreitung des Virus einzudämmen.“

Das ist sehr wahrscheinlich wahr. Aber es hat einen hohen Preis im Zwischenmenschlichen.

Klimawandel und wie wir im Sturm festsassen

Menschenleere Skianlagen auf Melchsee-Frutt in der Innerschweiz. Die Ruhe trügt. Es weht ein heftiger, viel zu warmer Südwind (Bild von mir, vom 15. Dezember).

Zur Mittagszeit wagte ich mich hinaus vors Hotel. Ich wollte nur schnell in den kleinen Laden, 40 oder 50 Schritte die Böschung hinunter. Auf dem Weg lag an den meisten Stellen Schnee oder Eis. Weil mein Gleichgewichtssinn nicht der beste ist, nahm ich den ersten Schritt zaghaft – wusch, riss eine Windböe mich talwärts. Ich stemmte die Beine in den Boden. Weitere Windstösse. Noch ein paar schwankende Schritte. Ich schaffte es bis zum Lädeli, wo ich an verschlossenen Türen rüttelte. Der kleine Ort war menschenleer. Man konnte es der Frau im Geschäft nicht verargen, dass sie kurz dichtgemacht hatte. Ich stellte mich bei der Ladentür in den Windschatten.

Das war die Melchsee-Frutt am Freitag. Es herrschte der Föhn. Die Gondelbahn ins Tal konnte nicht fahren. Es gab Windböen um die 150 Stundenkilometer. Wir waren von der Umwelt abgeschnitten. Schon zum zweiten Mal diese Woche.

Wir waren in den Skiferien dort, 1900 Meter über Meer. Skifahren hatte Herr T. nur an einem Tag gekonnt, spazieren ging soso lala. Eigentlich hatten wir am Freitag nach Hause gewollt. Aber die Online-Wetterdienste hatten uns schon am Mittwochabend gewarnt: Der nächste Sturm war im Anzug.

Im Hotel waren wir die einzigen Gäste, es war Vorsaison. Aber ins Restaurant im selben Haus kamen am Mittag die Männer vom Pistendienst, assen etwas und blieben lange. Sie hatten draussen nicht viel zu tun, ausser dann und wann umgewehte Pistenmarkierungen wieder aufzurichten. „So etwas haben wir noch nie gesehen“, sagten alle. Klar, Föhnstürme gehören zu den grossen Wetterspektakeln der Innerschweiz. Es ist dann ungewöhnlich warm und trocken und kann sehr stürmisch sein.

Auf der Frutt sind wir zudem in den Bergen, da kann es schon mal wettern. Wir haben hier oben auch schon Winterstürme mit heftigen Schneeschauern erlebt. Aber zwei so gewaltigen Föhnstürme in der Woche vor Weihnachten – ich kann mich nicht erinnern, dass es das je gegeben hat.

Im Restaurant diskutieren die Männer vom Pistendienst, und irgendwann fällt das Wort „Klimawandelgschtürm“ („Gschtürm“ ist ein Innerschweizer Ausdruck für unnötiges Gerede). Den Rest der Konversation habe ich nicht mitbekommen, dafür höre ich zu schlecht. Aber ich sehe den Männern an, was sie über das „Klimawandelgschtürm“ denken: Das ist wieder so ein Blödsinn aus dem Unterland. Hier oben leben wir mit der Natur. Die ist vielleicht anders als früher, aber damit kommen wir zurecht und klagen nicht. Es soll keiner von diesen ahnungslosen Städtern kommen und uns etwas über den Klimawandel erzählen.

Jaja, denke ich, aber Euch landwirtschaftliche Subventionen und Unwetterverbauungen zahlen, das dürfen wir Städter. Das kommt ganz reflexartig, so funktioniert hierzulande der Stadt-Land-Diskurs.

Jetzt stand ich im Windschatten des Ladeneingangs und dachte nach. Laut Wetterprognosen sollte der Wind gegen Abend nachlassen. Dann würde die Gondelbahn wieder hinunterfahren. „Im Konvoi“, wie die Frau im Hotel sagte. Das hiesse, mehrere Bahnen würden dicht hinter einander und in Begleitung eines der Männer vom Personal vorsichtig hinuntergelassen. Das Problem sei nicht, dass der Wind die Gondeln von den Seilen reissen, sondern, dass er sie gegen die Masten schleudern könnte. Deshalb der Konvoi. Das klingt wie im Krieg, dachte ich. Sollten wir wirklich versuchen, an diesem Nachmittag ins Tal zu kommen?

Ich machte mich auf den Weg zurück ins Hotel. Bevor ich loswankte, suchte ich am Hügelchen vor mir mit den Augen die beste Route. Als hätte ich vor, einen Gipfel ohne Wanderweg zu erklimmen. Die ersten paar Schritte gelangen gut. Aber auf halber Höhe schleuderte eine Böe mich zu Boden. Den Rest der Strecke krabbelte ich auf allen Vieren durch den Matsch. Ich begriff: Die Natur ist gross. Wenn sie will, kann sie dich mit einem Windstoss in die Knie zwingen. Das ist natürlich ein Gemeinplatz. Aber es fühlt sich nicht wie ein Gemeinplatz an, wenn Du es am eigenen Leib erlebst. Es fühlt sich an wie Todesangst.

Im Restaurant war es gemütlich. Herr T. und ich assen Tagessuppe. „Komm, wir bleiben noch eine Nacht“, sagte ich zu ihm.

Mein Lieblingsweg


Kurz vor dem Bahnhof komme ich fast jeden Morgen an einem Bildnis von Johannes Gutenberg vorbei, dem Erfinder des Buchdrucks. Wie ein bürgerliches Heiligenbild steht er da. Jedesmal blinzle ich ihm kurz zu und bitte um seinen Schutz.

Was habe ich über unseren mehr oder weniger erzwungenen Wohnungswechsel geklagt! Furchtbar! Dabei war der Umzug gar nicht so schlimm. Rückblickend glaube ich sogar, dass es gut war, umzuziehen. Es hat mich stärker gemacht. Und an unserem allerersten Tag hier passierte etwas ganz und gar Unerwartetes, etwas Wunderbares: Ich verliebte mich in meinen neuen Stadtteil. An jenem Tag ging ich durch die Strassen unseres neues Quartiers, die ich alle seit 50 Jahren kenne, leicht irr vor Schlaflosigkeit und Stress. Die Mauern glühten fast, so heiss war es. Auf einem Balkon mit schmiedeeisernem Geländer sah ich einen Mann in Malerhosen stehen. Er hatte die Augen geschlossen und streckte sein Gesicht der Nachmittagssonne entgegen. Ein Moment hochsommerlicher Trägheit mitten im hektischen Treiben. Ich war entzückt, ein Ruck ging durch mich und ich sah plötzlich die ganze Stadt anders. Jeden Tag wandere ich seither durch die Strassen und entdecke alles neu. Die kleinen Bars, die mondänen Boutiquen, die Hinterhöfe. Die alten Häuser mit den selbstbewussten Sandsteinverzierungen an den Fassaden. Die Menschen in den Strassen, Shopper, Parkiererinnen, Penner, unzählige Velofahrerinnen, Barhänger, Frauen und Männer mit Kinderwagen.

Der Stadtteil heisst Neustadt. Aber das ist irreführend, denn er hat seinen Namen noch im vorletzten Jahrhundert bekommen. Hier sind viele Häuser aus der Gründerzeit, die Strassen sind schachbrettartig angelegt, von hier zur Bushhaltestelle am Bahnhof kann ich mindestens ein Dutzend Wegvarianten einschlagen. Zum Bahnhof gehe ich jeden Tag und nehme von dort den Bus zur Arbeit. Jeden Tag entdecke ich etwas Neues.

Aber ich habe einen Lieblingsweg. Er führt durch den kleinen Park neben unserem Haus, wo der Sturm am 6. Juli eine Linde geknickt hat. Damals war hier noch eine Baustelle. Seither ist hier ein neuer Spielplatz entstanden, und ein Restaurant, wo schon die ersten Gäste sitzen. Vorne an der Ecke passiere ich das Café Alfred. Ich muss an Jude Law denken, der einmal „Alfie“ gespielt hat, ein dandyhaftes New Yorker Jüngelchen, das jede Menge Frauen aufs Kreuz legte. Das Café Alfred hat tolle Kritiken auf Tripadvisor, es ist trendy, und irgendwann werde auch ich dort einen Caffelatte trinken. Oder vielleicht einen Cappuccino. Oder einen Lattemacchiato. Mal sehen.

Ich ziehe vorbei am Geschirrladen Casacade. Dort habe ich meine ersten Trinkgläser gekauft – die gleichen wie mein bester Freund Andreaszwei. Das war gleich nach meiner WG-Zeit, als ich das erste Mal Geld verdiente. Goldene Zeiten. Ich überquere die Hauptstrasse und ziehe vorbei an der Parterrewohnung mit den Rosen aus Kunststoff auf dem Fensterbrett. Sie sehen immer frisch aus und so echt. Weisse Vorhänge verschleiern die Wohnung dahinter. Wer wohl hier wohnt? Gleich nebenan ist der syrische Barbier, der Ba’trasuren anbietet. Jedesmal, wenn ich das sehe, erschrecke ich, denke an den Baschar al-Assads Baath-Partei und merke erst dann, dass nur ein „r“ auf dem Schild fehlt.

Um die Ecke vis à vis liegt ein Büro der Versicherung, die mir einmal sehr geholfen hat. Dort überquere ich wieder die Strasse, biege dann in die erste Seitenstrasse ein, wo ein Bestattungsunternehmen diskret seine Dienste anbietet. Auch für die Toten ist gesorgt hier im Quartier. Vorne an der Ecke dann ein Ort der Nostalgie. Links das Restaurant La Perla. Hier habe ich zum allerersten Mal ohne erwachsene Begleitpersonen auswärts gegessen. 15 war ich. Oder 16? Damals war jeder Tag die Welt. Und jetzt weiss ich es nicht mehr so genau. Schräg gegenüber das Memories of Asia, ein Thai. Ich erinnere mich an ein amüsantes Mittagessen mit einem Marketing-Fachmann hier, geborener Gentleman. Lange her.

Weiter vorne dann die Ecke, wo das Evchen früher gewohnt hat. Das Baby, dessen Mama meine Freundin war. Sie sind weggezogen, die beiden. Ich habe beide eine Weile nicht gesehen. Aber was wir zusammen erlebt haben, bleibt.

Ich peile nun zielbewusst das Vögeligärtli , einen weiteren Park. Ein kleiner Park so voller Geschichten, dass ich gar nicht erst zu erzählen anfange.

Wenn ich ihn durchquert habe, sehe ich an der gegenüberliegenden Hauswand, weit oben, ein Relief. Es stellt Johannes Gutenberg dar, den Erfinder des Buchdruckes. Ich zwinkere ihm kurz zu. Gleich werde ich um die Ecke entschwinden und den nächsten Bus zur Arbeit am Stadtrand nehmen – in einem Betrieb, der Print-Produkte herstellt. Ich kann ihn als Komplizen brauchen.

Adieu Vereinigtes Königreich

Ich habe das Vereinigte Königreich von England, Wales, Schottland und Nordirland ungefähr 50 Jahre lang geliebt. Eigentlich seit ich denken kann. Ich habe sogar englische Literatur studiert. Meine Anglophilie schien unerschütterlich. Aber jetzt muss ich sagen: Was sich dort im Moment abspielt ist derart befremdlich, beängstigend und empörend, dass ich mir zum ersten Mal gründlich überlegen muss, wie ich zu diesem Land stehe. Hier wird das Vorgehen von Premierminister Boris Johnson, was mich so aufregt, eloquent von Experten aus ganz Europa diskutiert.

Zuerst einmal ist es Zeit, danke zu sagen für alles, womit das Vereinigte Königreich mein Leben bereichert hat (was da wäre, in ungefähr chronologischer Reihenfolge):

Ein kleiner, doppelstöckiger, roter Spielzeugbus, ein Geschenk aus London an die dreijährige Frau Frogg von ihrem Vater; das erste Royal Wedding, jenes von Prinzessin Anne 1973, damals war ich acht; in meinen Teenager-Jahren die Beatles; die Rolling Stones; Led Zeppelin; Deep Purple; The Cure; Siouxsie and The Banshees; The Clash; The Police; Oscar Wilde; meine ersten Inter Rail-Ferien, die Reihenhäuschen von Dover im Regen, dreieckige Sandwiches; Schottland; mit 20 meine erste Arbeitsstelle in einem anthroposophischen Kinderheim zwischen den Hügeln von Sussex; Kinder, die seltsame, köstliche Dialekte sprachen; „fockin’ew“, der Kraftausdruck für den Rest meines Lebens, von den Teenagern dort gelernt; die Brombeeren an den Hecken von Sussex; London; die Kew Gardens; Oxford Street; Camden; Brixton; Battersea Power Station; The Barbican; Brick Lane; Cheddar-Käse; Scones with Clotted Cream; Bluebells; Estuary English; Peter, der mir erste Lektionen über das britische Klassensystem gab und mich lehrte, was ein „dodgy geezer“ ist; Julian, eine grosse Jugendliebe; seine Mutter Hilda in einem königsblauen Kleid; Barbara aus Stamford Hill und ihre jüdische Mutter; meine zweite Politisierung – gegen Thatcher und Reagan; Doris Lessing; an der Uni dann „Hamlet“ und „König Lear“ von Shakespeare; Jane Austen; ein vertieftes Verständnis für eine zweite Sprache, Kultur und Politik; dass ich gewisse Dinge auf Englisch besser sagen kann als auf Deutsch; die Erkenntnis, dass Britannien auch hässliche Seiten gehabt hat, einmal „the Brutish Empire“ gewesen ist, eine riesige, skrupellose Kolonialmacht; Virginia Woolf; Martin Millar; Ken Loach; die Strassen von Nordwales und Snooker in Aberdaron; Newcastle-upon-Tyne und Lindisfarne von Ferne; And All Because the Lady Loves; Stephen Frears; Mike Leigh; Anthony Hopkins; Emma Thompson; Kenneth Branagh; Fay Weldon; Christopher Marlowe; Alfred Hitchcock; Zadie Smith; „Wallace and Gromit“ in meinen dreissigern Tony Blair; der Channel Tunnel wenige Tage nach 9/11; Edinburgh; Oasis; Hugh Grant; „Four Weddings and a Funeral“; Dom und Beryl-Anne aus Peterborough; Harry Potter; Helena Bonhan Carter; John LeCarré; Richard Ashcroft; Wanderferien in Somerset; The Prodigy; auf meine alten Tage „Downton Abbey“, die Erkenntnnis, dass dem Leben mit Humor einfach am besten beizukommen ist; Wandern im Lake District; Liverpool; Nicki und Sarah aus Newcastle; Hilary Mantel; Jeanette Winterson; kann man Janet Frame zählen?; Rupert Friend; Tom Hiddleston; Tilda Swinton; John Bercow; den „Guardian“, den ich aus Besorgnis abonniert habe; und zuletzt, zu nachdenklicher letzt, „The Crown“ neulich auf Netflix, das sich jetzt ansieht wie ein fast wortloser Abgesang auf die gute, alte Zeit, als die greise Monarchin das Reich zusammenhielt.

A propos Queen: 2004 schrieb ich für eine Schweizer Zeitung über den Staatsbesuch von Königin Elizabeth II anno 1980. Damals sagte ein alter Mann, ein pensionierter Regierungsrat, zu mir: „Wir mussten nett zu ihr sein. Die Engländer hatten uns im Zweiten Weltkrieg vor Hitler gerettet.“ Vielleicht erklärt das einen Teil der Sympathie, die wir hierzulande für die Briten haben.

Und jetzt? Frankophil werden ist in meinem Alter keine Option mehr, irgendwie.

Es bleiben die Freunde. Peter ist tot – er hätte sich über das alles furchtbar aufgeregt. Julian lebt in Deutschland und will Deutscher werden. Von Nicki und Sarah habe ich eine Weile nichts mehr gehört. Sie werden sich furchtbar aufregen. Dom beantwortet meine besorgten Briefe nach Peterborough mit soldatischem „good cheer“.