Spaziergang in meiner Stadt – der Wurstpalast

Die Lesung am vergangenen Dienstag in der Loge war eine freudige Sache. 30 oder 40 Leute waren da, die Stimmung bestens, die Beiträge der sechs Lesenden alle auf ihre Art inspirierend. Jetzt sollte ich überlegen: Wie mache ich, wie machen wir weiter? Aber das Eisen zu schmieden, wenn es heiss ist, ist nie meine Stärke gewesen. Lieber lasse ich mein dichterisches Werk liegen, mache ein Spaziergängli und widme mich einem neuen Blog-Projekt: einer Tour in meiner Stadt Luzern.

Ganz von ungefähr kommt die Idee nicht. Unsere englischen Freunde, die Hooligans, haben sich über die Neujahrstage zu einem Besuch angemeldet. Die beiden haben uns im Sommer eine derart eindrückliche Führung durch die Stadt Lincoln kredenzt, dass ich ihnen alles mitgeben möchte, was ich über meine eigene Stadt weiss, persönliche Anekdoten und unsere grosse Tourismusfolklore inklusive. Ich lasse Euch daran teilhaben, weil ich beim Bloggen gut denken kann. Und weil ich hier ausprobieren möchte, was gefällt.

Die Tour beginnt wenige Meter von unserer Haustür entfernt. Dort steht ein markantes Gebäude, das oft „der Cervelat-Palast“ genannt wird.

Der Cervelat-Palast, vom Bundesplatz aus gesehen, im November 2023.

Die Cervelat ist gewissermassen unsere Schweizer Nationalwurst. Für kulinarisch Interessierte weiss Wikipedia viel mehr über die preisgünstige Siedewurst als ich. Als ich ein Kind war, assen wir Cervelats oft roh oder aus der Bratpfanne. Und die Wurst gehörte obligatorisch an den Stecken, den wir auf der Schulreise übers Brätelfeuer im Wald hielten. Warum sie dem Haus am Bundesplatz seinen Spitznamen gegeben hat, darüber sind schon allerlei Überlegungen angestellt worden. Vielleicht liegt es an den vielen Rundungen. Es kann aber auch sein, dass die Mieten für die Verhältnisse der fünfziger Jahre so hoch waren, dass die Mieterschaft häufig Cervelats ass.

Ich überlege noch, ob ich den englischen Freunden zwecks Anreicherung der Anekdote mal Cervelat zubereiten sollte. Als augenzwinkerndes Budget-Menü nach dem Galadiner am 1. Januar vielleicht? Mit Kartoffelsalat könnte das hinkommen.

Das Wichtigste am Cervelat-Palast ist auf dem Bild oben nicht zu sehen: das Kino Capitol. Ihm wird mein nächstes Beitrag gewidmet sein.

 

Into the Wild

Wer Internet-Kritiken von Jon Kracauer’s „Into the Wild“ liest, stellt verblüfft fest: Viele Leute verstehen nicht, um was es in diesem Buch geht. Klar, es ist die Biographie von Christopher McCandless, einem jungen Mann aus gutem Hause im Osten der USA, der tatsächlich existiert hat. Kurz nach Beendigung des Gymnasiums liess McCandless alles hinter sich, Freunde, Familie, beste Karrierechancen und begab sich auf einsame Abenteuer in die dünner besiedelten Weiten seines Landes. Er strandete schliesslich in Alaska, wo er 1992 mit nur 24 Jahren einen jämmerlichen Hungertod in einem verlassenen Bus in der Wildnis starb. Viele Amateur-Kritikerinnen und Kritiker erklären McCandless vorschnell zum untauglichen Helden. Er war so egoistisch, seine Familie mehrere Jahre lang ohne Nachrichten zurückzulassen.

Aber dem Autor Jon Kracauer, selbst ein angefressener Bergsteiger, geht es nicht um ein schnelles moralisches Urteil. Er widmet sich vielmehr der Frage: Wie konnte ein an sich intelligenter Mensch derart kläglich scheitern? Diese Frage liegt den Tragödien der Weltliteratur zugrunde.  Kracauer zitiert auch immer wieder Werke der grossen literarischen Aussteiger-Tradition Amerikas, Henry David Thoreau und Jack London’s „Call of the Wild“. In diesen Büchern geht es um die Sehnsucht nach einem ursprünglicheren und intensiveren Leben ausserhalb der Gesellschaft, in der Natur. Das spricht viele Leute an, auch mich. Oft fühlte ich mich bei der Lektüre an meine eigenen, zahmen Spaziergänge erinnert, bei denen ich voller Glück novemberfarbene Bäume und vom Regen angeschwollene Bäche bestaune und gestern drei Regenbögen sah. Es sind intensive Momente. Da draussen in der Kälte schwingt auch die Frage mit: Wie lange würde ich es aushalten hier draussen, ganz allein? Mit wie wenig könnte ich leben? Mit wie wenig Lohn, Rente und Rendite? Mit wie wenigen Connections und Konventionen? Mit wie wenig menschlicher Wärme?

Die Helden von Henry David Thoreau und Jack London überleben, wachsen an ihren Abenteuern und kehren in die Zivilisation zurück. Der junge McCandless stirbt, weil er hirnrissige Risiken eingeht und guten Rat konsequent in den Wind schlägt. Kracauer legt nahe, dass McCandless auch deshalb das extreme Abenteuer gesucht hat, weil er die Erwartungen seines extrem erfolgreichen Vaters nicht aushielt. Nun ist Kracauer Journalist und hat mit McCandless senior gesprochen – er kann aber den vermuteten Konflikt nicht nachweisen (oder will dem trauernden Vater keine Mitschuld am Tod seines Vaters unterstellen). Also behilft er sich mit einem Kunstgriff: Er schildert seinen eigenen Konflikt mit Vater Kracauer und wie dessen hohe Erwartungen ihn selbst zu einem irrwitzigen Bergsteiger-Projekt in Alaska verleitet haben.

Ist das Buch also besser als seine Kritikerinnen meinen? Ich bin noch nicht ganz fertig, aber im Moment scheint mir: Es ist besser als viele denken, doch Kracauer kratzt nur an der Oberfläche von dem, was in seinem Stoff drin wäre. Ob er – statt ein Sachbuch zu verfassen – besser eine fiktive Biografie geschrieben und sich mehr Freiheiten genommen hätte?

Jon Krakauer: „Into the Wild“, Pan Paperbacks 1996, 205 Seiten. Der Stoff wurde von Sean Penn unter dem gleichen Titel 2007 verfilmt, mit einem bezaubernden Emile Hirsch in der Hauptrolle. Der Streifen kostet das Grauen des Verhungerns in der Wildnis sehr eindringlich aus.

 

Lippenlesen bei Dr. Aeschlimann

Hörende schwärmen gerne von der Magie des Lippenlesens. Ich sage ihnen dann jeweils leicht ungehalten, ich könne gar nicht lippenlesen, lippenlesen sei eine Zumutung. Klar, Frühertaubte können es oft unglaublich gut. Aber für uns Spätertaubte fällt schon ins Gewicht, dass sich am Mund selbst nur etwa 30 Prozent der im Mund produzierten Laute ablesen (oder eher erraten) lassen. Klar, ich verstehe Leute besser, wenn ich ihren Mund sehe. Aber meiner Meinung nach hat das einfach damit zu tun, dass dann die Schallwellen aus diesem Mund auch ohne Umwege in meine Hörgeräte gelangen.

Nun musste ich diese Woche zu Dr. Aeschlimann, dem Endokrinologen, der in zehn Tagen meine Schilddrüse behandeln wird – eine harmlose Sache, hat man mir versichert. Damit ich schon mal weiss, was auf mich zukommt, simulierten wir kurz die OP-Situation. Das wird alles ohne Narkose vonstatten gehen. Ich werde mich auf einen Schragen legen müssen, und Herr Aeschlimann wird sich von hinten über meinen Kopf beugen. Ich lag also da und sah, wie sie sein Gesicht von oben in mein Gesichtsfeld schob, verkehrtherum, und er redete. Mit verkehrten Lippen! Was für ein verwirrender Anblick! Ich bekam Panik, diese Art von Panik, die ich in letzter Zeit bekomme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Dinge auditiv aus dem Ruder laufen. Ich sagte spontan: „Zunderobsi* lippenlesen ist aber ziemlich schwierig.“

Dr. Aeschlimann ist ein umsichtiger Arzt. Er vergisst nur selten, dass ich nicht gut höre. Er sagte: „Ja, das ist mir eben auch durch den Kopf gegangen.“ Er wird dran denken, wenn ich da auf dem Schragen liege. Mich aber beschäftigt seither die Frage, ob ich tatsächlich intensiver Lippen lese als ich immer behaupte.

*schweizerdeutsch: verkehrtherum

In eigener Sache

Falls jemand von Euch am kommenden Dienstag, 14. November, in Luzern sein sollte: Ich lese am Abend in der Loge Luzern an der Moosmattstrasse 25 drei kurze Texte. Die Veranstaltung heisst „Anlesen“ und bietet literarischen Neulingen einen recht intimen Rahmen, ihre Texte und literarischen Experimente präsentieren könnten. Wir werden zu sechst sein, ich kenne nur eine der ebenfalls lesenden Personen, Astrid von Rotz. Wir beide werden Text zum Thema Schwerhörigkeit vorlesen. Was die anderen machen? Da bin ich auch neugierig. Mehr Infos hier;

Loge – Deine Literaturbühne (logeluzern.ch)

 

Brief von meinem jüngeren Selbst

Bertolt Brecht, den mein jüngeres Ich sehr verehrt hat.

Es ist Mode geworden, dass man Briefe an sein jüngeres Selbst schreibt. Man tut es in der Psychotherapie, man tut es auf X (vormals Twitter). Meist tut man es, um die Ängste seines jüngeren Ichs zu beschwichtigen und ihm zuzuzwinkern: Ist ja alles besser herausgekommen als man mit 20 befürchtet hat. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten war mir aber plötzlich, als bekäme ich einen Brief von meinem jüngeren Selbst. In einem Couvert aus in den achtziger Jahren gebräuchlichem, rauem Recycling-Papier. Als erstes fiel mir daraus ein Blatt mit einem Gedicht von Bertolt Brecht entgegen: An die Nachgeborenen. Ich schmunzelte. Die junge Frau Frogg war eine grosse Verehrerin von Bertolt Brecht. Unterstrichen hatte sie die Verse: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Daneben hingekritzelt die Fragen meines jüngeren Selbst an mich: „Also, dass zu meinen Lebzeiten ähnlich kriegerische Zeiten ausbrechen werden wie damals bei Brecht, damit habe ich nicht gerechnet. Darf man bei Euch jetzt auch nicht mehr ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden? Belastet Euch die Nachrichtenlage? Muss ich mir Sorgen um Euch machen?“

„Gemach! Gemach!“ antwortete ich meinem jüngeren Selbst unverzüglich. „So schlimm ist es jetzt doch noch nicht. Bedenke doch: Brecht schrieb dieses Gedicht im Exil in den dreissiger Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, die ihn wegen seiner kommunistischen Haltung staatenlos gemacht hatten. Die Verhältnisse waren damals für ihn und für viele in Europa unmittelbar und existenziell bedrohlich. Natürlich sind wir aufgewühlt, natürlich denken wir an die Opfer dieser entsetzlichen Hamas-Verbrechen. Natürlich streiten wir darüber, auf welcher Seite wir stehen. Aber wir erleben auch (leider), wie man gegen schlechte Nachrichten unempfindlich wird, wenn sie nicht gleich aus dem Nachbardorf kommen. Die Lage in der Ukraine? Im Moment eher nebensächlich. Und am letzten Wochenende verfolgten wir geradezu euphorisch ein Gott sei Dank stinklangweiliges Ritual: Parlamentswahlen in der Schweiz. Die Stimmung in den Fernsehstudios war ¨überschwänglich, dabei waren die Wähleranteilverschiebungen minim (und fielen leider zugunsten der Rechtsbürgerlichen SVP aus). Das Hochgefühl mag – zugegeben – auch damit zusammenhängen, dass Wahlen, deren Resultate niemand in Zweifel zieht, auch in so genannt demokratischen Staaten keine Selbstverständlichkeit mehr sind. (Edit: Kurz nachdem ich das hier geschrieben hatte, kam heraus, dass man auch den Schweizer Wahlen nicht mehr trauen kann: Das Bundesamt für Statistik  hatte sich um ein paar Promillepünktchen verrechnet. Kurze Entrüstung in den Medien, mehr nicht).

Haben wir deshalb aufgehört, über Bäume zu reden? Oder über das Wetter? Nein, im Moment dürfen wir zum Glück wieder freundlich sein zu unseren Bekannten. Zugegeben: Während der Pandemie war das manchmal anders. Aber das vergessen wir jetzt lieber.“

Im Nebel des Vergessens

Neulich kaufte ich in einer Confiserie ein paar Schöggeli. Ich nahm gerade meine Karte zum Bezahlen aus dem Portmonee, als die Kassiererin zu jemandem hinter mir sagte: „Bitte warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich bei Ihnen.“ Ich zahlte, drehte mich um und sah hinter mir eine alte Frau mit wirrem Haar. Sie hatte ein Vollkornbrötchen schon halb verschlungen und riss mit den Zähnen gerade ein weiteres Stück Krume ab. Ein verstörender Anblick – weil die Frau so gierig ass und auch, weil sie gegen drei Regeln des Verhaltens im Laden einer europäischen Stadt verstiess: Man hält sich dort nach Möglichkeit frisiert auf. Wenn man etwas zu Essen kauft, bezahlt man, bevor man isst. Man schlingt unter den Blicken anderer nicht gierig Dinge in sich hinein. Die Frau sah nicht aus, als wäre sie soeben aus einem Land mit komplett anderen Regeln in unsere Stadt gekommen. War sie derart hungrig? War sie dement? Hatte sie einfach vergessen, wie man sich im Laden benimmt? Ich vermutete letzteres. Sie tat mir leid, aber ich sah nur eine Handlungsmöglichkeit: aus dem Weg gehen und sie ihr Brötchen bezahlen lassen.

Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, 1818 – wenn wir älter werden, versinkt die Welt immer mehr im Nebel. Da fragen wir uns manchmal, ob wir noch über der Sache stehen. (Quelle: Wikipedia).

Ich habe in letzter Zeit beruflich viel mit älteren Menschen zu tun. Viele der Kundinnen und Kunden, die bei mir schriftlich ihre Meinung zum Tagesgeschehen deponieren, sind über 80. Einige beliefern mich seit einem Jahrzehnt oder mehr. Ich kann aus der nachlassenden Kohärenz ihrer Texte, aus ihren Wiederholungen ablesen, wie bei vielen die geistigen Kräfte nachlassen. Auch im Familienleben: mehr alte Leute, bei denen die immer gleichen, alten Ängste und Kümmernisse aus dem Nebel des Vergessens ragen. Ich frage mich oft, ob das bei mir jetzt auch anfängt.  Zum Beispiel dann, wenn ich nachts nicht schlafen kann und mich wieder mal eine unerklärliche Wut auf jemanden packt, der mich – so sehe ich das um fünf Uhr morgens – irgendwann in meinem Leben gekränkt hat. Als ich jung war, war Erinnerung für mich vieles: Identität, Nostalgie, Verbindung mit meiner Grossmutter. Als ich  fünfzig geworden war, zählte Erinnerung für mich ein Jahrzehnt lang gar nicht. Die Welt veränderte sich schnell, und nur zu gerne liess ich manche Dinge im Nebel des Vergessens ruhen. Jetzt tauchen zwischendurch Geschichten aus meinem Leben wieder auf, die es wert sind, von der Sonne des neuen Tages neu beleuchtet zu werden. Deshalb habe ich hier eine neue Kategorie erstellt: die Nebel des Vergessens.

The Sound of Metal

Ruben ist eben ertaubt und hilflos – aber nur am Anfang. Da muss seine Freundin Lou noch für ihn telefonieren. (Quelle: guardian.co.uk)

The Sound of Metal ist ein feinfühliger Film über einen Menschen, der sein Gehör verliert. Ruben Stone (Riz Ahmed)  ist Drummer und gerade auf Tour, als er Gespräche plötzlich nur noch als fernes Glucksen hört. Wie befremdlich das für Betroffene tatsächlich klingt, ist im Film sehr gut dargestellt. (Jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte – ich bin selbst hochgradig schwerhörig und bekomme auch bei der besten Vertonung nie ganz mit, wie ein Film tönt). Der Film wechselt ab zwischen der in Filmen normalen Vertonung und der Darstellung von Rubens Hörerlebnis, auch als bei Ruben dann alles weg ist. Stille.

Was in einem Menschen in einem solchen Moment vor sich geht, ist überwältigend, aber schwierig sichtbar zu machen. Ich selbst habe nach den ersten, schweren Hörstürzen in meinem guten Ohr wochenlang Tränenströme vergossen, aber das hätte kaum bildschirmtauglich ausgesehen. Ruben hat einen oder zwei Wutanfälle und guckt sonst meist mit riesigen Augen verwirrt bis panisch um sich. Das sieht glaubwürdig aus. Seine Partnerin und Bandkollegin Lou (Olivia Cooke) muss ihm erst mal helfen, seine dringendsten Probleme zu lösen. Dann kommt er in eine Institution auf dem Land, wo er in einem Crash-Kurs in Gebärdensprache lernt und mit seinem neuen Ich ins Reine kommen kann. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, in sein altes Leben zurückzukehren.

Das Werk ist mehrfach preisgekrönt. Ich glaube daher, dass es auch Menschen etwas gibt, die sich herzlich wenig für Gehörprobleme interessieren. Erstens ist die Musik am Anfang abgefahren (soweit ich das beurteilen kann). Zweitens ist es ein Film über etwas, was jedem Menschen passieren kann: dass er etwas verliert, was ihm Leib und Seele zusammenhält. Drittens ist die Geschichte  aus Rubens Perspektive erzählt, und eins ist Ruben nie: ein armer Behinderter, einer von den anderen, einer, zu dem man auf Distanz gehen muss. In seiner neuen Umgebung findet er sich schnell zurecht. Er hat einen Plan, und er findet Mittel und Wege, ihn ins Werk zu setzen.

Dennoch habe ich Fragen an den Film. Erstens wird bei Rubens Eintritt in die Institution klar, dass er vier Jahr zuvor heroinsüchtig gewesen ist. Warum ist das relevant? Weil das Heroin mit ein Grund für die Ertaubung sein könnte? Weil der Film einen Protagonisten braucht, der schon vorher in einer prekären Verfassung war? Suchtprobleme als Folge von Schwerhörigkeit sind nichts Ungewöhnliches. Aber so wie sie hier daherkommen, als unerklärte, alte Geschichte, überzeugen sie mich dramaturgisch nicht. Zweitens frage ich mich, warum der Film genau an der Stelle endet, wo er eigentlich anfangen sollte: Als Ruben merkt, dass der Weg zurück in die Welt der Hörenden auch mit bester Technologie sehr schwierig wird.

Übrigens: Danke, Herr Hopkins

Beglückende Gespräche am Berg

Erhabener und etwas wolkiger Ausblick auf die Zentralschweizer Berge am vergangenen Wochenende.

Am letzten Wochenende kam meine Freundin Helga aus Deutschland zu Besuch. Wir hatten uns im September 2018 zum letzten Mal gesehen. Eine Epoche ist seither vergangen. Eine Zeit, die für mich trotz Aufruhr auf allen Seiten nicht arm war an beglückenden Erlebnissen – doch dieses Treffen war etwas vom Schönsten, was mir in den letzten fünf Jahren passiert ist.

Wir hatten während der Pandemie viel gechattet und – wenn ich gut genug hörte – auch telefoniert. Aber mich jetzt drei Tage lang von Angesicht zu Angesicht mit ihr  auszutauschen, was für eine Freude! Am zweiten Tag gingen wir in den Bergen spazieren. Gegen Abend bewegte uns eine dicke Wolke zum Umkehren – und als hätte das graue Gebilde uns dazu angeregt, kamen nun unsere düstersten Themen zur Sprache, auch meine Krebserkrankung im letzten Jahr. „Hast Du jetzt wieder Vertrauen in Deinen Körper gewonnen?“ fragte sie mich.

Ich antwortete spontan: „Ach weisst Du, ich habe nie sehr viel Vertrauen in meinen Körper gehabt!“ Was an sich nicht falsch ist, aber eben allzu düster und nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass ich während der Chemotherapie eine Kraft in mir entdeckte, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe. Ich kann sie nicht recht benennen, und ich weiss nicht, wie weit sie reichen wird. Aber es war gerade die Erkenntnis meiner Sterblichkeit, die etwas in mir veränderte. Ich meine: Wir alle wissen von Kindsbeinen an, dass wir sterben werden. Die Erkenntnis, dass es auch mir in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft passieren wird, scheint idiotisch. Und doch stand mir plötzlich klar vor Augen: Eines Tages wird alles von Dir ausgelöscht, sogar dein Bewusstsein! Das ist keine schöne Erkenntnis, aber er hat mir auch bewusst gemacht: Was Du jetzt nicht tust, tust Du vielleicht nie.

Ich habe den letzten Sommer schon fast vergessen, und auch die Kraft, die er mir geschenkt hat, droht manchmal verloren zu gehen. Danke Helga, dass Du sie mir noch einmal in Erinnerung gerufen hast!

Das Doppelleben meines Deutschlehrers

Mein Deutschlehrer am Gymnasium war ein grauer Funktionär. Während jeder Deutschstunde sagte er irgendwann: „Nehmen Sie Ihre Hefte zur Hand.“ Dann diktierte er uns durch die Geschichte der deutschsprachigen Literatur von Walther von der Vogelweide bis ungefähr Uwe Johnson. Er diktierte uns durch Metrik und Rhetorik. Wir schrieben, und an den Prüfungen mussten wir das alles nur detailgetreu wiederholen können, dann war’s gut. Er hatte etwas Gütiges im Gesicht, aber er vermittelte staubtrockenes Wissen, keine Neugier und nie Begeisterung. 1985 machten wir die Matura, er wurde pensioniert. Er hiess Linus Spuler. Das ist sein Klarname, und wenn ihm jemand hier ein ehrerbietigeres Denkmal setzen möchte, so ist er oder sie in den Kommentarspalten sehr willkommen. Es hat sich ohnehin gezeigt, dass mein Bild von ihm nicht annähernd vollständig war.

Ich ging an die Uni, studierte trotzdem Germanistik (im Nebenfach) und dachte selten an ihn. Bis an einem Morgen in der vergangenen Woche. Ich lag kränkelnd im Bett und las „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach“ von Dieter Kühn. Ein Buch, das das Mittelalter sehr anschaulich macht, auch für Nicht-Germanisten. Obwohl Kühn gelegentlich akademische Quellen zitiert. Auf S. 148 etwa eine Arbeit von „Judy Mendels und Linus Spuler“. Linus Spuler! Ich stiess einen Überraschungsruf aus. War es möglich, dass ich in einem Werk der deutschen Literatur aus den neunziger Jahren eben meinem Lehrer aus der Schweizer Provinz begegnet war?! Es kann doch im 20. Jahrhundert nicht mehrere Germanisten mit diesem Namen gegeben haben! Hatte mein Gymi-Lehrer einst kühne akademische Träume gehabt und gar eine kongeniale Forschungsgemeinschaft mit einer Frau namens Judy Mendels?!

Ich begann, meinen 2014 mit 93 Jahren verstorbenen Deutschlehrer im Internet zu stalken, und siehe da: Er war’s. Er hat zwischen 1959 und 1965 mehrere Artikel mit Mendels veröffentlicht, unter anderem über einen Hof in Thüringen, an dem Wolfram sein Talent entfalten konnte. Aber auch über Rainer Maria Rilke. Judy Mendels lehrte damals an einer Hochschule in Buffalo, NY, USA. Er war in Luzern. Lernten die beiden sich an einer Fachtagung kennen? Verliebten sie sich? Reisten sie zusammen nach Thüringen? Ach Gott, nein, wahrscheinlich nicht! Thüringen lag damals in der DDR und dort kann ich ihn mir nicht vorstellen. Die letzte Publikation der beiden erschien 1965 und trägt den häuslichen Titel: „Sour Apples – Cooked Sweet“, eine deutsche Grammatik für Anfänger. Erschienen im Eigenverlag in Luzern. Aha, Ende des Thüringer Abenteuers, fabulierte ich. Da haben sie sich wohl zusammen niedergelassen und waren fortan mit ihrem Nachwuchs beschäftigt.

Aber je länger ich forschte, desto unwahrscheinlicher wurde diese These. Denn Mendels schien auch nach 1965 in Buffalo gewesen zu sein. Erst nach längerer Recherche fand ich ihre Biografie auf einer niederländischen Website. Mendels wurde 1906 in Zaandam geboren, war also 15 Jahre älter als Spuler. Während ich das mit Hilfe von ChatGPT übersetzte, rauschte das 20. Jahrhundert an mir vorüber. Mendels war Jüdin, überlebte den Holocaust in den Niederlanden, als Pflegemutter von Waisen im Durchgangslager Westerbork. Sie emigrierte erst 1947 in die USA. An ihrer Uni war sie eine der ersten weiblichen Lehrkräfte. Eine resolute, engagierte, wohl oft auch strenge Frau. Sie kam erst 1972 nach Luzern, mit ihrer Pflegetochter, die eine renommierte Musikerin geworden war.

Was nicht erklärt, wie sie mit Linus Spuler verbunden war. Aber einerlei. Ihn sah ich in seinen letzten Arbeitsjahren in den Pausen oft bewegungslos am grossen Nordwestfenster stehen, allein. Er blickte hinaus in den Herbst oder Frühling oder Winter. Träumte er? Wartete er auf die Pensionierung? Ging er im Kopf seine nächste Stunde durch? Hatte er noch Kontakt mit Judy Mendels? Kann es sein, dass wir ahnungslosen Teenager ihn mehr gelangweilt haben als er uns?

September, früher

3. September 2022 im Aargauer Wasserschloss. Der September versucht hier noch einmal, einen Sommertag hinzubekommen.

Normalerweise dauern die Hundstage bis zum 23. August. Dieses Jahr enden sie (hoffentlich) am kommenden Dienstag, 12. September. Mein Schlafzimmer hat nachts immer noch 24 Grad. In den Bergen steigt die Nullgradgrenze gerade auf Rekordwerte. Sie lag am 6. September bei über 5000 Metern (siehe hier). Das gab’s bislang nur zweimal seit Messbeginn, im Juli oder August, noch überhaupt nie im September. Ich liege wach und grüble. „Ach, jammert doch nicht so, wenn es endlich mal ein bisschen warm ist!“ sagt meine Nichte Carina. Sie ist 18, sie mag die Hitze. Mit 18 mochte ich die Hitze auch. Mit 58 finde ich sie an guten Tagen etwas mühsam. In schlechten Nächten verschafft sie mir eine Ahnung von der Apokalypse.

Oft denke ich darüber nach, was Carina mich eines Tages fragen könnte. Falls sie überhaupt Zeit und Lust hat, Fragen zu stellen. Sie wird mich wohl nicht danach fragen, wie Klimawandel sich anfühlt. Davon wird sie selbst noch genug bekommen. Aber vielleicht wird sie mich fragen, was früher normal war. Als das Wetter noch „normal“ war. Als wir jung waren. Damit kann ich dienen. Man muss es erinnern und kurz festhalten, bevor es vergessen und verschwunden ist.

Als ich am Gymnasium war, endete der Sommer mit den Schulferien. Mit den langen Nachmittagen im Schwimmbad war es dann vorbei – obwohl wir am Mittwochnachmittag ja frei hatten. Aber es war dann meist doch zu kühl zum Baden. Wenn ich am ersten Schulmorgen Ende August mit dem Fahrrad den Hang hinunter Richtung Gymnasium sauste, musste ich eine leichte Jacke tragen und hatte kalte Finger. Die Wiese unterhalb der Strasse trug oft einen weisslichen Tauschleier. Erste Frostnächte in der zweiten Monatshälfte waren nichts Unerhörtes. Später am Tag versuchte der September oft noch einmal einen richtigen Sommernachmittag hinzubekommen, aber es fühlte sich wehmütig an. In den Gärten begannen die Äpfel rötlich zu schimmern, die ersten Blätter bekamen einen Gelbstich.

Für den Büromenschen Frogg war der September draussen meist unauffällig. Die Arbeit drinnen beschäftigte uns stärker als das Wetter. Die Sommerstürme waren vorbei, wir klagten über den ersten Hochnebel, den Inbegriff von Nicht-Wetter. Sehr regnerisch war es selten. Oft lockten herrliche Tage, ich erinnere mich an 9/11, draussen ein kobaltblauer Himmel, diese Farbe, die wie ein Sog den Blick in sich hineinzieht und die Seele mit hochwirbeln lässt. Drinnen flimmerten die Bildschirme und zeigten das Grauen. Unwirklich.

In meiner Erinnerung war es mit dem Septemberwetter jeweils um den 2. Oktober herum zu Ende. Der 2. Oktober ist der Feiertag des Luzerner Stadtheiligen Leodegar, den wir nur noch wegen der Määs kennen, wegen des Jahrmarktes. Als Carina klein war, ging ich mit ihr und Tim jeweils dort auf wilde Bahnfahrten. Oft begleitete ein Kälteeinbruch mit Regen diese Ausflüge an die Määs. Wir hatten nach vier Monaten ausserhalb der Heizperiode vergessen, was kühles Wetter ist und waren dann richtig froh um wärmere Jacken und Schals.