Am Tor von London

Die Bahnhofhalle von Charing Cross (Quelle: ianvisits.co.uk)

In der Bahnhofhalle von Charing Cross gibt es irgendwo ein blaues Täfelchen. Ihr wisst schon: ein Schildchen, wie sie an Häusern hängen, in denen früher jemand Bedeutendes gewohnt hat. Auf dem Schildchen steht: „Frau Frogg durchquerte diesen Bahnhof zwischen August 1985 und Juli 1986 ungefähr einmal pro Woche, meistens montags.“ Natürlich ist es ein virtuelles Täfelchen, nur ich kann es sehen. Aber es ist wahr, dass ich hier zu jener Zeit meist am Montag aus einem Zug stieg und die Stadt London betrat – und für mich war das bedeutend. Denn meine damals im Grunde sehr vagen Träume spielten sich alle in London ab – um sie ihrer Verwirklichung näherzubringen, kam ich an meinem freien Tag jeweils nach London. Ich arbeitete in einem Kinderheim südlich von Tunbridge Wells, etwas mehr als eine Zugstunde von London entfernt.

Wahrscheinlich schweben unter der Decke der Bahnhofhalle von Charing Cross Millionen solcher Schildchen. Denn Charing Cross ist ein grosser Pendlerbahnhof, allein im Jahr 2013 benutzten ihn 38,6 Millionen Menschen (sagt Wikipedia). Für Tausende jährlich muss der Gang durch diesen Bahnhof so bedeutend sein oder gewesen sein wie für mich damals – oder bedeutender, denn einige werden ihre Träume tatsächlich in London verwirklicht haben. Man muss sich diesen schwebenden Schildchenwald über den Köpfen der durchmarschierenden Zugpassagiere vorstellen wie die Kulisse eine Harry Potter-Films.

Manchmal kamen wir zu zweit oder zu dritt aus dem Heim im Süden, junge Frauen um die zwanzig, aus Deutschland oder Dänemark. Dann gingen wir zuerst in die Hamburger-Bude auf der Ostseite der Bahnhofhalle. Der Laden gehörte zu einer Kette, ich erinnere mich gut an das rötlichgelbe Logo, das immer etwas fettig aussah. Wir kauften dort je einen billigen Cheeseburger mit Rindfleisch. So bewiesen wir einander, dass wir auf die Essensregeln im Heim pfiffen. Dieses war anthroposophisch, es gab dort wenig Fleisch und wenn, dann Hühnchen. Rinderwahnsinn war ein grosses Thema, aber wir glaubten, das gehe uns nichts an.

Überhaupt kann ich in der Erinnerung schon diese Bahnhofhalle kaum verlassen. Abends standen dort oft zahllose Menschen, mehrheitlich Männer in Anzügen, und blickten mit gefassten Mienen alle in dieselbe Richtung: auf die elektronisch gesteuerten Tafel, auf der alle Züge und ihre Abfahrtszeiten standen. Sie warteten, bis auf dem Schild die Zahl des Gleises erschien, auf dem ihr Zug fuhr. Manchmal dauerte das mehrere Minuten. Dann gingen sie los und stiegen ein. Ich fand das sehr exotisch, denn bei uns steht kaum jemand einfach da und starrt so eine Zugsabfahrtstafel an. Ein paarmal habe ich es damals auch versucht – ich wollte wissen, ob ich so sein könnte wie die Menschen hier. Aber mir fehlte dafür die Disziplin. Ich streifte statt dessen ein bisschen herum und machte einen Rundgang in der Buchhandlung.

Aber wenn ich jetzt wieder hingehe, mit Herrn T. und der Jungmannschaft, dann werden wir nicht zu lange in der Bahnhofhalle verweilen, sondern hinaus auf den Vorplatz gehen. Denn dort steht ein Türmchen, das objektiv betrachtet das Zentrum von London ist oder wenigstens war.

Mit dem Patensohn nach London

Vor zwei Jahren schenkte ich mit meinem Gottenbuben Tim zum 16. Geburtstag einen Ausflug an den Lungerersee. Das ist jetzt für Teenager keine ganz so megageile Destination. Aber da war er schon zu einem sympathischen Teenager geworden, tiptop gestylt, mit dem sich auch leidlich plaudern liess. Ich war sehr angetan von ihm und fragte beiläufig: „Sag mal, es dauert ja jetzt nicht mehr so lange, da wirst Du 18. Was wünschst Du Dir denn dann?“ Er sagte: „Ich möchte mit Dir nach London.“

Gotte Frogg strahlte. Ich meine, mein Gottenbub will mit mir nach London! Gibt es etwas Besseres? Und das Beste ist: Wahrscheinlich klappt es. Das Glück hat uns eine gemeinsame Ferienwoche in die Agenda gezaubert.

Vor zwei Wochen hatten wir eine erste Planungssitzung. Wir werden zu viert sein. Herr T. und Tims grosse Schwester Julia kommen mit. Meine ersten Gedanken galten meiner Aufgabe, es allen recht zu machen. Und ich wusste nicht so recht, woher Tims Wunsch kam, mit mir nach London zu reisen. Etwa von seiner Mama Veronika, mit der ich vor 15 Jahren eine Reise dorthin gemacht habe (hier eine Geschichte, die ich mit nach Hause brachte)? Damals begleiteten uns unausgesprochene Diskussionspunkte über unsere Freundschaft und unsere Art zu reisen. Vielleicht erwartet sie heute, dass ich ihrem Sohn etwas für’s Leben mitgebe.

Mich treibt die Frage um, was die Jungmannschaft begeistern könnte. Die Wünsche sprudelten: „The London Eye! Madame Tussaud’s!“ Stadtgeograf T. guckte gelangweilt und machte seine eigenen Pläne geltend. Ich sprach: „Ok. Dann machen wir einen Tim-Tag, einen Herrn T.-Tag und einen Frau Frogg-Tag.“ Julia erwähnte eigene Pläne, aber es sieht so aus, als wäre sie dann auch viel bei uns. Wäre schön. Wir schmiedeten Sightseeing-Pläne kreuz und quer durch die Stadt.

Doch etwas an dieser Ausgangslage liess mich merkwürdig leer. Junge Leute erwarten heute, von Sensation zu Sensation geführt zu werden, keine Frage. Ich werde dafür bezahlen, auch keine Frage. Aber bin ich denn nur die Zahlgotte? Mir fehlte … das Herz dieser Stadt, in die ich in jungen Jahren wieder und wieder gereist bin, die mich gebildet hat wie keine zweite, nicht einmal meine eigene. Diese Stadt, die ein Jahrzehnt lang das Zentrum meiner Welt war. Was kann man von diesem Wissen, dieser Stadt, diesem Glück weitergeben?

Wo liegt das Herz von London? Und heute Morgen fiel es mir ein: Das Herz von London liegt vor dem Bahnhof von Charing Cross. „Dorthin müssen wir zuerst gehen, damit wir uns überhaupt orientieren können“, sagte ich zu Herrn T. Er lächelte, etwas geringschätzig, wie mir schien. „Wie willst Du jungen Leuten erklären, was an einem Bahnhof so interessant sein soll?“ sagte er.

Ich sah ihn an, rang nach Worten, in meinem Kopf drängelten sich die Gedanken plötzlich wie die Menschen am besagten Bahnhof zur Rush Hour. „Ich muss es den beiden halt erzählen“, sagte ich. Aber wie? Ich werde es herausfinden müssen. Zu diesem Zweck werde ich jetzt in meinen nächsten Blog-Beiträgen die umherwimmelnden Gedanken auseinandernehmen, jeden auf seinen Weg schicken und mir überlegen, ob und wie er bei Tim und Julia ankommen könnte.

Der Mann, der ein Frauenleben führte

Kein Roman hat mich in letzter Zeit mehr beschäftigt als dieser hier. Der englische Starautor Ian McEwan schildert darin die Biografie des Babyboomers Roland Baines. Die Geschichte fordert mich als Post-Babyboomerin und Hobby-Genderforscherin geradezu heraus. Denn Roland führt in mehreren Hinsichten das Leben einer Frau – jedenfalls nach Babyboomer-Massstäben. Es ist beinahe, als würde McEwan sagen: „So, jetzt nehmen wir mal einen männlichen Charakter und stülpen ihm ein paar weibliche Erfahrungen über.“ So wird Roland mit 14 im Internat von einer Klavierlehrerin sexuell missbraucht – eine Erfahrung, die seine Biografie entscheidend prägen wird. Nun passiert zwar sexueller Missbrauch in den Teenagerjahren tatsächlich ab und zu bei Jungs – sehr viel häufiger ist er aber bei Mädchen (und bei Knaben sind die Täter häufig Männer).

Später dann, als Roland 38 ist und einen Sohn im Babyalter hat, wird er von seiner Frau verlassen. Fortan ist er alleinerziehender Vater. Eine Situation, die unzählige Babyboomer-Frauen kennen, Männer sehr viel seltener.

Dass er nun allein für ein Kind sorgen muss, haut einen weiteren Knick in seine ohnehin zögerlich einsetzende Karriere als Dichter. Überhaupt findet Roland beruflich nie so richtig den Tritt. „Er ist ein Fantast, Mutti, er kann sich auf nichts konzentrieren. Er hat Probleme in seiner Vergangenheit, über die er nicht einmal nachdenkt. Er kann nichts erreichen“, wird die Frau einmal sagen, die ihn als alleinerziehenden Vater zurückgelassen hat. Auch die meisten Kritiker sind sich einig, dass Roland gescheitert ist. Hätten sie das auch so gesehen, wenn die Hauptfigur in dieser Geschichte nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen wäre? Wenn sie Orlanda geheissen hätte und nicht von einer Frau, sondern von einem Mann missbraucht und später allein erziehende Mutter geworden wäre?

Überhaupt: Dieses Spiel mit der Geschlechterfrage überzeugt mich nicht. Zum Beispiel erlebt Roland das erste Mal mit seiner Klavierlehrerin als sexuelles Erweckungserlebnis, hinter dem alles andere verschwindet: „Ihre Rollen, Lehrerin und Schüler, die Ordnung und Selbstgefälligkeit der Schule, Stundenpläne, Fahrräder, Autos, Kleider, sogar Worte – nur dazu da, alle von dem hier abzuhalten.“ Das ist in meinen Augen eine reine Männerphantasie, stark beeinflusst von McEwan’s Sigmund Freud-Lektüre. Meine eigene, zum Glück recht harmlose Erfahrung mit sexuellem Missbrauch im Teenageralter, war nicht einmal ansatzweise eine sexuelle Erweckung, sondern erfüllte mich nur mit Scham und Ekel.

Vielleicht ist das Urteil der Literaturkritikerin Bernadette Conrad das einzig richtige: Sie schreibt, der Roman funktioniere am besten als Chronik eines Zeitgenossen. „Lässt man sich tiefer auf die Krisen ein, gerade des sexuellen Missbrauchs, die Rolands Leben geprägt haben, dann vermisst man die gründliche Auseinandersetzung.“ (Die ganze Kritik gibt’s hier).

Und doch hat die Lektüre mich dazu getrieben, mich vertieft mit dem Erlebnis auseinanderzusetzen, das ich selbst vor bald 44 Jahren hatte. Und sie hat mich mit der Frage konfrontiert: Was bedeutet es, beruflich vielleicht nicht jene Marke zu setzen, die man hätte setzen können? Ist das wirklich ein Scheitern? Und wie hängt es tatsächlich mit misslichen und vielleicht sehr geschlechtsspezifischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend zusammen? Und, nein, ich bin nicht damit einverstanden, dass man es als Scheitern einstuft, wenn sich jemand um sein Kind kümmert und daher vielleicht ein bisschen weniger weit nach oben kommt auf der Karriereleiter.

Heimkehr ins Wasseramt

wasseramt
Das Wasseramt heisst so, weil es durchzogen ist von idyllischen Flüsschen wie diesem. Was man auf dem Bild nicht sieht: den Autoparkplatz gleich zur Linken.

Ich bin nicht ganz sicher, weshalb ich im Titel dieses kleinen Essays unbedingt das Wort „Wasseramt“ stehen haben will (hier steht alles zur Geografie der Region). Es geht in diesem Text nur teilweise um Wasser. Es geht vor allem um Benzin und um die Zeit. Vielleicht muss es so sein, weil mir der Besuch hier beinahe die Tränen in die Augen getrieben hätte.

Denn am hier abgebildeten Bächlein im Dorf Recherswil, genau links vom linken Bildrand, stand einst das Haus meines Urgrossvaters. Ich habe die Stelle nicht fotografiert, heute liegt dort nichts als ein Parkplatz, und wer will schon einen Parkplatz anschauen? Das Haus meines Urgrossvaters aber war ein stattliches Holzhaus mit dem hier üblichen, mächtigen Bogengiebel, der Menschen und Dinge einrahmt, schützt und birgt – oder wenigstens so aussieht, als würde er das tun. Im Haus war eine Bäckerei, davor stand ein Brunnen mit Pflaumenbäumen. Hier war so etwas wie der Dorfplatz. Mein Urgrossvater war der Dorfbäcker. Es ist ein wenig ironisch, dass alles, was er hatte und war, von ein paar Blechkarrossen ersetzt worden ist. Er war einer der ersten im Dorf, die überhaupt ein Automobil besassen. Sonntags machte er dann und wann eine schmucke Passfahrt, an Werktagen fuhr er Brot hinaus zu den Bauernhöfen. Im Zweiten Weltkrieg liess er sich einen Holzvergaser in den Wagen einbauen.

Er starb 1965, kurz vor meiner Geburt. Aber wir besuchten als junge Familie noch oft seine Witwe. Sie, das Kläri, war nicht meine richtige Urgrossmutter, sondern Urgrossvaters zweite Frau. Die Fahrten zu Kläri waren für mich Reisen in eine mythische Vergangenheit, zu der wir schon selbst nicht mehr gehörten. Wir reisten im Kleinwagen an, mieden die Autobahn, sahen links und rechts Getreidefelder, auf den Hügeln reckten sich alte Bäume gen Himmel, Eichen oder Linden. Man wäre gerne zu ihnen hochgestiegen, hätte sich unter sie gelegt und sich geborgen gefühlt. Die ländliche Schweiz von anno dazumal, die wir gerne als unsere ferne Heimat sehen.

Im Gespräch mit Kläri fielen die Ortsnamen rundum: „Chriägschtette, Choppige, Gerläfingä, Biberischt, Zuchu.“ In diesen Gemeinden hatten sich unsere zahlreichen Verwandten niedergelassen, von denen wir aber kaum jemanden kannten. Es ist kein Zufall, dass sie vor allem nach Gerlafingen und Biberist zogen und dort, so hörten wir, ihren Wohlstand mehrten. Denn dort war die Industrie – in Biberist die Papierfabrik, in Gerlafingen das Stahlwerk.

Als Kläri um das Jahr 2000 starb, erbte Onkel Eugen das Haus in Recherswil. „Und er hat es einem Itsch verkauft!“ schimpft meine Mutter gerne. Ein „Itsch“ ist ein Mann, dessen Name auf „ic“ endet, und von dem meine Mutter folglich nichts weiss und nichts wissen will, als dass er aus Ex-Jugoslawien stammt, von wo die Menschen um das Ende des letzten Jahrhunderts in grosser Zahl in die Schweiz kamen. Dieser „Itsch“ habe das Haus dann abreissen lassen und einen Parkplatz aus der Parzelle gemacht.

Seien wir ehrlich: Der Bau hatte knarzende Böden, eine halsbrecherische Treppe in den ersten Stock, und im Winter fror man sich im Bad den Allerwertesten ab. Klärli hatte dort ein Vierteljahrhundert lang geputzt und gebohnert, aber baulich verändert hatte sie nichts, wahrscheinlich war kein Geld dafür da. Man kann es dem Herrn Itsch nicht ganz verdenken, dass er nichts mit der Immobilie und der in ihr konservierten Heimat anzufangen wusste, die nicht die seine war.

Herr T. und ich warfen einen letzten Blick auf den einstigen Dorfplatz. Auch das behäbige Haus auf der anderen Strassenseite sah verlassen aus. Rund um das übernächste ragen Baugespanne gen Himmel. Das hier ist ein Dorf ohne Dorfplatz, nur mit Verkehr, das goldene Zeitalter der Landwirtschaft ist vorbei.

Wir zogen weiter, durch Gerlafingen und Biberist. Hier trafen wir das Industriezeitalter an, doch auch dieses neigt sich dem Ende zu. In der Stahlfabrik Gerlafingen arbeiteten einst 5000 Leute, heute sind es noch 500. Nun, das Unternehmen rentiert, das ist die Hauptsache. Am Eisenhammer-Kreisel bei der Zufahrt zur Fabrik steht noch die Skulptur eines Eisenschmieds und verkündet  Büezer-Stolz. Aber sonst ist das hier ein gewöhnlicher Agglo-Kreisel, umgeben von einer Beiz mit blätternder Fassade, einem Kleider-Outlet und einer Fast Food-Bude im amerikanischen Stil. Es könnte Bülach, Schönbühl oder Ebikon sein. Eine Welt überrollt von den Möglichkeiten der Benzingesellschaft. Niemand erwartet hier Heimat, alle suchen bloss einen Parkplatz.

Der Eisenhammer-Kreisel von Gerlafingen, Kanton Solothurn.

Wer hat die bessere Zukunftsvision?

Aus der angelsächsischen Popkultur kennen wir diese merkwürdigen Entweder-Oder-Fragen: Cat Person oder Dog Person? Beatles oder Stones? Ich kann solche Fragen nie eindeutig beantworten. Ich weder eine Hunde- noch eine Katzenperson, aber ich liebe meine Zimmerpflanzen. Und was die Musik betrifft, fand ich mal: Die Beatles sind etwas für die obere Körperhälfte, die Stones eher für die untere – warum also nicht beides? Richtig kompliziert wird’s indes bei der Frage: Wer hat die bessere Dystopie geschrieben? Aldous Huxley oder George Orwell? Die beiden Autoren werden immer wieder verglichen, denn es sind ja beide Engländer – und beide haben vor bald 100 Jahren grosse Romane über den Zustand der Welt in einer damals unheimlich erscheinenden Zukunft verfasst. In einer Zeit, die vielleicht jetzt unsere sein könnte.

Ich habe kürzlich beide wieder mal gelesen, Orwell und Huxley, und ich muss sagen: Was den politischen Riecher betrifft, bin ich eindeutig im Orwell-Team. Im Moment vergeht kein Tag, an dem ich nicht an seinen Roman „1984“ denke. Orwell beschreibt darin, wie sich die drei Machtblöcke USA, Russland und China in wechselnden Bündnissen gegenseitig bekriegen. Das klingt geradezu unheimlich aktuell. Ausserdem kann man bei Orwell viel über die Lüge in der Politik lernen. Er beschreibt Phänomene, die wir seit Donald Trump’s Präsidentschaft sehr gut kennen. Etwa dieses seltsame Flimmern im Kopf, wenn man das, was man für wahr hält und die Lüge des einstigen US-Präsidenten vergleicht. Und dann die Möglichkeiten der totalen Überwachung und was daraus werden könnte! Schauderhaft.

Viele Leute im Huxley-Team finden, der grosse Zukunftsroman „Brave New World“ aus dem Jahre 1932 porträtiere genau den ungehemmten Hedonismus unserer Zeit: Alle haben ständig Sex mit ständig wechselnden Partnern, Partys ohne Ende und alle nehmen eine Droge, die legal, unschädlich und erst noch gratis ist. Alle sind unerhört sensationslüstern. Alle shoppen ständig, damit alle anderen Arbeit haben.

Aber dieses Urteil dünkt mich oberflächlich, denn hier hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Die Menschen in Huxley’s Welt leben unter komplett anderen Voraussetzungen als wir. Damit ihr Wohlstand und ihr ungehemmter Hedonismus überhaupt möglich sind, wachsen sie nicht im Mutterleib heran, sondern werden vom Staat im Labor nach Bedarf gezüchtet.  Sie werden für ein Leben in einem strikten Klassensystem mit medizinischen Eingriffen vorprogrammiert. Alle müssen also schon als Embryonen schwerwiegende Verletzungen ihrer Grundrechte hinnehmen – sie werden geklont, an ihnen wird herumgedoktert, als Kinder werden sie alle im gleichen Schlafsaal gleich indoktriniert, denn keines von ihnen wird je eine Familie haben. Also wird sich auch niemand je Sorgen über Kinder oder kranke Angehörige machen müssen. Und den wenigsten  wird je ein individueller Gedanke durch den Kopf gehen. All das ist von wohlmeinenden Staatsvätern so eingerichtet, (Staatsmütter gibt es keine. Denn nur Männer werden so konditioniert, dass sie den nötigen Grips haben, einen Staat zu lenken).

Um es etwas polemisch zu sagen: Bei uns ist die Welt doch genau umgekehrt: Unsere Grundrechte sind einigermassen intakt und wir sind Individuen oder fühlen uns wenigstens als solche. Dafür haben wir ständig Geld- und Familiensorgen, fürchten um unseren Job und unseren gesellschaftlichen Status und den unserer Kinder. Unsere Drogen sind nicht besonders wirksam, gefährlich oder illegal. Und unser Hedonismus ist vielleicht einfach Ablenkung.

Und dennoch: Der Roman ist brilliant und packt und sorgt für Diskussionsstoff. Vielleicht muss man die beiden Autoren gar nicht gegeneinander ausspielen – vielleicht hat Orwell mehr über das schlimmstmögliche politische System nachgedacht und Huxley mehr über das Wesen und die Möglichkeiten des Menschen überhaupt. Aber das geht definitiv weiter als die angelsächsische Popkultur so allgemein.

Blutwurst auf Schweizerdeutsch – eine Leseprobe

Leserin piri hat neulich um eine Leseprobe aus meinen schweizerdeutschen Texten geben. Hier ist sie. Es ist ein Ausschnitt aus dem Gedicht, das den Arbeitstitel „E Tag im Läbe“ trägt. Der Text ist zum Vorlesen gedacht. Eine sinngemässe Übersetzung gibt’s bereits hier. Wer es präziser will, soll sich bitte melden.

Denn legg ech de Streamer a,

Das esch das Grätli

Wo mer de Ton vom Telifon

Öber ne Schtick mit Bluetooth

Diräkt of’s Hörgrät leitet.

Aso «diräkt» esch jetz velecht echli schönfärberisch

Well «diräkt» esch’s eher

Wenn zom Telifoniere jede nor eis Grät brucht.

Aber ech elei bruche drü.

Henu, es fonktioniert, emel meischtens.

S’Komische esch nor:

Wenn ech fertig telifoniert ha ond s’ Telifon wägklicke

De seid e Schtemm,

esone blasierti Fraueschtemm i dem Streamer jedesmol:

«Blutwurst audio.»

«Was, Bluetworscht?!» hanech am afang immer dänkt.

«Nüd Bluetworscht, ech ha kei Honger, es gohd do nor oms Rede!»

Aber ned emol das met em Rede,

esch sälbschtverschtändlich gsii,

will die Bluetworscht entkopplet sech gärn.

Drom han ech es Zitlang gmeint,

Die Tusse em Telifon sägi „Blutwurst audio“

Wel ech ere Worscht be, sogar Bluetworscht,

Läck, esch die unprofessionell! hanech tänkt.

Also item,

Wenn sech die Bluetworscht entkopplet,

De muess me si neu kopple,

das esch es Gnifel, e Baschtelei ond au echli Glöckssach.

Am Afang hanech das sälber ned chönne,

emel ned a dem blöde Compi-Telifon em Gschäft.

De hed amigs de Supporter müesse cho.

Aber de Supporter,

dä hed mi mängisch vergässe, ignoriert oder kei Ziit gha.

Ond so

Esch’s amigs wuchelang nüd gsi met «Blutwurst audio».

Jetz chan is sälber, emel meischtens.

Ond well de Schtick zom «Blutwurst audio» eso blau lüchtet

Emel wenner lauft ond kopplet esch,

Esch mer ergendwenn de blau Geischtesbletz cho ond ech ha gwösst:

Das heisst ned «Blutwurst audio», sondern «bluetooth audio”.

Wo ist bloss Frau Frogg geblieben?

Einige von Euch haben sich wahrscheinlich gefragt, warum ich schon seit mehr als einem Monat nichts mehr geschrieben habe. Vorweg: Es geht mir gut. Ich habe wieder Tritt im Leben gefunden. Ich schreibe, schweizerdeutsch und für ein irrwitziges Projekt mit einer Freundin. Ich lese viel. Ich denke nach, ich instagramme. Manchmal fehlt mir das Bloggen, aber ich habe einfach keine Zeit.

Zu Schweizer Bankendebakel

Eine der beiden grossen Schweizer Banken, die Crédit Suisse (CS), muss gerade gerettet werden. Als Schweizerin sollte ich schweigen und mich schämen. Aber ich muss feststellen, dass wir gerade dabei sind, in der Öffentlichkeit einen völlig falschen Eindruck entstehen zu lassen. Jetzt wird nämlich in den Medien behauptet, die CS sei eigentlich eine kommunistische Bank gewesen.

Am Freitagabend etwa sagte der rechtsnationale SVP-Banker Thomas Matter am Fernsehen, die CS-Manager hätten halt gehandelt, wie es im Kommunismus üblich sei: Sie hätten die Bank als Selbstbedienungsladen benutzt.

Doch nicht nur die gescheiterte Bank, nein, auch die Schweizer Regierung und die Schweizerische Nationalbank bediene sich sozialistischer Praktiken, steht heute im Frontkommentar der in den letzten Jahren weit nach rechts gerückten „Sonntagszeitung“:  „Dass Planwirtschaft nicht funktioniert, das zeigte sich dann bei der CS.“ Kritisiert wurde mit diesem Satz die Kommunikation des Nationalbank-Direktors und der zuständigen Ministerin (ganzer Kommentar hier).

Da muss ich einschreiten und Zweifler, ja, eventuell verunsicherte Anlegerinnen und Anleger beruhigen: Die Schweiz ist und bleibt ein hyperkapitalistischer Staat. Wir haben lediglich ein Wahljahr. Klar, dass Skepsis über das Funktionieren der so genannten freien Marktwirtschaft da schon zerstreut werden müssen, bevor sie überhaupt entstanden sind.

Mein neuer Job

Vom Bildschirm lächelt mich ein junger Mann an, höchstens 30, durchtrainiert bis in die Wangenmuskeln. Was um alles in der Welt macht sein Bild bei mir?!

„Passt auch ein .tif-Format auf die Seite?“ frage ich den Chef. „Ja, sollte gehen“, kommt postwendend die Antwort. Ich kopiere den Text ins Layout, ziehe das Porträtbild ins richtige Feld. Ja, .tif geht.

Dann lese ich den Text. Schnell wird klar: Der junge Mann ist bei einem Skitouren-Unfall ums Leben gekommen, 31-jährig. Er war die Aufstiegshoffnung eines KMU am Alpenrand, vor kurzem mit „der Frau seines Lebens“ in die gemeinsame Wohnung gezogen. Dann der letzte, grandiose Sonnenaufgang vor der Berghütte. Beim Abstieg ging etwas fürchterlich schief. Deshalb ist sein Bild hier, bei mir.

Das ist also die neue Aufgabe, die ich seit unserem letzten Stellenabbau zusätzlich habe: Nekrologe in die Zeitung packen. Wir haben auf dem Land noch diesen alten Brauch – man gedenkt der Verstorbenen mit einem Nachruf in der  Zeitung, maximal 5000 Zeichen (mit Leerschlägen). Die Hinterbliebenen schreiben den Text selbst. So geistern ¨die Verblichenen über meinen Bildschirm, mit einem kleinen Bild – immer schwarzweiss, wie es zum Genre gehört. Frauen, die zehn Kinder getragen haben. Männer, deren knapp bemessene Freizeit dem Jodlerchor gehörte, meist mit vom Alter gezeichneten Gesichtern. Es ist eine monotone Textsorte, die Stationen eines Lebens werden vorschriftsgemäss abgehakt. Doch oft ist viel Liebe zwischen den Zeilen, viel Familiensinn. Und dann und wann eine schockierende Geschichte.

Ich bearbeite ab jetzt um die drei Texte dieser Art, pro Woche. Auftrag ist, den Aufwand möglichst gering zu halten. Mein Chef erwartet von mir, dass ich diese neue Aufgabe mit gleichmütigem Achselzucken annehme, wie ich alles andere in den letzten Jahren angenommen habe. Sie hätten mich auch entlassen können. Diese Lösung gut für mein Portmonee, aber anspruchsvoll für mein Gemüt. Ich bin sonst die Frau für den Ärger und die Kontroversen. Damit kann ich umgehen. Dazwischen plötzlich umschalten auf Trauer und Weichheit? Ich weiss ja nicht.

Diese Nachrufe gehen mir aussergewöhnlich nahe. Ich möchte meinem Chef sagen, dass ich dem Tod eben selbst von der Schippe gekrochen bin, und dass ich Sehnsucht nach etwas anderem habe. Nach blühendem, lebendigem Leben.

Der Teufel als Hoteldirektor

Laird Cregar am Empfang zur Hölle im Hollywoodfilm „Ein himmlischer Sünder“, (1943)

Mein persönliches Ende scheint wieder in die Ferne gerückt zu sein – daher mutet es vielleicht merkwürdig an, wenn ich mich jetzt mit Jenseitsvorstellungen auseinandersetze. Aber ich finde das Bild oben aus dem Film von Ernst Lubitsch einfach zu köstlich, um es Euch vorzuenthalten. Daher dieser Blogbeitrag.

Es stellt Luzifer am Empfang zur Hölle so dar, wie man sich in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen Bank- oder Hoteldirektor vorstellte – jovial, aber höchst seriös führt er ein exklusives Etablissement. „Einen Pass zur Hölle bekommt man nicht auf Grund von Allgemeinplätzen“, sagt er zum Protagonisten des Films, der den Empfang eben betreten hat und merkwürdigerweise in der Hölle Einlass begehrt.

Der Streifen basiert auf einer volkstümlichen Jenseitsvorstellung des 20. Jahrhunderts. Sie besagte ungefähr, dass wir armen Sünder nach dem Hinschied erst mal bei Petrus an die Himmelstür klopfen. Petrus wird uns entweder einlassen oder – falls wir auf Erden zu sehr gesündigt  haben – zur Hölle schicken. Diese Vorstellung bot sich im 20. Jahrhundert auch für zahlreiche Witze an. Wer einen erzählt bekommen will, melde sich bitte – das hier ist eine ernste Sache.

Warum also meldet sich Henry van Cleve, Held von Lubitschs Film, nicht zuerst bei Petrus an, sondern kommt bussfertig gleich in den unteren Stock? Er beteuert, habe ein Leben dauernder Verfehlungen geführt. Doch muss er das erst genauer erklären, denn der satanische Herr am Empfang will ihm nicht glauben.

Henry breitet also seine Vita aus, die eines reichen Schürzenjägers, der seine Ehefrau verschiedene Male betrog.

Der Film kam neulich auf Arte, und schnell wurde mir klar, dass man ihn für militante Twitterblasen wohl mit einem Warnhinweis versehen müsste – er ist getragen von einem höchst altmodischen Frauen- und Männerbild. Zum Glück haben die Mitglieder der militanten Twitterblasen keine Zeit, solche alten Streifen auf Arte anzuschauen – und wir Ü50 haben gelernt, dass es keinen Sinn macht, die Filme vergangener Generationen unbesehen zur Hölle zu schicken, nur, weil sie andere Gender-Vorstellungen vertreten als wir. Es ist eine charmante Komödie, ein Zeitvertreib für Menschen, die für ein paar Stunden ihre Ängste vergessen wollen (es war gerade Zweiter Weltkrieg, als er in die Kinos kam). Er legt nahe, dass wir es auch im Jenseits einmal mit kompetentem und verständnisvollem Personal zu tun haben werden. Das ist doch tröstlich.

Weniger tröstlich, aber irgendwie doch plausibler dünkt mich die Jenseitsvorstellung der Stoiker, die Ferdinand von Schirach neulich in einem Interview zusammenfasste. Er bewies im Gespräch ebenfalls viel Stil. Den Tod müsse man nicht fürchten, sagt er. Der Tod sei „ein Zustand wie vor der Geburt. Epikur sagte, solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, sind wir es nicht mehr.“ Mit dem glauben an Hölle und Fegefeuer sei es vorbei, sagt Schirach. „Ich habe lange darüber nachgedacht, warum wir den Tod trotzdem noch fürchten. Ich glaube, es ist nur der Neid, dass die anderen weiterleben dürfen, man selbst aber nicht.“ Das ganze Interview findet sich hier.