Fliegen beim Lesen

Hier werde ich über einen Roman schreiben, den nur die allerwenigsten von Euch lesen werden – weil er in einer Sprache geschrieben ist, die die nur wenige von Euch beherrschen: Luzerndeutsch. Ich tue es trotzdem, weil die Lektüre für mich geradezu berauschend war (wenn auch vielleicht nicht so, wie sich die Hauptfigur der Geschichte Berauschtheit vorstellt, aber dazu komme ich noch). Der Roman heisst „Provenzhauptschtadt“, der Autor Béla Rothenbühler. Und der Text beginnt so:

„Ech wörd ned met Schwalben aafo, wenn ke Schwalben ome gsi wärid. Aber: De ganz huere Hemel voll Schwalbe. Schwalbebüüch ond Schwalbeschwänz, wo äifach so omesäglid, voll äis metem Wend, Termik total im Körpergfüel.“ (S. 8)

Heisst auf Hochdeutsch: „Ich würde nicht mit Schwalben anfangen, wenn keine Schwalben dagewesen wären. Aber: Der ganze verdammte Himmel voller Schwalben. Schwalbenbäuche und Schwalbenschwänze, die einfach so herumsegeln, voll eins mit dem Wind, Thermik total im Körpergefühl.“ Als ich das las, fühlte ich mich selbst wie eine Schwalbe, die vom kargen Boden des Hochdeutschen ins Element ihrer Muttersprache gewirbelt wird. Ich hörte den Erzähler geradezu labern, sehe ihn gestikulieren in einer Beiz, mit seinen Kollegen. Ich kann das Bier riechen. Mein Leben lang habe ich eine Sprache gesucht, die manche meiner Geschichten erst richtig zum Fliegen bringen könnte. Das wäre diese Sprache.

Ich muss einräumen, dass es dazu auch andere Meinungen gibt. Arno Renggli, der Rezensent der „Luzerner Zeitung“, beurteilte den Dialekt als „echtes Hindernis“ beim Lesen. Nun ja, vielleicht fehlte ihm auch einfach die Bereitschaft, sich der Thermik dieser Sprache anzuvertrauen. Hat man als Muttersprachler diesen Moment des Zögerns hinter sich, ist es ganz einfach. Renggli benannte auch gleich den kommerziellen Haken am Projekt „Luzerndeutscher Roman“: „Eine gute Story ist eine gute Story, was braucht es da das Handicap des Dialekts, das des Autors Absatzchancen ja auch noch geografisch einschränkt?“ (Ausgabe vom 15. Februar 2021). Da hat er freilich recht: Der Markt für Luzerndeutsche Literatur ist wohl winzig.

Aber erzählt „Provenzhauptschtadt“ auch eine gute Story? Nun ja, nicht so richtig. Eigentlich scheitert sie schon an ihrem Titel. Dieser behauptet, dass sich das Buch mit der Provinzialität im Allgemeinen und der Luzernischen Provinzialität im Speziellen auseinandersetzt. Aber der Ich-Erzähler bleibt bei jeder Gelegenheit, sich in dieses Thema zu vertiefen, vollkommen vage. Er bleibt überhaupt bei jedem Thema vollkommen vage. Er behauptet zwar, „Fermepsücholog“ zu sein – also Firmenpsychologe. Da müsste er doch auch ein wenig an Menschen interessiert sein, vielleicht wenigstens an seinen WG-Kollegen, mit denen er nächtelang bechert. Ist er aber nicht. Nicht einmal die Frau, in die er verliebt ist, interessiert ihn so richtig. Vielleicht liegt es daran, dass gerade Sommer ist und Fussball-WM und alle immer ein bisschen betrunken oder bekifft. Oder will die Geschichte uns sagen, dass Provinzmenschen im Allgemeinen vage denken und beziehungsunfähig sind? Das wäre nun ein Vorurteil, dem ich Deutsch und deutlich widersprechen muss.

Der Roman beginnt sommerlich melancholisch und endet mit einem üblen Kater. Er wird wohl keine neue Literaturtradition begründen, und auch ich werde in meinem Blog weiterhin auf dem Boden des Hochdeutschen bleiben, schon wegen Euch Leserinnen und Lesern. Von meinem stillen Kämmerchen aus aber werde ich wohl ab und zu die Schwalben fliegen lassen und ein bisschen mit dieser Sprache experimentieren.

Béla Rothenbühler: „Provenzhauptschtadt“, Verlag Der gesunde Menschenversand, Luzern, 2021

Perücke

Echthaar-Perücke an etwas zu rotwangigem Model (Quelle: lightinthebox.com)
Zweierlei habe ich festgestellt, seit ich um den Krebs weiss: So eine Diagnose verschiebt erstens die Koordinaten der zwischenmenschlichen Beziehungen auf merkwürdige Art. Zum Beispiel wollen einen plötzlich Menschen umarmen, zu denen man eigentlich keine Umarmungs-Beziehung hat. Zweitens: Sobald man sich als Frau einer Chemotherapie unterziehen muss, gehört man zur Zielgruppe einer spezialisierten Wohlfühl- und Gutausseh-Industrie. Schon im Spital bekommt man Müsterchen mit Kosmetika und eine Liste von Coiffeuren, die Perücken vermitteln. Man sieht unzählige Bilder von etwas zu rotwangigen Schönheiten mit Turbanen und Haarteilen. Ich will das nicht kritisieren, wahrscheinlich werde ich sogar auf meine Art froh darum sein, die Chemo beginnt nächste Woche.

Ich befolgte auch den Rat, mir schon vorher von so einer Perücken-Vermittlungsperson einen Haarschnitt verpassen zu lassen. Damit die wissen, was man für Haare hat. Im Spital gab mir jemand eine Liste mit Adressen von solchen Leuten. Auf ihr war der Coiffeur Platzhirsch mehrfach vertreten, der für seine Professionalität und einen etwas pompösen Dekor einen gesalzenen Preis verlangt. Ich wählte statt dessen den Salon Léonie bei uns in der Nähe. Eine Einzelperson mit einem kleinen Lokal in einem Wohnblock.

Ich hatte mir Léonie als nüchterne Geschäftsfrau Ü35 vorgestellt, aber sie erwies sich sehr jung, fast noch ein Mädchen, das ein scheues Wesen hinter ein paar Speckröllchen versteckte. Ihr kleiner Salon ist voller Topfpflanzen, an den Wänden zwischen den Spiegeln ranken hübsche, wahrscheinlich selbst hingemalte Ornamente. Sie hatte einen kleinen Hund bei sich und wenn sie lächelte, tat sie es nicht wie ein Profi, sondern wie ein richtiger Mensch.

Nun ja, sie habe eigentlich bis jetzt wenig mit Perücken und so zu tun gehabt, gestand sie. „Aber eine habe ich besorgt, für eine Frau hier aus dem Haus. Die kann ich Dir zeigen. Sie hat sie gestern zurückgebracht.“ Sie nestelte an einer Schuhschachtel auf dem Ladentisch herum.

Ich sagte: „Ja, wenn das alles vorbei ist, gibt man die Sachen sicher gerne zurück.“

„Nun ja“, sagte Léonie, „es ist eben nicht vorbei. Die Frau räumt gerade ihre Wohnung, sie geht morgen ins Sterbehospiz.“

Ich liess das kurz einsinken. Dann sah ich ihr zu, wie sie eine weissblonde Perücke auf ein Drahtgestell drapierte. Sie erklärte mir erst die haarigen Einzelheiten. Dann erzählte sie mir ganz viel über die Frau, die das Ding getragen hatte: Wo deren erster Tumor ungefähr gesessen habe und dass sie über 80 sei. Schnell war ich sicher, dass ich die Frau nicht kennen konnte. Daher liess ich Léonie erzählen und mir sogar Bilder der Fremden mit Perücke zeigen – von hinten, man sah ihr Gesicht nicht. Aber ich sah eine vielgliedrige Goldkette an ihrem Hals wie meine Mutter eine hat.

Zwischendurch wurden Léonies Augen etwas feucht. „Weisst Du, sie war eine so liebenswürdige Person! Ich habe sie sehr gern gehabt.“ Ich zweifelte leise an der Eignung von Léonie für den emotional fordernden Job der Perückenvermittlerin. Aber es fehlte nicht viel und ich hätte sie umarmt, um sie über den Verlust ihrer Nachbarin zu trösten.

Lesen während der Rekonvaleszenz

Das Bild zum Klassiker: Achilles besiegt Hektor – drastisch dargestellte Szene aus dem trojanischen Krieg, hier von Peter Paul Rubens (Quelle: kunstbilder-galerie.de)

In diesen Tagen der Rekonvaleszenz lasse ich die News nicht zu nahe an mich heran. Spekulationen über Putins Hirn und den Krieg lasse ich meist links liegen. Wenn in der „Tagesschau“ die schlimmen Bilder kommen, konzentriere ich mich auf die Untertitel. Immer noch befasse ich mich lieber mit Stoffen aus der fernen Vergangenheit. Ich habe mich in Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ richtig vergraben.

Mittlerweile kann ich mich aber dem Krieg auch dort nicht mehr entziehen. Ich bin beim Kampf um Troja angelangt. Im Buch gibt es sehr anschauliche Schlachtszenen, hier ein Mini-Ausschnitt: „Ajax … traf mit der Lanze den Amphios, einen Verbündeten der Trojaner, unter dem Gurte, dass er in dumpfem Falle zu Boden stürzte; dann stemmte er den Fuss auf den Leichnam und zog die Lanze heraus; ein Hagel von Speeren hinderte ihn, den Gefallenen der Rüstung zu berauben.“ (S. 397)

Actionszenen vor der Erfindung des Actionfilms eben, und sie ziehen sich über 100 Seiten hin, auf denen der Endkampf um die Stadt in Kleinasien tobt. Dutzende Helden sterben. Schwab scheint sich hier recht genau an die „Ilias“ von Homer gehalten zu haben. Ich versuche, das alles nur zu überfliegen, bleibe aber doch immer wieder hängen, als könnte ich mich auf diese Weise dem Unaussprechlichen nähern. Ich vertiefe mich sogar in eine verjüngte Bearbeitung des Stoffes: Ich sehe mir „Troy: Fall of a City“ von 2018 auf Netflix an. Diese Serie kann ich freilich nur Hobby-Historiker*innen empfehlen. Der Streifen braucht ungefähr so viel Geduld wie Schwab. Zudem enthält er ebenso drastische Action-Szenen, und erst noch in bewegten Bildern. Aber dann und wann tauchen ungewohnte Interpretationen des Stoffes auf. So thematisiert die zweite Folge den ökonomischen Aspekt des Krieges: Die Griechen, lautet die die plausible Behauptung, wollten nicht nur die „Entführung“ der Helena rächen, sondern den Troern gleich auch noch die lukrative Zollstation am Ausgang der Dardanellen wegschnappen.

In der zweiten Folge versuchen die Griechen die Stadt mit einem Blitzangriff an einem einzigen Tag einzunehmen. Aber der Plan misslingt. Bei Einbruch der Nacht ziehen sich beide Armeen erschöpft in ihre Lager zurück. Es folgt eine Szene von grosser Melancholie, in der der griechische Chefstratege Odysseus schwer atmend zum Kollegen Nestor sagt: „Wir haben keinen Zentimeter Boden gewonnen. Das ist kein Krieg, das ist Wahnsinn. Als die Trojaner unsere Forderungen zurückwiesen, sah ich, wie sich die Jahre vor mir auftaten. Ich werde ein alter Mann sein, wenn ich wieder nach Hause komme.“

„Da sah ich, wie sich die Jahre vor mir auftaten.“ Der Satz packt mich am Nackenhaar und zwingt meinen Blick auf die Gegenwart, mehr als viele hochtrabende Analysen über den misslungenen Blitzangriff der Russen vor ein paar Wochen. Ist es das, was wir jetzt vor uns haben? Jahre des des Mordens, des Elends und der Ungewissheit?

Gustav Schwab: „Sagen des Klassischen Altertums“, Insel taschenbuch 2792, Frankfurt am Main und Leipzig, Erste Auflage 2001

Narkose

Die Ärzte von „Grey’s Anatomy“ beim Operieren. (Quelle: Monster.com)

Seit Jahren sehe ich am Montagabend treu Grey’s Anatomy und habe daher vage Vorstellungen von der Chirurgie. Nie hätte ich mir vorgestellt, dass ich einmal in die Rolle der Patientin auf dem Operationstisch geraten könnte. Die Serie wird aus der Sicht der Ärztinnen und Ärzte erzählt, Patienten haben lediglich Nebenrollen. Werden sie operiert, sieht man meist nur das Loch in ihrem Leib.

Als es dann doch soweit kam, stellte sich heraus: Am meisten fürchtete ich mich vor der Narkose. Die Vorstellung, ohne Bewusstsein dazuliegen, während sich eine Hand mit Skalpell auf meinen Körper senkt, … nein, bitte nicht! Und dann auch noch ohne Hörgeräte! Jeder Person, die mit mir sprach, schärfte ich ein: „Sobald ich aufwache, muss ich meine Hörgeräte wieder haben. Ich höre sonst rein gar nichts.“ Jede erklärte mir in sanftem Ton, wie man mir nach der Operation meine Hörgeräte wieder verschaffen werde. Es klang jedes Mal etwas anders, was mich nicht unbedingt beruhigte. Ich dachte über einen Auswege nach. Erst am zweitletzten Abend vor dem grossen Tag sah ich so etwas wie ein Licht, das mir den Weg wies. Nicht: „Augen zu und durch.“ Sondern: „Folge dem Licht geradeaus, es zeigt Dir den einzigen Weg.“

So bereitete ich mich auf die Prozedur vor wie auf einen kleinen Tod. Am Vorabend packte ich, rasierte meine Körperhaare und legte die Armbanduhr und meine Ringe ab. Bei Tagesanbruch waren wir im Spital, wo ich auf einer fahrbaren Liege meine Kleider aus- und Spitalwäsche anziehen musste. Die Pflegerin zeigte mir eine rote Tüte, die über den Bett hing: „In diese Tüte legen wir Ihre Hörgeräte, sobald Sie ohne Bewusstsein sind. Wenn Sie wieder zu sich kommen, können Sie sie wieder anziehen.“

Dann musste ich, noch aus eigenen Kräften, von der fahrbaren Liege auf einen Operationstisch umsteigen. Genau diese Szene hatte ich am Vorabend in einer Folge „Grey’s Anatomy“ gesehen: Für einen schwer lungenkranken Mann war diese Handlung die letzte Geste der Zustimmung zu einer lebensgefährlichen Operation. In der Realität gibt es an diesem Punkt keinen Widerspruch mehr, es ist alles bereit. Ich liess mir eine Sauerstoffmaske überstülpen.

Als nächstes hörte ich eine Frau. Sie rief: „Frau Frogg! Frau Frogg! Sind sie wach?!“ Da wusste ich, dass die Narkose vorbei war. „Ja“, sagte ich, und dann: „Kann ich noch ein paar Minuten schlafen?“ Ich war so müde.

Dass ich da meine Hörgeräte schon wieder getragen hatte, merkte ich erst Stunden später.

Dinge tun, die glücklich machen

Die Magnolie auf unserem Balkon in voller Blüte.

Zehn Dinge, die ich tue, um die Angst zu vertreiben und mich in die Gegenwart zurückzuholen.

1) Wäsche aufhängen, ein Stück nach dem anderen, planvoll und ohne Eile.
2) Der Sternmagnolie auf unserem Balkon beim Blühen zuschauen. Sehen, wie ihre weissen Blüten sich an ihr kurzes Leben verschwenden.
3) Mich empören. Der Kanton Luzern will dem Vatikan 400000 Franken für eine neue Kaserne der Schweizergarde schenken. Ich fasse es nicht! Der Kanton Luzern benimmt sich sonst immer, als wäre er mausarm, der Vatikan schwimmt im Geld, und die Schweizergarde ist nichts als eine Folkloretruppe für Jungmachos. Sofort unterschreibe ich auf dem Referendumsbogen, den mir jemand auf der Strasse entgegenstreckt.
4) Mich mit Kaja versöhnen. Wieder einmal haben wir uns gezofft, es sind angespannte Zeiten. Ein paar Wochen lang wissen wir beide nicht, wie wir überhaupt je wieder miteinander sprechen können. Aber dann treffen wir uns zufällig in einem kleinen Kleiderladen, beide halten wir ein fuchsiafarbenes Kleidungsstück in den Händen, und nach wenigen Worten umarmen wir uns.
5) Einen Spaziergang um die Blumenrabatte beim Neubad machen, in meiner Hand das Händchen des eineinhalbjährigen Glückskindes, das sein Lachen so grosszügig verschenkt.
6) Lesen. Mit vielen Büchern habe ich im Moment keine Geduld. Virginia Woolf musste ich entnervt weglegen. Ich kehrte zu klassischen Werten zurück: Gustav Schwabs „Griechische Sagen“ und „Black Sea“ von Neal Ascherson. Ascherson beschwört in seinem Buch nicht nur die Schönheit der Krim. Er sah schon 1996 das mörderische Dilemma, das Nikita Chruschtschow heraufbeschwor, als er sie 1954 zur Ukrainischen SSR schlug. Inzwischen verstehe ich die ungefähren Eckpfeiler dieses Krieges – die Auseinandersetzung mit der mythischen Vergangenheit ist irgendwie überflüssig, und doch rührt sie mich manchmal fast zu Tränen.
7) Neue Wörter lernen. Zum Beispiel: Heterotopie, Mixoparthenos
8) Mit der Kassierin an der hintersten Kasse im Coop plaudern. Ich verstehe zwar längst nicht alles, was sie sagt. Aber das macht nichts. Es geht irgendwie trotzdem.
9) Mit meinem Mann diskutieren, egal über was. Spaghetti Barba di fratte, Rechtsextremismus in der Schweiz oder den Yanayev-Putsch von 1991.
10) Schöne Kleider anziehen und mich schminken. Mein hellblaues Mäntelchen passt zur Saison und verdeckt unter seinem Leuchten das Finstere in mir. Beim Schminken erwische ich manchmal etwas zu viel Rouge.

Die gute Nachricht

„Die Badende“ von Hermann Haller vis à vis vom Brustzentrum
Zum Beitrag gestern habe ich viele Wortmeldungen erhalten, Anteilnahme, Schreck und Aufmunterung, alle sehr freundschaftlich. Vielen Dank! Ich weiss, dass der Beitrag ziemlich verstörend ist und habe lange gezögert, ihn zu veröffentlichen. Am Schluss siegte mein Mitteilungsbedürfnis. Dabei vergass ich, dass mich hier einige Leute lesen, die mich auch persönlich kennen, aber von nichts gewusst haben. Es tut mir leid, dass ich Euch diesen Beitrag
zugemutet habe. Was ich im gestrigen Beitrag geschildert habe, war der erste, düstere Schock einer Diagnose, mit der ich nicht gerechnet hatte. Mittlerweile hat sich alles merklich aufgehellt.

Vorgestern, vier Tage nach dem Bericht der Frauenärztin, hatte ich einen Termin bei der Brustspezialistin. Da wusste ich noch relativ wenig. Ich wartete vor dem Eingang auf Herrn T. und blickte dabei der Frauenstatue auf der anderen Strassenseite auf die entblössten Brüste. Seit der Diagnose sehe ich ständig Darstellung von Frauen mit nacktem Busen und habe komplizierte Gefühle dabei – aber ich konnte mich jetzt nicht mit ihnen befassen. Herr T. kam und wir gingen zusammen zur Senologin.

Sie hat mir alles erklärt: dass der Tumor nicht von der aggressiven Sorte ist und noch relativ klein. Wie sie ihn voraussichtlich operieren wird, welche Komplikationen dabei auftreten können und mit wie hoher Wahrscheinlichkeit. Welche Therapien ich danach machen muss, und dass ich dann mit hoher Wahrscheinlichkeit geheilt sein werde. Ihre Informationen waren sachlich, rational und präzis, kamen freundlich, ohne Umschweife und, so hoffe ich, ohne Beschönigungen. Sie brachte das Licht der Vernunft in jenen dunklen Estrich, dem meine Seele gerade glich. Was ich sah, stimmte mich zuversichtlich.

Am Abend kam unsere Nachbarin Lydia auf ein Gläschen herüber. Sie hat den denselben Zirkus vor sechs Jahren durchgemacht, ist gesund und fröhlich.

Klappe halten

Hiermit künde ich an, dass ich nun mal eine Weile die Klappe halten werde. Ich meine: Es gibt im Moment rein gar nichts zu sagen. Soll ich etwa Entsetzen über das bekunden, was Putin mit der ukrainischen Bevölkerung macht? Natürlich bin entsetzt, aber diese Entsetzensbekundungen sind doch längst zum Feigenblatt der Putin-Versteher geworden. Sobald sich diese feinen Damen und Herren ihre Entsetzensbekundung gut sichtbar montiert haben, entblössen sie sich rundum mit „Ja, aber…“-Sätzen. Also: Ich trage lieber Kleider und bin einfach froh, dass die Schweiz jetzt unbürokratisch Flüchtlinge aufnehmen will.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas über den Krieg schreiben? Närrisch, wir haben ja alle keine Ahnung.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas anderes schreiben? Idiotisch.

Demonstrieren? Das mag uns guttun. Aber Putin lacht.

Schmutziger Donnerstag


 
Luzerner Karnevalsmasken

Am Morgen lese ich immer als erstes die am Vorabend in die Druckerei geschickte Zeitung. Das ist mir zugleich Arbeit und Vergnügen. Nie habe ich meinen Vater verstanden, der sich schon beim Rasieren vom Radio die Schlechtigkeit der Welt vorführen liess. Zeitungen haben im Vergleich dazu etwas wohltuend Unaufgeregtes. Auch am Donnerstag, 24. Februar, holte ich zuerst das Print-Produkt aus dem Kasten und las. Nichts Unerwartetes.

Dann ging ich ins Büro. Dabei galt es, dem Hochbetrieb in der Altstadt auszuweichen: Es war Schmutziger Donnerstag, also Fasnacht. Hierzulande sind vor kurzem fast sämtliche Covid-Massnahmen aufgehoben worden, jetzt wollen die Leute feiern. Als Alteingesessene kenne ich die beste Ausweichroute und ziehe fast ungehindert am Gotthardhaus vorbei über die Seebrücke. Sie ist breit genug für ein paar Karnevalsgestalten und mich. „Das ist also der Tag, an dem das Wort ‚Maske‘ zwei Bedeutungen bekommt“, grinse ich, ziehe mir an der Bushaltestelle meine FFP2 über und steige für den letzten Kilometer in den Bus.

Im Büro starte ich meinen Computer, werfe einen Blick auf die News im Internet und bekomme es nun schlagartig mit: Putin hat am Morgen die Ukraine überfallen. Ein Schock! Er hat die Maske der Verhandlungsbereitschaft abgelegt, mit der er die Welt so lange zum Narren gehalten hat. Bis zum Mittag habe ich die Bilder gesehen: Flüchtende Eltern mit ihren Kindern in einer U-Bahnstation. Es könnte hier in der Nähe sein. Dort zahlen Millionen Menschen den grausamen Preis dafür, dass sie leben wollen wie wir. Dort zerschellt die Illusion, dass die Kriege der Grossmächte auf europäischem Boden vorbei sind. Ich weine ein bisschen, allein in meinem kleinen Büro.

Auf der anderen Seite des Korridors sehe ich die Kollegen von der Lokalredaktion. Ihr Job: Fasnachtsberichterstattung. Früher war das immer ein Alptraum der Hektik und Planlosigkeit. Aber sie haben jetzt den Sänger zum Chef, dessen Natur es ist, gute Laune zu verbreiten. Sie sind in heiterer Stimmung. Die Ausland-News werden zwar woanders gemacht, und doch muss der Sänger dieses ganze, verzweifelte Auseinanderklaffen der Welt im Auge behalten. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, aber ich beneide ihn nicht.

Am Abend ging ich wieder durch feiernde die Menge. Ich war traurig und wusste nicht, was ich über den ganzen Mummenschanz denken sollte. Aber ich weiss, was die Schweiz jetzt tun muss: Sie muss ihre Maske der Unbeteiligtheit ablegen. Hey, in der Schweiz sind die Fäden des internationalen Rohstoffhandels verknüpft! Wir müssen doch mithelfen können, diesen Irrsinn zu stoppen!

Das Buch, in dem man zuerst den Schluss lesen sollte

Die meisten Bücher lesen wir vom Anfang bis zum Ende. Es gibt auch Werke, in denen wir nur einzelne Kapitel studieren oder hier und dort ein wenig grasen. Bei „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt ist es nochmals anders: Dieser Backstein von einem Buch besteht aus drei Teilbüchern. Von ihnen liest sich zuerst am besten das dritte und letzte. Es trägt den Titel „Totale Herrschaft“ und beginnt in meiner Ausgabe auf Seite 629. Auch Arendts berühmter Mentor, Karl Jaspers, empfiehlt in seinem Vorwort von 1955, es so zu machen.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Arendt definiert zum Beispiel erst im dritten Buch, was sie eigentlich unter totalitärer Herrschaft versteht. Mein Professor hätte sich anno 1993 die Haare gerauft, wenn ich das bei meiner Diplomarbeit an der Uni so gemacht hätte. Aber bitteschön – sie ist Hannah Arendt und braucht sich nicht an kleinliche Regeln für Anfängerinnen zu halten. Im dritten Buch erklärt sie auch, in welchen Punkten in ihrem Augen Nazideutschland und die Sowjetunion unter Stalin vergleichbar und als totalitäre Systeme zu verstehen sind. Die Gemeinsamkeiten umfassen den Personenkult um Hitler beziehungsweise Stalin. Dann die gewollt unübersichtliche Organisation der Institutionen in beiden Staaten und schliesslich der Polizeiterror. Und dann: die Massenmorde.

Arendt hätte gerne China unter Mao Tse Tung in ihre Erörterungen einbezogen. Doch sie muss einräumen, dass über China zu wenige Informationen greifbar waren.

Insgesamt aber mahnt sie: „Wir haben … allen Grund, mit dem Wort ‚totalitär‘ sparsam umzugehen.“ (636) Für kleinere Länder etwa sei „die totale Herrschaft ein zu hoch gestecktes Ziel gewesen. Zwar konnten auch kleinere Länder totalitäre Bewegungen gut gebrauchen, um die Massen zu organisieren und den Mob an die Macht zu bringen; aber eine eigentlich totale Herrschaft konnten sie sich nicht leisten, weil sie einfach nicht über genügend Menschenmaterial verfügten, um die ungeheuren Verluste an Menschenleben, die der totale Herrschaftsapparat dauernd fordert, zu ertragen.“ (665) Auch der Nationalsozialismus habe erst nach den Eroberungen in Osteuropa seinen ganzen Horror entfalten können.

Auffällig ist die fast schon zynische Selbstverständlichkeit, mit der die Autorin das Wort „Menschenmaterial“ verwendet. Manchmal liest sich dieser Text, als müsste die Autorin selbst ein gewisses Quantum Menschenverachtung aufbringen, um es mit ihrem ungeheuerlichen Thema aufnehmen zu können.

Sie sah kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Welt jederzeit in Gefahr, wieder dem Totalitarismus anheimzufallen. Ich habe mir beim Lesen oft gewünscht, sie wäre noch am Leben und könnte die Geschehnisse der letzten Jahrzehnte kommentieren. Sicher ist: Auch wenn heute an vielen Orten der Welt schlimme Dinge geschehen – vom industrialisierten Morden des früheren 20. Jahrhunderts sind wir immer noch sehr weit entfernt. Es gibt Autokraten, vielleicht sogar Diktatoren: Putin und Erdogan zum Beispiel. Trump hatte seinen Personenkult und ein riesiges Land. Dass er die Institutionen in den USA beschädigt hat, ist sicher. Wir können nur hoffen, dass er nun endgültig weg vom Fenster ist. Und China? Ich habe durchaus das eine oder andere über China gelesen. Und doch weiss ich darüber einfach zu wenig.

1000 Seiten Hannah Arendt

Ich habe viele Winterstunden damit verbracht, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt zu lesen. Das Buch hat in meiner Ausgabe* 1014 Seiten. „Warum liest Du so etwas?“ fragt ihr mich. Nun, ich habe es gelesen, weil ich Angst hatte und habe. Ich habe Angst, dass die USA aufhören könnten, ein Rechtsstaat zu sein. Ich hatte Angst davor, dass die Covidskeptiker in der Schweiz die demokratischen Institutionen überrennen. Ich fragte mich: Wird es jetzt wie damals, in den dreissiger Jahren? Und in diesem Buch suchte ich Antworten, denn Hannah Arendt fragte unmittelbar in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg: „Was war geschehen? Warum war es geschehen? Wie konnte es geschehen?“ (S. 630) Sie hatte die Zeit des Nationalsozialismus als Deutsche, als Jüdin, als Geflüchtete, als Staatenlose und als Intellektuelle erlebt. 1949 war die erste Fassung des Buches fertig. Man liest so etwas heute, um die Zeichen an der Wand zu sehen, falls sie denn da sind. Um mit verhindern zu können, dass „es“ wieder geschieht.

Arendt wird oft als Philosophin bezeichnet. Aber diesem Buch fehlt die formale Stringenz eines philosophischen Textes. Sie schreibt vielmehr als beredte Zeitzeugin, „mit dem rückwärtsgerichteten Blick des Historikers und den analytischen Eifer des Politologen“ (630). Sie schreitet ins Feld der Rechtsphilosophie und bedient sich bei Literaten von Rudyard Kipling bis Franz Kafka, um das Lebensgefühl der Menschen früherer Jahrzehnte zu schildern. Ihr Stil ist selbstbewusst, gar herrisch, zuweilen bitterböse sarkastisch und ziemlich anschaulich (wenn man den einen oder anderen 15 Zeilen langen Satz nicht fürchtet).

Und? Wie totalitarismusgefährdet sind wir tatsächlich? Gibt es darauf Antworten? Jein. Wenn man das Buch so liest, sieht man durchaus Zeichen an der Wand, sehr beunruhigende sogar. Aber ihre Genauigkeit ist auch eine ständige Ermahnung, aus ein paar unzusammenhängenden Zeichen an der Wand nicht wirre Sätze abzuleiten.

Wer das Buch zum ersten Mal liest, einfach so drauflos, wie ich das mache, dann fühlt sich der Leseprozess an wie der Weg durch ein langes, tiefes Dickicht. Kaum bin ich auf der anderen Seite herausgekommen, möchte ich dieses Dickicht nochmals durchdringen. Ich möchte das Gestrüpp am Weg sorgfältig auseinandernehmen und mir die Früchte einverleiben, die ich dort beim ersten Lesen lediglich gesehen habe. Damit ich gestärkt die Zeichen an der Wand interpretieren kann.

Früher habe ich episch über meine Reisen in ferne Länder geschrieben. Jetzt nehme ich Euch ein bisschen mit auf den Weg durch das Dickicht dieses Buches. Ich weiss nicht, ob Ihr mitkommen wollt. Aber für Euch hat es den Vorteil, dass ihr schon eine Ahnung habt, worauf ihr Euch einlasst, falls ihr Euch mal selbst auf den Weg durch dieses Dickicht machen wollt. Und falls ihr es zwar gerne lesen würdet, aber zu dick findet: Dann habt ihr wenigstens eine ungefähre Ahnung, was darinsteht.

Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft“, Serie Piper, ungekürzte Taschenbuchausgabe, 7. AUflage, 2000.