Böse Schwerhörige

Ein Kindertretrad, hier Likeabike
genannt, ist handlungstreibendes Element dieser Geschichte. Quelle: babyjoe.ch
Man sagt, viele Schwerhörige würden zu besonderem Misstrauen ihren Mitmenschen gegenüber neigen. Wenn sie etwas missverstünden, würden sie immer gleich das Negativste über den Sprecher oder sich selbst denken. In älteren Texten ist sogar von einem Hang zur Paranoia die Rede. Bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, dass das bei nicht so sei. Ich habe mich aus familiären Gründen schon als Teenager mit dem Phänomen Verfolgungswahn (ohne Schwerhörigkeit) auseinandersetzen müssen. Damals legte ich für mich eine Lebensmaxime fest: „Wenn Du nicht mit Sicherheit weisst, ob jemand etwas Fieses zu Dir oder über Dich gesagt hat, dann stellst Du am besten gar keine Vermutungen an.“ Bis jetzt habe ich das leidlich durchgehalten.

Am letzten Sonntag bin ich gänzlich unerwartet gescheitert.

Es passierte auf einem Spaziergang mit Herrn T. auf einem etwa zwei Meter breiten Weg am Stadtrand. Wegen meiner Instagramsucht musste ich einen kurzen Fotostop einlegen. So holte ein junger Papa mit zwei quengeligen Kindern hinter uns auf. Ich hörte ihn noch entnervt sagen: „Nein, Alma, hör jetzt auf damit!“ Dann näherte sich pfeilschnell eines der Kinder auf einem Likeabike. „Tsiite!“ sagte das Kind mit verkniffenen Lippen, und wir wichen gehorsam aus. „Tsiite!“ ist Schweizerdeutsche Kurzform für: „He, zur Seite, aber dalli!“ „Tsiite!“ sagten wir als Kinder, wenn wir jemandem auf respektlose Art mitteilen wollten, dass er oder sie uns im Wege war.

„Was für ein ungezogener Goof!*“ dachte ich.

Schon nach zehn Metern hielt die Kleine an. Es handelte sich um ein vielleicht vierjähriges Mädchen mit langem, honigblondem Haar, wahrscheinlich jene Alma, die kurz zuvor von ihrem Vater aus der Contenance gebracht hatte. Vor uns lag die Durchgangsstrasse. Das Kind wollte sie wohl nicht ohne den Papa überqueren, der mit seinem zweiten Kind im Wägeli immer noch hinter uns ging. Als wir an der Kleinen vorbeigingen, musterten wir einander. Sie hatte ein zum Erbarmen bekümmertes Gesicht, der Eklat mit ihrem Vater ging ihr wahrscheinlich nahe. Sie sah überhaupt nicht ungezogen aus. Ich wollte jetzt mehr wissen. Kaum konnte ich davon ausgehen, dass wir ausser Hörweite waren, fragte ich Herrn T.: „Du, hat die Kleine wirklich „tsiite“ gesagt?“

Herr T. schaute mich verwundert an. „Nein“, sagte er, „sie hat ganz einfach ‚grüzei‘ gesagt.“

Es brach mir fast das Herz, dass ich sie nicht zurückgegrüsst hatte.

* „Goof“, ist ein despektierliches schweizerdeutsches Wort für Kinder, „Saugoof“ die Steigerung.

Instagramsüchtig

Eines meiner „meistgelikeden“ Instagram-Bilder. Atlasfigur an der Tür des Luzerner Hotels Palace, das gerade umgebaut wird.
Falls Ihr Euch gefragt habt, warum ich so selten schreibe: Ich bin wieder mal instagramsüchtig. Das kommt bei mir in Schüben. Diesmal liegt es daran, dass wir einen goldenen Herbst gehabt haben, zwei Monate kobaltblauen Himmel und Laub in allen Farben. Ausserdem habe ich ein neues Handy und mithin eine bessere Kamera.

Ich gebe mich Instagram nicht ohne schlechtes Gewissen hin. Dieses ständige Schielen nach neuen „Likes“ hat etwas Zwanghaftes. Meine angestrengte Suche nach den besten Hashtags hat dazu geführt, dass an mehreren Orten in unserer Wohnung unordentliche Listen mit solchen herumliegen. Und dann die idiotischen Fragen, die ich mir so stelle: Soll ich den Hashtag #abandoned (den man normalerweise für verfallene, leerstehende Häuser braucht) auch für den Helden aus Sandstein im Bild links verwenden? Verstehen alle die Anspielung, wenn ich den Hashtag „#notimetodie“ setze? Sehen andere die Ähnlichkeit mit James Bond auch? Wie auch immer, das Bild schlug ein: Ich habe bis dato 258 „Likes“ dafür bekommen, zwei- bis dreimal so viel wie für meine anderen Bilder. Ich habe einen Hammer-Hashtag gefunden, aber den verrate ich nicht. Überhaupt: Was sind „Likes“ denn für eine Messgrösse?

Eine grosse Schweizer Tageszeitung warf kürzlich die Frage auf, ob man bei Facebook überhaupt noch mitmachen dürfe – und diese Frage darf ruhig für Instagram auch gelten, denn das der Laden gehört ja Facebook. Ganz abgesehen davon, dass ich dem Konzern ohne nachzudenken Informationen über mich und jeden meiner unschuldigen Spaziergänge liefere – ich mache da auch bei einem Spiel mit, das junge Frauen magersüchtig macht, auf dem auch Menschenhändler ihr Unwesen treiben, und das Hass und Hetze sät. Dabei will ich meine Follower nur auf kleine Reisen mitnehmen.

Und dann ist da noch der Umstand, dass ich mir vorgenommen hatte, wieder mehr zu schreiben. Dass ich mich so leicht davon habe abbringen lassen, bestätigt nur ein Zitat, das angeblich von Jan Philipp Reemtsma stammt: Das Ich sei eine «Turnhalle, die von Stimmungen durchweht wird». Für mein ich gilt das offensichtlich. Nun, ich bin zurück und habe in der Halle einen Turnbock für Tagebuch-Übungen aufgestellt. Meine anderen Schreibprojekte bekommen erst mal den Hashtag #abandoned.

Ein magisches Tal

Berge wie himmlische Beisszacken im Bergell: Ganz rechts wie ein Hausdach der Piz Badile (3308 m. ü. M.), links davon der Cengalo (3369 m. ü. M.), .

Im Herbst 2013 besuchte ich das Bergell zum ersten Mal und beschrieb es hier höchst ungnädig als wahres Jammertal – damals war es düster und verhangen. Während unseres Aufenthaltes auf dem Maloja Ende September haben wir es nochmals besucht, diesmal bei schönem Wetter – ein veritables Hammertal. Wir stiegen auf der Passhöhe ins Postauto, dessen Chauffeurin es geduldig die zahlreichen Serpentinen in den Talgrund hinunterlenkte. Als wir in Promontogno ankamen, lagen rund 1000 Höhenmeter hinter uns. Wir stiegen aus, und schon umfächelte uns die milde Luft des Südens.

Was mir beim letzten Mal weniger aufgefallen war, sah ich diesmal mit umso grösserer Begeisterung: Die Dörfer im Bergell haben eine eigene Architektur, eine Mischung aus Engadiner Robustheit und italienischer Liebe zu verspieltem Beiwerk (links im Bild ein Erker in Promontogno). „Man könnte im Bergell in jedem Dorf aus dem Postauto steigen und losfotografieren“, sagte mein Kumpel, der Pedestrian später. Ich kann nur sagen: Er hat recht. Herr T. und ich nahmen den Bus nach Soglio, wo wir 2013 bei düsterem Nebel genächtigt hatten. Diesmal sahen wir schon bei der Bushaltestelle die nur leicht umwölkten Bergspitzen im Süden, je nach Licht mal finstere Beisszacken, mal lichtumflorte Säulen, die hoch oben den Himmel trugen.

Wir wanderten durch den Wald, und Herr T. zeigte mir auf der gegenüberliegenden Talseite den Cengalo. Ja, er ist schön. Aber der Klimawandel hat ihn zum Monster gemacht. Weil es wärmer ist, hat sich der vereiste Nordhang aufgeweicht und ist instabil geworden. Am Mittwoch, dem 23. August 2017, um 09:30 Uhr, lösten sich dort oben 3 Millionen Kubikmeter Gestein und donnerten mit einer Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern hinunter ins Tal. Als gewaltige Schlammlawine verschütteten sie wenig später das Dorf Bondo, direkt neben Promontogno. Hier ein sehenswerter Beitrag des Schweizer Fernsehens über das Unglück, das acht Menschen das Leben kostete.

Das machte mir Eindruck, und ich blieb kurz stehen, dann wanderten wir weiter. Als wir im Bus zurück auf die Passhöhe sassen, hatte ich Kraft und Begeisterung für düsterere Tage getankt.

Der Gentleman im Buchladen

Heute Morgen in der Buchhandlung hatte ich ein unfassbar peinliches Erlebnis. Nun brauche ich Ratschläge: Wie kann ich das wieder gutmachen? Muss ich es wieder gutmachen?

Es begab sich so: Auf meinem Arbeitsweg gehe ich am sehr reizvollen Schaufenster der kleinen Buchhandlung alter ego vorbei. Vielleicht zwei Wochen lang stand dort ein Buch, das ich begehrte: „Die Zukunft des Sozialismus“ von Thomas Piketty. Nach tagelangem Hin- und Herüberlegen beschloss ich: Ich werde es vor unserer morgigen Abreise in die Ferien noch schnell kaufen. Ich war aber in Eile.

Ich hastete zur Buchhandlung, sah das Buch jedoch nicht mehr im Schaufenster. Drin räumte ein junger Mann gerade die Gestelle am Fenster leer, und der Piketty lag auf einem kleinen Stoss auf dem Tisch daneben. Ich seufzte erleichtert auf. Das Buch war noch da. „Kann ich kurz einen Blick hineinwerfen?“ fragte ich. Der junge Mann nickte. Nach wenigen Minuten entschied ich mich und sagte zum zweiten Buchhändler, der daneben stand: „Ich kaufe das.“

Da richtete der andere Buchhändler tadelnde Worte an mich. Dann begann ein aufgeregtes Gerede zwischen den beiden Buchhändlern, von dem ich nur wenige Satzfetzen verstand. Ich bin bekanntlich hochgradig schwerhörig, und sie trugen beide Masken. Ich sagte das auch, und dann ging alles sehr schnell und ich stand mit dem Buch vor der Kasse.

Während der Zahlungsvorgang ablief, setzten sich einzelne Satzfetzen in meinem Kopf zusammen, die ich beim Gespräch der beiden Herren mitbekommen hatte. Ich erkannte: Verdammt, der junge Mann mit dem Stoss auf dem Tisch war kein Buchhändler, sondern ein zweiter Kunde. Und: Er hatte das Buch selbst kaufen wollen. UND: Er war vor mir dagewesen! Er hätte also Anspruch auf das Buch gehabt, hatte aber offensichtlich zu meinen Gunsten verzichtet.

Ich weiss nicht mehr genau, ob ich sehr errötete oder sehr erbleichte. Jedenfalls sprach ich nochmals kurz mit dem jungen Mann, und er bestätigte mir, dass ich die Lage nun durchschaut hatte. Ich bedankte mich herzlich und huschte davon. Aber auf dem ganzen Nachhauseweg traktierte ich mich mit den übelsten Beschimpfungen. Ich weiss jetzt nur: Ich werde dem Buch sicher die Ehre erweisen, es schnell zu lesen. Ansonsten… hm.

Ü50 – die Vorteile

Neulich in der Stadt ging ein Mann an mir vorbei, der nach DKNY roch. Düfte lösen Erinnerungen aus, und so erwartete ich, dass ich mich sofort an der ewiggleichen, alten Gedankenkette würde entlanghangeln müssen. Dass sich mir die Frage stellen würde, warum DKNY mich zugleich anmacht und anwidert. Dass ich mich sodann an die verstörendste Liebesgeschichte meines Lebens erinnern würde – und dass ich wieder alle ihr zugehörigen Fragen über das Warum und Wozu und überhaupt würde durchdeklinieren müssen.

Aber nichts geschah. Das alles interessierte mich einfach nicht mehr.

Einsetzende Demenz? Nöö, wahrscheinlich nicht, dachte ich. Wahrscheinlich fühlt sich so die Permanenzphase an. So nennt Frank Bascombe seine Zeit als Mittfünfziger. Bascombe ist ein fiktiver Immobilienmakler, der über alles sehr gepflegt nachdenkt, während er mit dem Auto in New Jersey umherkurvt. Er ist der Held einer Romantrilogie von Richard Ford, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Nach Meinung von Bascombe kündigte die Permananenzphase „ein Ende des ständigen Werdens an, ein Ende der Überzeugung, dass das Leben mir ständig wunderbare Veränderungen bringen würde, auch wenn es dies gerade nicht tat. Sie kündigte einen Bruch mit der Vergangenheit an und verschaffte mir die Freiheit, nur undeutlich über sie nachzudenken.“*

Die Stelle habe ich mit Anfang 40 gelesen, und sie hat mir derart imponiert, dass sie mir in Erinnerung geblieben ist – was man vom Rest des Buches nicht behaupten kann. Ich hoffe, ich erreiche die Permanenzphase auch, wenn ich Ü50 bin, dachte ich damals. Ja, ich denke, ich habe sie erreicht. Ich denke nicht mehr jeden Tag darüber nach, wer ich bin und wer ich werden sollte, könnte oder dürfte. Ich bin, wer ich bin, und das ist jetzt erst mal ok so.

Ich wiege mich mit 56 nicht in der Illusion, dass ich unerschütterlich bin. Bei Frank Bascombe wurde die Permanenzphase jedenfalls ziemlich turbulent, daran erinnere ich mich auch noch. Aber im Moment habe ich einen Boden, auf dem ich stehe.

* Richard Ford: „The Lay of the Land“, London, Bloomsbury Paperback, 2006, S. 76. (Übersetzung von mir)

Piratin und Coronarebellen

Ein paar Stunden weg vom Corona-Gezeter ins Aargauer Kunstmuseum: „Le Captaine Cook“ von Niki de Saint Phalle im Aargauer Kunstmuseum

Am Bahnhof geht eine schwarz gekleidete Frau mit einer Totenkopf-Flagge an uns vorbei. Eine Piratin. „Verdammt“, denke ich, „Das ist sicher eine anders ‚Denkende‘! Wo demonstrieren die jetzt wieder?!“ In den letzten Tagen sehe ich bei jedem coronaskepsisverdächtigen Anblick rot. Seit Montag gilt in der Schweiz die Zertifikatspflicht: Ins Restaurant, ins Kino und ins Fitnesscenter dürfen wir nur noch mit einem Ausweis mit QR-Code. Er bestätigt, dass wir geimpft, genesen oder getestet sind. Seither ist die Stimmung im Land so feindselig, wie ich es noch nie erlebt habe. Im Geschäft darf ich allerhand Drohungen und düstere Prophezeiungen lesen, weil wir uns explizit pro Impfung äussern.

Am letzten Samstag demonstrierten in Luzern 1500 Massnahmengegner*innen illegal. Sie scheuten sich nicht, eine Hauptverkehrsader der Stadt lahmzulegen. Die Polizei tat: nichts. Hätten ein paar Klima-Aktivisten dasselbe getan – man riecht schon Tränengas, wenn man es sich vorzustellen versucht. Es gab auch eine nette, kleine Gegendemo. Wie lange geht es wohl, bis sie anfangen, sich zu prügeln? Manchmal denke ich leise an die Weimarer Republik. Auch, weil sich einer unserer SVP-Minister, Ueli Maurer, offen mit den anders „Denkenden“ verbrüdert, indem er sich mit einem Freiheitstrychler-Hemd ablichten lässt. Ich erspare Euch das Bild. Ich will kotzen, wenn ich es sehe. Die „Freiheitstrychler“ liefern mit ihren riesigen Glocken („Trychlen“) den Soundtrack zu den Coronaskeptiker-Demos. Wenn ein Minister ein Trychlerhemd trägt, dann zeigt er seinem eigenen Regierungskollegium offen den Stinkefinger.

Einer der Rädelsführer der Corona-Rebellen ist ein gewisser Nicolas A. Rimoldi (26), ein Libertärer. Aus seinen Zielen macht er keinen Hehl: „Wir fordern eine Erneuerung des politischen Systems der Schweiz“, schreibt er auf Twitter. Er könnte auch gleich sagen: „Wir machen aus dem Staat Gurkensalat.“ Ebenfalls auf Twitter verbrüdert er sich demonstrativ mit weit links (der Antifa) und weit rechts (der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz Auns). Und die Esoteriker*innen laufen ihm nach, weil sie Angst vor der Impfung haben. Ich frage mich, ob und wann sie mit ihren Astralhintern unsanft aufs Pflaster knallen werden.

Aber es gibt auch ermutigende Dinge hier – zum Beispiel die Inschrift links auf einer Luzerner Betonwand (die Signatur „161“ legt nahe, dass sie aus Antifa-Kreisen kommt). Und als die Piratin am Bahnhof weg war, sind wir nach Aarau ins Kunstmuseum gefahren. An der Pforte haben wir unser Impfzertifikat gezeigt. Danach waren wir drei Stunden lang an einem Ort, wo es nur fiktive Piraten gibt.

20 Jahre nach 9/11

Ein Bild, das wir hundertmal gesehen haben: Anschläge auf die Twin Towers in New York (Quelle: BBC).

Wo ich am 11. September 2001 war? Ach Gott, das habe ich so oft erzählt, und heute scheint es auch nicht mehr so wichtig. Die Anschläge jenes Tages kommen mir heute vor wie ein vorübergehender Einbruch des Horrors in einen fernen, strahlenden Septembertag. Eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was hier bei uns im Frühjahr 2020 mit Covid-19 kam. Klar, das ist ein subjektives Gefühl – 2001 sass ich hier in der sicheren Schweiz, in einer Redaktionsstube. Redaktionsstuben fühlen sich manchmal wie eine Festung an, auch wenn die Menschen drin in Aufruhr sind.

Hat 9/11 etwas an unserem Leben geändert? Ja, wahrscheinlich. Aber wir Ü50 wissen auch: Dinge geschehen, und zehn oder zwanzig Jahre später wissen wir nicht, wer wir wären, wenn alles anders gelaufen wäre. Für mich einschneidend waren die vielen Jahre Hetze gegen Muslime, die folgten. Ich habe bei der Arbeit schreckliche Dinge gelesen. Die Menschen hatten Angst vor dem Islamismus und droschen auf alle Muslime ein. Höhepunkt: eine Volksinitiative, die den Bau von Minaretten in der Schweiz verbieten wollte. Grundton: Wir lassen nicht zu, dass die Muslime uns überrennen. 2009 angenommen.

Doch irgendwann rückte das alles an den Rand meines Radars. Erst als die Amerikaner aus Afghanistan abzuziehen begannen, mussten wir lernen: Vorbei ist es nicht, war es nie. Wir werden sehen, was kommt.

Eine Frage, über die ich in diesen Tagen manchmal nachdenke: Als ich 1965 zur Welt kam, waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ziemlich genau 20 Jahre verstrichen. Eigentlich eine unglaublich kurze Zeit. Und doch wirkten alle, auch meine Grosseltern, in meiner Kindheit so unbelastet vom Krieg. War die Erinnerung an jene Zeit für sie auch nur ein vorübergehender Einbruch des Horrors in einen strahlenden Tag?

Was Hörende über schlecht Hörende wissen sollten

Drei Hörende und ein Schwerhöriger in der Beiz – Verbindung erschwert (Quelle: geklaute Skizze)
Manchmal sagt jemand ein paar Sätze über einen, die so wahr sind, dass man gerne einfach nur dasitzen und ein paar Tränen vergiessen möchte. Neulich zum Beispiel sass ich mit ein paar schwerhörigen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Wir diskutierten wieder mal darüber, wie schwierig es für unsereiner ist, in einer Kneipe mit einer Gruppe von Leuten Spass zu haben. Meistens verstehen wir so um die 30 Prozent eines Gesprächs. Das reicht einfach nirgends hin.

Da zeichnete einer, er ist Psychologe, die Skizze oben auf ein Stück Papier. Die blauen Mannsgöggeli* links sind die Hörenden, die rote Figur rechts die schwerhörige Person. „Nehmen wir an, Du bist mit drei gut Hörenden zusammen an einem lärmigen Ort. Du verstehst nicht viel von dem, was sie sagen. Nun hast Du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder ständig nachfragen, damit Du auch am Gespräch teilnehmen kannst. Aber dann denken die anderen: ‚Gott, ist das anstrengend!‘ Sie werden Dich vielleicht für eine Nervensäge halten und ein bisschen früher gehen, weil sie genug haben von der Situation. Oder Du kannst so tun, als würdest Du das Wesentliche verstehen, im richtigen Moment lachen wie die anderen oder den Kopf schütteln – als schwerhörige Person hast Du herausgefunden, wie das funktioniert, auch wenn Du keine Ahnung hast, wovon sie reden. Dann denken die anderen: ‚Och, sie ist doch ganz ok und, hey, so schlimm ist es doch gar nicht mit ihrer Schwerhörigkeit‘. Nach aussen ist dann alles paletti, aber in Dir drin sieht es himmeltraurig aus.“ Er zeichnet drei waagrechte, rote Linien zwischen die Mannsgöggeli und unterbricht sie gleich wieder. „Das ist die Verbindung zwischen den Menschen, die in einer solchen Situation eigentlich entstehen würde. Aber bei Dir ist das einfach nicht möglich, egal, was Du machst. Man nennt es das Paradox der Schwerhörigkeit.“

Wir anderen beeilen uns, das jetzt ein bisschen zu negativ zu finden. Wir wenden hastig ein, es gäbe 1000 Trickli, solche Situationen doch irgendwie zur Zufriedenheit aller zu meistern. Aber im Grunde erkennen wir uns alle in diesem roten Mannsgöggeli wieder. Das Paradox der Schwerhörigkeit ist übrigens auch gut erforscht, hier ein ganzer Vortrag zum Thema.

Für Euch Hörende ist das natürlich auch keine gute Nachricht – Ihr wisst jetzt eigentlich nur, dass die Dinge mit uns Schwerhörigen manchmal nicht so sind wie sie aussehen. Was kann man da machen? Ehrlich gesagt: Ich weiss es nicht. Aber falls jemandem ein paar Trickli einfallen – bitte (und gerne auch als Kommentar).

*Schweizerdeutsch für Spielfiguren oder abstrakte Zeichnungen von Menschen.

Ärgerliches Buch über Politik

In meinem Job erhalte ich innerhalb eines Jahres grob geschätzt um die 2500 politischen Botschaften und muss sie nach genauen Auswahlregeln weitervermitteln. Das ist an sich einfach, aber in letzter Zeit stellen sich bei mir immer heftigere Symptome einer Berufskrankheit ein: Der Anblick sehr vieler dieser Botschaften erfüllt mich mit Gereiztheit. Sie lösen bei mir eine Art allergische Reaktion aus. Das Buch „Political Framing“ von Elisabeth Wehling ist für mich zwingende Lektüre, dachte ich – vielleicht lerne ich beim Lesen besser verstehen, was da täglich auf mich einprasselt, wie es gemacht ist und wie ich es verdauen kann, ohne ständig Ausschläge auf der Seele zu haben.

Zuerst das Positive: Wehling erklärt anschaulich, was ein Frame ist. Sie führt gut nachvollziehbar aus, warum eine einzige politische Phrase komplexe Bilder und Empfindungen hervorruft. Sie macht den Unterschied zwischen einem Frame und einer Metapher ohne weiteres verständlich. Und sie sagt, warum wir uns mit dem Wort „Klimawerwärmung“ keinen Gefallen tun.

Dennoch löste bei mir die Lektüre selbst schon früh und immer wieder eine gewisse Gereiztheit aus. Zum ersten Mal an der Stelle, wo Wehling anhand einer amerikanischen Untersuchung beschreibt, wie die Wahl bestimmter sprachlicher Bilder die Meinung von Menschen beeinflusst. Bei der Untersuchung bekamen zwei Gruppen von Teilnehmenden je einen unterschiedlichen Text über die wachsende Kriminalität in der fiktiven Stadt Addison zu lesen. Der eine Text beschrieb die Kriminalität als sich ausbreitende Krankheit, der andere als Raubtier. Es zeigten sich signifikante Unterschiede, schreibt Wehling: „Jene, denen Kriminalität als Virus begreifbar gemacht worden war, setzten sich etwa für bessere Bildung und Abbau von Armut ein. Sie wollten das gesellschaftliche System … widerstandskräftiger … machen. Jene hingegen, denen Kriminalität als Raubtier begreifbar gemacht worden war, gaben an, mit mehr Polizeikraft gegen Kriminelle vorgehen, sie einfangen und zu langen Gefängnisstrafen verurteilen zu wollen.“ (S. 50)

Frau Frogg kratzte sich am Kopf und dachte: „Wie naiv sind denn diese Studienteilnehmer, dass sie ihr Weltbild von einer einzigen Metapher in einem einzigen Textchen formen lassen?!“ Nachgeschaut und festgestellt: Es handelt sich um Studierende zweier Universitäten, also junge Leute.

Da habe ich es mit einer viel hartgesotteneren und Klientel zu tun – ich sehe praktisch nur entweder ältere Damen und Herren, bei denen das Wort „Kriminalität“ augenblicklich, knallhart und in jedem Kontext den „Law and Order“-Reflex auslöst: „Kriminalität? Da braucht es Polizei und drakonische Strafen, fertig Schluss!“ Oder dann eine kleinere Klientel ab Mitte links, die Raubtier-Metaphern für Kriminelle (und Virusmetaphern sowieso) etwas unethisch finden und sowieso für Prävention und derlei mehr plädieren würde. Die Verfechterinnen beider Positionen stehen einander unversöhnlich gegenüber, jedenfalls hierzulande, und mittlerweile enthalten geschätzte 80 Prozent der Botschaften, die ich erhalte, dieses ermüdende, verbissene rechts/links-Framing. Vom Autofahren bis zum Zierpflanzendünger (und Covid-19 sowieso) – alles gerät in den Sog dieses einen, grossen Gegensatzes. Das ist es, was meine Allergie auslöst. Wenigstens das weiss ich jetzt. Ein Buch über politisches Framing, das sich damit so oberflächlich befasst wie Wehling, zielt im Grunde am Wesentlichen vorbei.

Ätzende Kritik an „Nomadland“

Frances McDormand bekam für ihre Rolle in „Nomadland“ einen Oscar als beste Schauspielerin (Quelle: variety.com)
„Nomadland“ war einer der grossen Oscar-Renner des Jahres 2021. Neben Frances McDormand bekam auch Regisseurin Chloé Zhao eine Auszeichnung. Es geht im Film um ältere Leute in den USA, denen das Geld nicht mehr zum Wohnen und sowieso nicht für den Ruhestand reicht. Sie streifen mit Campern durchs Land, von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. Kaja und ich waren uns einig: Man muss ihn gesehen haben – und begaben uns gestern Abend ins Open Air Kino.

Auf dem mitternächtlichen Spaziergang zurück in die Stadt dann unser übliches Spielchen. „Hat er Dir gefallen?“ fragt sie. Ich: „Ja, ganz gut. Die Würde und Unerschrockenheit dieser vom Leben verarschten Leute… .“

Kaja lässt mich kaum ausreden, sie muss ihrem Ärger Luft machen. „Ich mochte schon den letzten Film von Chloé Zhao überhaupt nicht, ‚The Rider‘, erinnerst Du Dich?!“ schimpft sie, „Diese endlosen Einstellungen von traumhaft schönen Landschaften! Das romantisiert doch die missliche Lage dieser Menschen! Und von wegen Würde und Unerschrockenheit! Bestimmt sind diese Leute oft unglücklich und entnervt! Ich meine: Wenn Du so lebst, dann verlierst Du wahrscheinlich zehn oder fünfzehn Jahre Lebenserwartung, einfach, weil es so stressig ist. Und diese Leute arbeiten bei Amazon! Da müsste man doch genauer erfahren, was das für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse sind!“

Man muss es Kaja lassen, sie hat recht. Und gleichzeitig beharre ich auf meiner Sichtweise: Ich finde es tröstlich, vielleicht auch für die Betroffenen selbst, dass der Film auch eine bejahende Wahrnehmung dieses Lebensstils zulässt. Schicksal oder Flucht in eine prekäre Art von Autonomie? Der Streifen lässt vieles offen, aber er hat auch entlarvende Szenen. Zum Beispiel da, wo die Heldin Fern ihre Schwester besucht, deren Mann im Immobilienbusiness reich geworden ist. Was für eine Heuchelei! Ich finde, man kann Kajas und meine Sichtweisen mal einfach so nebeneinander stehenlassen.

Trotzdem, ich habe jetzt ein bisschen Material zum Film gesammelt. Ich finde es wissenswert, dass er auf einem Buch der Autorin Jessica Bruder basiert (hier mehr darüber). Dort gibt es Informationen zu den Workampers, die im Film nicht explizit erwähnt sind.

Und zu Amazon: Der Versandgigant heuert in den USA jährlich in den drei Monaten vor Weihnachten um die 1400 Camper-Nomaden an, eine beschönigend Camperforce genannte Truppe. Diese temporären Angestellten bekommen einen Abstellplatz für ihren Wagen und arbeiten zu einem tiefen Stundenlohn in Zwölfstundenschichten. Und, im Zusammenhang mit Amazon auch von Interesse: Im Amazon-Hauptsitz Seattle stiegen die Mieten wegen Amazon ins Unermessliche – und damit wuchs auch die Obdachlosigkeit. Die Stadt Seattle wollte diesem Elend ein Ende bereiten und die Unternehmenssteuer erhöhen, um mehr Häuser zu bauen. Da drohten die Amazon-Chef*innen, den Firmensitz zu verlegen – und bauten statt dessen Unterkünfte für ihre Angestellten. Mit mässigen Erfolg, wie man hier nachlesen kann. Letzteres weiss ich schon seit einer Weile und kaufe deshalb nicht mehr bei Amazon ein.