I Got Life, Mother!

Seit Anfang Woche arbeite ich wieder im Büro. Das ist schwieriger als ich gedacht habe. Ich fühle mich wie abgeschnitten von den anderen, die ich zum Teil monatelang nicht gesehen habe. Ein Neuanfang, auf den niemand gewartet hat.

Aber gestern Mittag ging ich mit dem Herrn Grossstadtrat zu Mittag essen. Wir speisten im Bistro an der Tagblattstrasse. Er ist ein langjähriger Kunde, und mit den Jahren sind unsere Treffen ungeschäftlicher und unsere Gespräche entspannter geworden.  Hinter uns sassen zwei pensionierte Herren Stadträte, die ich früher interviewt habe, und ihre ebenfalls pensionierten Chefbeamten. Niemand kann so viel Heiterkeit verbreiten wie Politiker, die ihre Arbeit getan haben und sich endlich in Ruhe ein Gläschen gönnen dürfen. Es ist sogar für die Leute am Nebentisch ansteckend.

Später traten der Herr Grossstadtrat und ich auf die Strasse, die Bäume am Strassenrand waren gelb, der Himmel strahlte. Als wir uns verabschiedeten, parkierte gerade eine junge Frau ihr Fahrrad beim Veloständer nebenan. Es war die Frau SP-Regierungsratskandidatin, nach der sich der Herr Grossstadtrat verstohlen umblickte.

Ich blickte in den Himmel und fühlte mich wie eben geboren. In meinem Kopf erschallte plötzlich ein Song, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe. Aber ich hörte ihn klar, jede Modulation in der Stimme des Sängers, und ich konnte erstaunlicherweise weite Strecken des Textes auswendig: „I got life, mother; I got laughs, sister; I got freedom, brother; I got good times, man.

I got crazy ways, daughter; I got million dollar charm, cousin; I got headaches and toothaches; And bad times too like you!

I got my hair; I got my head; I got my brains; … I got my ass; I got my arms; I got my hands; I got my fingers; I got my legs; I got my feet; I got my toes; I got my liver; I got my blood;  got my guts; got my muscles I got life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)“
Hier und hier alles darüber.

Wenn ein Tisch dagewesen wäre, hätte ich glatt darauf zu tanzen begonnen.

 

Dostojewski lesen

Eines Sonntags im Juli  traf ich bei der nachbarschaftlichen Kehrichtsammelstelle den Doppelbuddha. Damals war ich noch kahl, hatte aber vergessen, mir einen Hut aufzusetzen. Ich hatte nur ein Käppi aus Strumpfstoff an, wie man es unter Perücken trägt.

„Meine Güte, hast Du Chemo?!“ rief der Doppelbuddha aus. Er tat dies derart spontan, dass ich sehr berührt war. Ich bejahte, wir redeten, und irgendwann sagte ich:  „Ach, weisst Du, das Gute daran ist: Man hat viel Zeit zum Lesen. Ich nehme mir gerade so richtig dicke Wälzer vor.“ Er sagte: „Na, dann könntest Du ja mal Dostojewski lesen. Ich leihe Dir ‚Der Idiot‘ aus, wenn Du willst.“ Weil er so nett gewesen war, sagte ich nach einigem Zögern: „Ok, sehr gerne! Wenn Du ihn vorbeibringst, dann komm doch gleich mit Frau Doppelbuddha zum Apero!“ So machten wir es und hatten einen sehr vergnüglichen Abend.

Dann begann ich, den Roman zu lesen, 950 Seiten. Ein Stück Weltliteratur, dem – so hatte ich im Literaturstudium gelernt – mit grösster Hochachtung zu begegnen ist. Ich befürchtete gepflegte Langeweile, aber „Der Idiot“ elektrisierte mich am Anfang geradezu. Die zwei Fremden, die im Zug nach St. Petersburg Bekanntschaft schliessen!  Die mysteriöse Schönheit Nastasja Filippowna! Als Teenager von ihrem Adoptivvater sexuell missbraucht, wird sie von der Gesellschaft als gefallene Frau behandelt. Dass man ihren Stiefvater ins Gefängnis stecken sollte, kommt niemandem in den Sinn! Was für eine Welt!

Die zwei Männer aus dem Zug verfallen Nastasja Filippovna schnell mit Haut und Haaren: der reiche Kaufmannssohn Rogoschin sowie der als Idiot bezeichnete Protagonist des Romans, der junge Fürst Myschkin. Myschkin ist Epileptiker und gerade von einem jahrelangen Kuraufenthalt in den Schweizer Bergen zurückgekehrt. Er ist ein herzensguter, aber in gesellschaftlichen Dingen total unbeholfener Jüngling.

Es ist kein familientauglicher Gesellschaftsroman, wie wir sie sonst aus dem 19. Jahrhundert kennen. Myschkin denkt viel über Grausamkeit, Armut und Tod nach. Auch das packte mich. Ich hatte mich selbst mit Fragen zu beschäftigen, die man nicht so leicht familientauglich abhandeln kann.

Am 31. August ging ich mit meinem alten Freund, dem Slawisten und Zweifler Chäppeli, spazieren. Wir diskutierten zuerst ein bisschen über den Zustand der Welt, den Krieg und all das. Dann erzählte ich ihm freudig von meiner Dostojewski-Lektüre und fragte ihn, was er von dem Roman gehalten habe. Er zögerte, wie es seine Art ist und sagte dann: „Nun ja, Dostojewski sollte man ja jetzt auch nicht mehr lesen.“

Es war die Zeit, als alle Welt über „Der junge Winnetou“ und andere Arten kultureller Aneignung diskutierte, und ich dachte: „Oh nein, nicht noch mehr Zensur! Man kann doch einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nicht für die Verbrechen des 21. schuldig sprechen!“ Aber Chäppelis Bemerkung sollte meinen Blick auf das Buch erheblich verändern.

 

Stromfresser Staubsauger

Heute Morgen loteten Herr T. und ich die Grenzen unserer Stromspar-Manie aus. Herr T. testete mit seinem Messgerät den Stromverbrauch des Staubsaugers. Sein „Du meine Güte!“ übertönte das Sausen des Motors im himmelblauen Gehäuse. Es stellte sich heraus: Das Ding verbraucht 3300 Watt! „Das ist ein Grund, weniger staubzusaugen“, meinte er. Er hasst das Geräusch von Staubsaugern. Ich bringe unser Teil meist zum Einsatz, wenn er gerade einkaufen geht. „Nein, nein, nein“, sagte ich. Wahrlich, ich bin als Putzfrau Minimalistin aus Überzeugung – schon daher können wir bei der Haushalts-Hygiene keine weiteren Abstriche machen.

Letzte Woche haben wir erschreckende Geschichten über die Steigerung der Strom- und Gaspreise in Deutschland gehört. Hierzulande fallen die Nachrichten zu diesen Themen etwas gemässigter aus – die Teuerung beim Strom liegt in einigen wenigen Gemeinden bei maximal 230 Prozent, in anderen sind es 2 Prozent oder weniger. Es hat auch damit zu tun, dass bei uns der Strommarkt nicht vollständig liberalisiert ist wie in den Staaten der EU. Wir haben das 2002 bei einer Volksabstimmung verhindert. Für Ottilia Normalverbraucherin gibt es bei uns immer noch in jedem Dorf höchstens drei, meistens nur einen Stromanbieter. Unter anderem wegen dieser fehlenden Strommarkt-Liberalisierung hatten wir dann aber Unstimmigkeiten mit der EU, die zum Abbruch der Verhandlungen über einen Rahmenvertrag geführt haben. Zum ersten Mal bin ich gerade froh, dass wir  den nicht haben.

 

Wie wir Strom sparen

Ich muss hier vorausschicken, dass die Strompreise in unserer Stadt lediglich um rund 33 Prozent steigen werden. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird uns das nicht in existenzielle Schwierigkeiten bringen. Unser Versuch, weniger Strom zu verbrauchen, ist daher eher ein Beitrag an das Wohlergehen der Allgemeinheit: Damit „der Pfuus“ für alle länger reicht. Damit wir weniger das Gefühl haben, in dieser Krise ohnmächtig dazusitzen. Und das tun wir:

  • Schon seit August spare ich täglich früh morgens beim Zeitungsholen eine Liftfahrt aus dem fünften Stock nach unten ein. Aufwärts klappt’s noch nicht so mit dem zu Fuss gehen. Einmal täglich keuche stur treppauf, seit wir hier wohnen. Aber für mehr bin ich noch zu faul.
  • Ich separiere meine 30-Grad-Wäsche nicht mehr nach hellen, roten und blau/schwarzen Kleidungsstücken, sondern wasche kunterbunt alles miteinander. Meist nehme ich auch noch Sachen von Herrn T. dazu, damit die Trommel voll wird. Das habe ich früher nicht gemacht, wir hatten einen emanzipierten Haushalt, Herr T. machte seine Wäsche selbst. Ich füllte die Trommeln oft nur zu einem Drittel. Mit dem neuen Regime haben wir die verbrauchte Waschenergie wahrscheinlich um ungefähr ein Drittel reduziert. Farbunfälle gab’s bis jetzt keine.
  • Ich stelle alle meine Computer abends ab, und die Steckerleisten ebenfalls. Herr T. macht das auch beim Fernseher.
  • Wenn ich sehe, dass eine Lampe brennt, die wir gerade nicht brauchen, schalte ich sie sofort aus. Ich habe von Leuten gehört, die mit solchen Massnahmen ihren Verbrauch halbiert haben.
  • Ich habe einfach mal ein bisschen drauflos gespart. Herr T. war gründlicher und hat ein Gerät gekauft, mit dem er den Verbrauch eines jeden einzelnen Teils messen kann, das wir in die Dose stecken. Erfreulich: Mein Homeoffice verbraucht wenig Strom – lediglich um die 60 Watt, was gleich viel ist wie Grossmutters Lampenbirnen anno dazumal – und das mit zwei Monitoren.  Extrem sparsam sind die Lampenbirnen der neuesten Generation, sie verbrennen gerade noch 4 Watt pro Stück. Aber die unangenehme Überraschung: Die Design-Lampe in unserer Küche (ein Herzstück unseres Haushalts und täglich morgens und abends im Gebrauch) frisst nicht weniger als 122 Watt. Wir versuchen jetzt, sie nicht einfach  brennen zu lassen wie früher.

Ich dachte, solcherlei Sparübungen würden ein bisschen einschenken. Ich dachte, viele würden dasselbe tun wie wir. Aber am 19. September gab’s vom Bund Zahlen über den Stromverbrauch der Schweiz im August 2022: Er ist im Vergleich zum Vorjahr lediglich um 1 Prozent gesunken.

Kalter Krieg?

Es sieht so ganz so aus, was würde der Westen nun gar kein Gas mehr aus Russland bekommen. Die Begründung der Gazprom sieht vorgeschoben aus. Ich meine: So ein Ölleck müsste doch reparierbar sein. Ich vermute, ist sehr viel einfacher: Russland behandelt den Westen so, wie man im Geschäftsleben einen Feind behandelt, dem man nicht einmal mehr die Wahrheit anvertrauen will: Man tischt ihm faule Ausreden auf.

Ich will damit keinesfalls sagen, dass ich das russische Vorgehen gutheisse. Ich will damit nur sagen: Wir sollten uns an die Vorstellung gewöhnen, dass wir einen mächtigen und gefährlichen Feind haben. Wir sollten uns darauf einstellen, dass der Ausdruck „Kalter Krieg“ im kommenden Winter ein ganz neue Bedeutung bekommen könnte.

Ein beglückendes Erlebnis

Das Klimaspuren-T-Shirt von der grossen Wanderung 2021, das am Wochenende viele trugen.
Gestern habe ich habe ich darüber berichtet, wie ich beinahe Einsiedlerin geworden wäre. Ich muss jedoch unbedingt hinzufügen, dass die Klimagespräche in Flüeli-Ranft (wegen denen ich überhaupt dort oben war) für mich schliesslich eine überraschend glückliche Wendung nahmen. Es ist ja so: Die Gespräche waren ein grosses Stelldichein der Klimapsuren-WandererInnen von 2021. Das T-Shirt zu diesem Marsch zeigt lauter kleine Punkte, die man durchaus als Fussspuren interpretieren kann. Dass einige von ihnen am vergangenen Wochenende durch meinen unwegsamen Gehörgang und damit auch direkt zu meinem Herzen führten, erfüllt mich mit grosses Dankbarkeit.

Der erste, der mich erreichte, war Walter, ein älterer Herr, beim Mittagessen. Er wusste bereits, dass ich in einem vollen Speisesaal nur schwer ansprechbar bin. Trotzdem sagte er nach dem ersten Gang mit einem väterlich-pfiffigen Lächeln: „So, nun gib mir mal Deinen Salatteller mit, damit …“, den Rest verstand ich nicht. Doch mir klar, dass er die Ablage für gebrauchtes Geschirr gefunden haben musste, nach der ich vergeblich Ausschau gehalten hatte. Mein Ärmel hing deshalb beinahe in das zur Seite gestellte Geschirrstück mit Sauce. Walter trug unsere Salatteller weg, und als er zurückkam fasste ich ich Zutrauen zu ihm und seinem Bündnerdialekt. Uns gelang dann tatsächlich eine kleine Konversation, er hat sich bestimmt ganz schön angestrengt. Er berichtete von einer eigenhändig lancierten Petition zu Handen des Churer Gemeinderates, mit der er erfolglos versucht hatte, den Bau einer neuen Strasse zu verhindern. Man beschied ihm, die breite Öffentlichkeit sei bei dieser Sache gar nicht mitspracheberechtigt. So plauderten wir ein wenig über politische Rechte und die Demokratie. Und über das Paralleluniversum, in dem Klimakämpfer leben.

Referent Dominik Siegrist fragte extra bei mir nach, ob er sein Referat zum Thema „Fallen uns die Berge auf den Kopf?“ besser mit oder ohne Mikrofon halten solle. „Ohne“, sagte ich, „einfach deutlich sprechen reicht.“ Und wirklich: Ich habe fast alles verstanden, ausserdem war da eine hilfreiche Power Point-Präsentation. Klimaschutz plus Inklusion, nennt man das wohl.

Später, beim Essen, kamen Annette und Harry vorbei, die ich schon ein paar Jährchen kenne, und wir plauderten ein bisschen unter freiem Himmel, unter anderem übers Zügeln.

Dazu, dass all dies überhaupt möglich war, hat Herr T. viel beigetragen. Ich unterschätze seinen Einsatz manchmal ein bisschen, und wenn ich unleidlich werde, ist er immer der Betroffene. Aber dafür, dass da oben schliesslich doch einiges möglich war, war es sicher der Wegbereiter.

Aperol Spritz intravenös

Chemotherapie sieht irgendwie ganz entspannt aus: Man sitzt in einem Lehnstuhl und von oben werden einem verschiedene Flüssigkeiten aus Beuteln in die Venen geträufelt. Ich bekomme Epirubicin und Cyclophosphamid und, nein, ich habe beide Medikamente nicht gegoogelt. Ich google nur das Nötigste, das ist eine Art Selbstschutz vor zu viel Krankheit. Eine der Flüssigkeiten ist orange. „Die Farbe von Aperol Spritz“, sagte Herr T., der neben mir auf der Fensterbank sitzt und zuschaut. Aperol Spritz trinken wir jeweils freitags, ein fröhliches Ritual zum Wochenabschluss. Im Moment geht das nicht, im besten Fall genehmigen wir uns ein Cüpli.

Herr T. hilft, wo er kann, meist ohne zu motzen. Er kommt mit mir mit ins Spital, wenn es nötig ist – fast immer. Er hilft mir, die Ärztinnen und Ärzte zu verstehen. Aber ich beginne mich zu fragen, ob ein Mann eine Frau lieben kann, die ihren Aperol Spritz schon am Mittwoch und intravenös verabreicht bekommt.

Ich bin viel zu Hause und arbeite im Homeoffice. Meinem Chef, der mir das verdammte Schneckenhaus aufgesetzt hat, bin ich jetzt dankbar. Es läuft recht gut hier. Bei der Arbeit muss ich meine Kräfte vorsichtig einteilen. Meist fühle ich mich tiptop, aber manchmal kommt die Müdigkeit wie eine Wand. Wenn schwierige Kunden sich melden oder ein mühsamer Vorgesetzter, wird mir kurz übel. Der grösste Teil meiner Energie geht in die Büroarbeit, deshalb schreibe ich hier so wenig. Noch habe ich meine Haare, es fallen mir nur auffallend viele Augenbrauen aus. Am Nachmittag kommen oft Freunde vorbei, und wir haben Spass.

Das verdammte Schneckenhaus

Im Moment arbeite ich wieder fast so viel wie früher. Es hat bei der Onkologie einen Kurswechsel gegeben. Erst morgen werde ich erfahren, ob ich nun wirklich eine Chemotherapie machen sollte. Die Ärzte wollten weitere Gewebeproben machen. Die Resultate könnten zeigen, dass eine Hormontherapie reicht, um dem Krebs den Rest zu geben. Arbeiten tut mir gut in solchen Zeiten der Ungewissheit – manchmal fühlt sich beim Arbeiten viele Stunden lang alles vollkommen normal an, wie früher. Alle Ängste und all diese lästigen Gedanken, die sowieso nichts bringen, sind wie verpackt und weggeräumt.

Mein Wanderrucksack, 50 Zentimeter hoch, mit dem ich nun mein ganzes Büro täglich herumtrage. (Bild: ochsnersport.ch)
Ich ermüde nur schneller als vor der OP. Und dass ich neuerdings auch noch das verdammte Schneckenhäuschen herumtragen muss, empfinde ich als brandschwarze Zumutung. Beim verdammten Schneckenhäuschen handelt es sich um meinen Wanderrucksack, in dem ich mein Büro überall bei mir habe. Eigentlich ist mein Büro nur ein einziger, neuer Laptop, dazu kommt das Portmonee und der Schirm. Aber das verdammte Schneckenhäuschen kommt mir tonnenschwer vor, die Riemen des Rucksacks wie eine Zwangsjacke.

Ich gehe ja oft zu Fuss zur Arbeit, 40 Minuten von Tür zu Tür. So schütze ich mich einerseits vor Covid-19 – wir werden ja hierzulande hemmungslos durchseucht, auch die Maskenpflicht im Bus ist schon vor Wochen gefallen. Ganz bestimmt will ich eine allfällige Chemotherapie nicht mit aktivem Coronavirus antreten. Andererseits tue ich auf dem Arbeitsweg allerhand Dinge, die das Leben lebenswert machen: Blitzschnell das Handy zücken und fotografieren zum Beispiel; dabei auch mal in die Knie gehen; Umwege erproben; Hügel ersteigen. Alles fast nicht leistbar mit Schneckenhaus.

Eigentlich ist es merkwürdig, dass mir das Ding so verdammt sperrig vorkommt. Der Laptop ist lediglich 1,5 Kilo schwer, und beim Wandern mache ich ja auch Fotos. Es liegt vielleicht daran, dass das Gewicht auf meinen Rücken noch an meinen Narben zerrt. Oder daran, dass der schicke Laptop mit einer unschönen Diskussion mit meinem Chef kam. Kaum hatte ich ihm meine gesundheitlichen Probleme auseinandergesetzt, sagte er: „Du bekommst jetzt endlich auch so einen Laptop, wie alle anderen, denn Du musst jetzt auch im Homeoffice arbeiten können.“ Ich würde weiterhin lieber täglich ins Büro pilgern, und zwar unbeschwert. Während der Pandemie hat man das auch von mir verlangt. Wahrscheinlich hat der Chef recht, schon wegen der Sache mit Covid-19 im Bus. Aber die Art, wie das alles gelaufen ist, erfüllt mich trotzdem mit vernehmlichem Groll.

Das alles kann jedoch nicht hinreichend erklären, weshalb ich beim Herumtragen des Schneckenhäuschens so elend müde werde, dass ich manchmal schon noch einer halben Stunde Gehen kaum noch das Gleichgewicht halten kann. Ich frage mich, ob ich in dem verdammten Rucksack, nur unzureichend verpackt, auch alle diese Ängste und Gedanken herumschleppe, mit denen sich zu befassen sowieso nichts bringt.

Drei Sätze

Der Satz, der meinen Atem stocken liess: „Doch, Sie werden Ihre Haare verlieren.“ (Breast Care Nurse H., am Mittwoch, 13. April).

Der Satz, der mich mit namenlosem Entsetzen erfüllte: „Gestern kam unser Nachbar vorbei, und dann haben wir zusammen die Atomschutzbunker in unserem Haus inspiziert.“ (Mein Bruder, Andreas F., Ökonomieprofessor und Leutnant ad., am Ostersonntag, 17. April).

Der Satz, der mich frisch und fröhlich machte: „Es ist alles gut verheilt, jetzt dürfen Sie ihren Arm wieder über die Schulter heben.“ (Chirurgin B., am Mittwoch, 13. April).

Das Zimmer mit dem Samowar

Die Frauenklinik ist ein Bau aus den Neunzigerjahren mit kühlem Design und sterilen Materialien. Sicherlich könnte man das ganze, dreistöckige Haus in einem Tag von Grund auf desinfizieren. Nur das Wartezimmer der Mammografie ist anders. Hier ruht man auf Sitzpolstern aus Wolle, es ist ein Wohlfühlzimmer wie auch Psychotherapeutinnen sie haben. Ein Zimmer, in dem Ängste in weichen Materialien ihre Schärfe verlieren. Auf einem Tischchen steht ein Samowar mit Teegläsern. Das lässt an warmherziges Beisammensein denken, aber mir ruft es meine verlorenen Freunde in Russland in Erinnerung. Ich habe viele Jahre keinen Kontakt mit ihnen gehabt. Ich weiss nicht, wo sie jetzt stehen. Ich möchte sie per E-Mail fragen und weiss nicht, wie ich anfangen soll.

Ängste habe ich sonst keine. Das hier ist eine reine Routine-Untersuchung, bei mir ist alles in Ordnung. Ich lasse mich abholen, in die Röntgenmaschine spannen und verrenke mich geduldig. Dann will ich weggehen und mich wieder anziehen, da ruft die Röntgenassistentin mich zurück. Sie spannt meine Brüste nochmals in die Maschine, diesmal tut es etwas weh.

„Machen Sie das immer?“ frage ich.

„Nur, wenn wir eine kleine Verdickung feststellen“, sagt sie. Ich bin nicht sicher, was eine „kleine Verdickung“ ist, aber ihr Ton ist derart beschwichtigend, dass mir sofort klar ist: Ich sollte alarmiert sein.

Im nächsten Zimmer macht eine Ärztin einen Ultraschall. Auch sie spricht von „einer Verdickung“, aber was es genau ist…, „das werden wir herausfinden“, sagt sie. „Jetzt gehen Sie mal nach draussen und machen einen Termin für eine Stanzbiopsie aus. Die werden wir analysieren, dann wissen wir es.“ Eine Stanzbiopsie. Die Sprache der Medizin! Beinahe beginne ich zu lachen. Ich bin doch kein Stück Leder!

Versteht mich bitte richtig, ich will niemanden kritisieren, diese Frauen machen ihren Job, sind freundlich und wollen mein Bestes, und wahrscheinlich rechnen sie damit, dass ich mich aufrege, damit könnten sie umgehen. Aber ich rege mich nicht auf, ich meine: Nicht weit von hier ist Krieg, und darüber rege ich mich so sehr auf, ich weiss gar nicht, wo ich noch Platz habe für Aufregung über eine „Verdickung“ in der Brust.

Später am Abend spüre ich dann „die Verdickung“ oder meine jedenfalls, sie zu spüren. Sie fühlt sich an wie das, was meine Mutter gehabt hat. Man nannte es damals „einen Knoten“, und es war Krebs. Das war vor 30 Jahren, dieses Jahr wird sie 80 und ist bei guter Gesundheit.

Die Stanzbiopsie ist gleich am nächsten Tag, aber dann muss ich vier Tage warten.

Als mein Handy klingelt, sitze ich im Büro, auf meinem Schirm flimmern Bilderfluten aus der Ukraine und meine Kunden dreschen verbal aufeinander ein – hier die Putin-Versteher, da alle anderen, die Trennung verläuft wie meistens, ziemlich genau am linken Rand der SVP. In Europa ist Krieg, aber Einigkeit in der Schweiz? Vergiss es. Mein Handy klingelt sonst nie, deshalb weiss ich, dass es die Ärztin ist und frage mich, ob ich jetzt lieber im Samowar-Zimmer mit ihr sprechen möchte. Wahrscheinlich nicht. Ich will es einfach wissen.

Ihre Stimme dringt durch den Tinnitus: „Sie haben Brustkrebs“, sagt sie, und dann nochmals, sie weiss, dass ich schlecht höre. „Sie haben Brustkrebs.“

Ich stehe da und sage: „Ja, ich habe sie gehört. Ich habe verstanden.“

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