Klappe halten

Hiermit künde ich an, dass ich nun mal eine Weile die Klappe halten werde. Ich meine: Es gibt im Moment rein gar nichts zu sagen. Soll ich etwa Entsetzen über das bekunden, was Putin mit der ukrainischen Bevölkerung macht? Natürlich bin entsetzt, aber diese Entsetzensbekundungen sind doch längst zum Feigenblatt der Putin-Versteher geworden. Sobald sich diese feinen Damen und Herren ihre Entsetzensbekundung gut sichtbar montiert haben, entblössen sie sich rundum mit „Ja, aber…“-Sätzen. Also: Ich trage lieber Kleider und bin einfach froh, dass die Schweiz jetzt unbürokratisch Flüchtlinge aufnehmen will.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas über den Krieg schreiben? Närrisch, wir haben ja alle keine Ahnung.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas anderes schreiben? Idiotisch.

Demonstrieren? Das mag uns guttun. Aber Putin lacht.

Der Journalist

Zwischen 2014 und ungefähr 2017 habe ich versucht, einen Roman über den Niedergang des Zeitungsbranche zu schreiben. Ich hielt das für eine gute Sache, die Zeitungen stehen ja exemplarisch für ganze von der Digitalisierung weggefegte Geschäftszweige. Ich habe die Geschichte nie fertiggeschrieben – dazu war ich viel zu verliebt in meine Protagonisten, und so wurde der Stoff uferlos. Aber selbstverständlich musste ich den Roman von Artur Kilian Vogel lesen. Denn Vogel erzählt die Geschichte von Pirmin Strittmatter, einem Chefredaktor, dessen Zeitung wegfusioniert wird. Mal schauen, wie Vogel das macht, dachte ich.

Da sitzt Strittmatter also am Tag vor dem Erscheinen der letzten Zeitung und beobachtet vom Chefsessel aus das grosse Lichterlöschen auf seiner Redaktion. Seine nun entlassenen Leute kommen vorbei, um sich zu verabschieden: der ehrgeizige Katz, der auf einer Verwaltungsstelle seine lukrative Rettung gefunden hat. Der hölzerne Herbrand, Chef der Lokalredaktion, den Strittmatter nie gemocht hat. Und die talentierte und attraktive Patty, der er gerne seinen Chefposten vermacht hätte. Er beschreibt dies alles so anschaulich, dass es mir vorkam, als wäre Vogel bei jener Zeitungsfusion in den neunziger Jahren dabeigewesen, die auch ich erlebt habe. Das war er mit Sicherheit nicht. Aber Vogel war selbst Journalist, sogar Chefredaktor bei beim Berner Bund, der heute nur noch als Schatten seiner selbst existiert. Vogel skizziert seine Figuren und die ökonomischen Verhältnisse sachlich und mit einer packenden, ungekünstelten Sprache. Viel besser als ich selbst es gekonnt hätte.

Strittmatter trinkt Wein und lässt sein eigenes Leben Revue passieren, besonders seine gescheiterte Liebe mit der fernen Sidonie (mit angetrunkenem Selbstmitleid) und seine Journalisten-Karriere (mit nostalgischer Selbstironie). Da gibt es zahlreiche lebhafte Skizzen eines Métiers, und manchmal dachte ich: Ja, genauso ist es gewesen. So war die Welt wie wir Print-Journalistinnen und -Journalisten sie gesehen haben.

An einer einzigen Stelle protestierte ich innerlich. Strittmatter denkt auf Seite 144: „Wahrscheinlich werden Polizisten mit den Jahren zynisch; anders wäre gar nicht zu ertragen, was sie zu sehen bekommen. Bei Journalisten ist es ähnlich.“ Das ist ein unter Journalisten verbreiteter Gemeinplatz, den ich früher auch gerne gebraucht habe. Aber dann begann ich einer meiner Deutschschülerinnen bei ihrer Ausbildung in der Altenpflege zu helfen. Damals bekam ich eine Ahnung davon, wie es ist, wenn man täglich mit Menschen zu tun hat und das schwer zu Ertragendes zusammen mit ihnen aushalten muss: Inkontinenz, Dekubitus, Depression, Tod. Altenpflegerinnen und -pfleger haben jedes Recht, zynisch zu sein. Journalistinnen und Journalisten meiner Generation sind dagegen papierene Geschöpfe. Unser Gelächter ergibt sich aus der schwindelerregenden Flut von Agenturmeldungen und Medienmitteilungen, die täglich auf uns einprasseln; ein ständiges Aufeinandertreffen von reiner Idiotie und dem Tod von Tausenden, aber alles aus sicherer Distanz. Wir behalten unseren Zynismus besser für uns.

Nun, Strittmatter ist ein anderes Kaliber, er kennt den Tod nicht nur aus Agenturmeldungen. Als Reporter hat er den Krieg im Nahen Osten gesehen und andere Katastrophen auf fernen Erdteilen – ungefähr die Hälfte des Buches ist seinen Erlebnissen dort gewidmet. Es sind nicht zuletzt die Erinnerung an diese Katastrophen, die verhindern, dass der 63-Jährige sich über seine vorzeitige Pensionierung auch ein wenig freuen kann. Ich muss gestehen: Ich verzeihe es Strittmatter nicht ganz, dass er seinen Selbstmitleid nicht überwindet. Aber Vogel bin ich dankbar, dass er einen gut informierten Blick auf unser sterbendes Métier geworfen hat. Vielleicht kann ich selbst den Stoff nun endlich zur Ruhe legen.

Ärgerliches Buch über Politik

In meinem Job erhalte ich innerhalb eines Jahres grob geschätzt um die 2500 politischen Botschaften und muss sie nach genauen Auswahlregeln weitervermitteln. Das ist an sich einfach, aber in letzter Zeit stellen sich bei mir immer heftigere Symptome einer Berufskrankheit ein: Der Anblick sehr vieler dieser Botschaften erfüllt mich mit Gereiztheit. Sie lösen bei mir eine Art allergische Reaktion aus. Das Buch „Political Framing“ von Elisabeth Wehling ist für mich zwingende Lektüre, dachte ich – vielleicht lerne ich beim Lesen besser verstehen, was da täglich auf mich einprasselt, wie es gemacht ist und wie ich es verdauen kann, ohne ständig Ausschläge auf der Seele zu haben.

Zuerst das Positive: Wehling erklärt anschaulich, was ein Frame ist. Sie führt gut nachvollziehbar aus, warum eine einzige politische Phrase komplexe Bilder und Empfindungen hervorruft. Sie macht den Unterschied zwischen einem Frame und einer Metapher ohne weiteres verständlich. Und sie sagt, warum wir uns mit dem Wort „Klimawerwärmung“ keinen Gefallen tun.

Dennoch löste bei mir die Lektüre selbst schon früh und immer wieder eine gewisse Gereiztheit aus. Zum ersten Mal an der Stelle, wo Wehling anhand einer amerikanischen Untersuchung beschreibt, wie die Wahl bestimmter sprachlicher Bilder die Meinung von Menschen beeinflusst. Bei der Untersuchung bekamen zwei Gruppen von Teilnehmenden je einen unterschiedlichen Text über die wachsende Kriminalität in der fiktiven Stadt Addison zu lesen. Der eine Text beschrieb die Kriminalität als sich ausbreitende Krankheit, der andere als Raubtier. Es zeigten sich signifikante Unterschiede, schreibt Wehling: „Jene, denen Kriminalität als Virus begreifbar gemacht worden war, setzten sich etwa für bessere Bildung und Abbau von Armut ein. Sie wollten das gesellschaftliche System … widerstandskräftiger … machen. Jene hingegen, denen Kriminalität als Raubtier begreifbar gemacht worden war, gaben an, mit mehr Polizeikraft gegen Kriminelle vorgehen, sie einfangen und zu langen Gefängnisstrafen verurteilen zu wollen.“ (S. 50)

Frau Frogg kratzte sich am Kopf und dachte: „Wie naiv sind denn diese Studienteilnehmer, dass sie ihr Weltbild von einer einzigen Metapher in einem einzigen Textchen formen lassen?!“ Nachgeschaut und festgestellt: Es handelt sich um Studierende zweier Universitäten, also junge Leute.

Da habe ich es mit einer viel hartgesotteneren und Klientel zu tun – ich sehe praktisch nur entweder ältere Damen und Herren, bei denen das Wort „Kriminalität“ augenblicklich, knallhart und in jedem Kontext den „Law and Order“-Reflex auslöst: „Kriminalität? Da braucht es Polizei und drakonische Strafen, fertig Schluss!“ Oder dann eine kleinere Klientel ab Mitte links, die Raubtier-Metaphern für Kriminelle (und Virusmetaphern sowieso) etwas unethisch finden und sowieso für Prävention und derlei mehr plädieren würde. Die Verfechterinnen beider Positionen stehen einander unversöhnlich gegenüber, jedenfalls hierzulande, und mittlerweile enthalten geschätzte 80 Prozent der Botschaften, die ich erhalte, dieses ermüdende, verbissene rechts/links-Framing. Vom Autofahren bis zum Zierpflanzendünger (und Covid-19 sowieso) – alles gerät in den Sog dieses einen, grossen Gegensatzes. Das ist es, was meine Allergie auslöst. Wenigstens das weiss ich jetzt. Ein Buch über politisches Framing, das sich damit so oberflächlich befasst wie Wehling, zielt im Grunde am Wesentlichen vorbei.

Schreckensbilder aus Afghanistan

„Mein Bruder ist in Gefahr“, schreibt Afshaneh in einem Whatsapp, „Er möchte heute Abend Afghanistan verlassen. Ich weiss nicht, ob es möglich ist oder nicht. Wo, keine Ahnung. Meine Schwester und ihre Familie sind auch im Versteck. Da meine Schwester in einer amerikanischen Firma gearbeitet hat, ist sie wirklich in Gefahr.“ Das war am Samstag. Afshaneh war eine Deutsch-Schülerin von mir, bis zum ersten Lockdown. Eine Afghanin. Ich habe sie ins Herz geschlossen, oder vielleicht eher sie mich – sie ist eine sehr sehr warmherzige Person und eine der tüchtigsten Frauen, die ich kenne.

Ich sehe die Bilder flüchtender Menschen und bin fassunglos.

Früher haben mich solche Bilder sehr viel weniger berührt. Ich meine, ich verstand im Kopf, was da passierte. Aber ich war eine Newsfrau. Es hätte niemandem etwas gebracht, wenn ich beim Anblick in Todesangst flüchtender Menschen in Tränen ausgebrochen wäre. Doch nicht nur ich war so. Ich glaube, die meisten von uns waren so (ausser, vielleicht, während eines kurzen Zeitfensters im Herbst 2015). Die Menschen auf solchen Bildern waren die Anderen und erlebten Dinge, die wir uns nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten. Wir alle lebten in einem andauernden, goldenen Spätnachmittagsschein, fühlten uns unverwundbar und wussten es nicht. Dann kam die Pandemie und mit ihr diese masslose Wut mitten in unserer Gesellschaft. Dann der Sturm auf das Kapitol. Dann das Hochwasser. Vielleicht verstehe ich deshalb gerade besser, wie es sich anfühlt, wenn die Dinge so mörderisch aus dem Ruder laufen. Oder meine es jedenfalls.

Und vielleicht liegt es daran, dass ich einfach dasitze und denke: „Grosser Gott, das sind Leute wie Afshaneh! Das könnte Afshanehs Bruder und sein Baby sein!“

Wenn jemand weiss, wie man helfen kann, bitte melden.

Der Versicherungsagent

Der Mann, der gestern Abend unsere Wohnung betrat, war tatsächlich jener Jungpolitiker, den ich mit einer gewissen Beklommenheit erwartet hatte. Ich hatte ihn gegoogelt und erkannte ihn auch unter der Maske.

„Sie können die Maske gerne ausziehen, wir sind beide geimpft“, sage ich. Mit Maske würde ich ihn unmöglich verstehen, aber das muss ich jetzt nicht sagen. Der Versicherungsagent nimmt die Maske ab und sagt: „Ja, und ich habe es gehabt und bin seit zwei Wochen wieder gesund.“ Ich muss nicht fragen, was „es“ war. Ich frage: „Und, wie war es?“

„Wie eine heftige Grippe“, sagt er und beschreibt die Symptome und einige Verwirrung um seine Tests. So verlaufen heutzutage also Kennenlern-Gespräche. Es stellt sich heraus, dass er mich ebenfalls gegoogelt hat und weiss, dass wir schon Schriftverkehr gehabt haben, mit ihm als Kunden. Nicht durchwegs positiven, wie er sich erinnert. Es könnte sein, dass ich ihn etwas stiefmütterlich behandelt habe. Das wäre natürlich unprofessionell von mir gewesen, und ich entschuldige mich kurz. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass ihn die Situation mehr verunsichert als mich. Er ist für einen Versicherungsagenten ungewöhnlich zurückhaltend, fast mürrisch. Dafür macht er gar keine Anstalten, unsere Wohnung zu inspizieren. So bin ich etwas lockerer, und mit der Zeit hellt sich die Stimmung auf. Schliesslich werden wir handelseinig. Als ihm Herr T. noch unseren Nordbalkon mit Blick auf den sagenhaften Innenhof zeigt und wir in eine fachmännische Diskussion über ortsübliche Mietzinsen geraten, bricht so etwas wie Freundlichkeit durch.

Der Fremde in meinem Schlafzimmer

Gestern habe ich unsere Wohnung gründlicher als gewöhnlich gereinigt. In meinem Schlafzimmer pützelte ich geradezu inbrünstig alle Oberflächen und verrenkte mich, um mit dem Staubsaugerrohr auch in die hintersten Winkel zu gelangen. Grund: Am Dienstagabend kommt der Mann von der Mobiliarversicherung. Er will uns eine neue Police ausstellen. Da wird er einen Blick in all unsere Zimmer werfen und sehen wollen, was wir eigentlich für einen Hausrat haben.

Nun wohne ich in einer relativ kleinen Stadt. Der nicht allzu häufige Name des neuen Versicherungsagenten lässt mich befürchten, dass er einer meiner Kunden ist. Und noch dazu eine Nachwuchshoffnung jener politischen Partei, die ich partout nie im Leben wählen würde. Bei der Vorstellung, dass dieser Jungspund freie Sicht auf mein Schlafzimmer haben könnte, wird mir wind und weh. Falls es unumgänglich ist, wollte ich das Beste tun, damit er diesen Anblick einfach so schnell wie möglich wieder vergisst. Auf keinen Fall möchte ich, dass er mit seinen Parteikollegen jenes fette Grinsen über mein Schlafzimmer teilt, das ich auf den Gesichtern seiner Parteigänger auch schon gesehen habe. Es war peinlich genug, dass ich ihn am Telefon relativ barsch angegangen habe, weil er unfähig ist, langsam und deutlich zu sprechen.

Es kann aber auch sein, dass ich mich irre. Ich habe ihn nicht gefragt, ob er derjenige ist. Falls nicht, umso besser. Dass mein Schlafzimmer etwas sauberer ist als sonst, wird auch mir nicht schaden.

Was die Medien falsch machen

„Ich fand schon, die Medien seien während der Pandemie nicht so ganz frei gewesen“, sagt Paulina zum Schluss. Auaa! Schon wieder hat sie einen dieser Sätze gesagt, die mich treffen wie ein jäher Zahnschmerz. Unsere Gespräche sind ein einziger Versuch geworden, solche Sätze zu vermeiden. Auf beiden Seiten. Aber manchmal kann sie es nicht lassen.

Der Satz trifft auf mindestens zwei empfindliche Stellen. Erstens ist er der quälende Refrain jener Leier, die ich bei der meiner Arbeit von Covid-Skeptikern in gefühlten 778 Varianten gelesen habe. Und zweitens arbeite ich bei einem Medienunternehmen und bekomme bei diesem Satz immer den Drang, ‚die Medien‘ zu verteidigen. Ich fange also an, die Medien zu verteidigen. Ich versuche, etwas zu sagen, was ich nicht schon gesagt habe. Aber es gibt nichts Neues.

Ich muss es anders machen, denke ich und frage: „Was hättest Du denn von den Medien erwartet?“

Sie strahlt auf, ist völlig verblüfft und sagt: „Das ist eine sehr gute Frage!“ So gut, dass sie auf Anhieb keine Antwort weiss, und so verabschieden wir uns gleich darauf. In aller Freundschaft.

„Warum habt Ihr nichts getan?“

Eines Tages werde ich vielleicht eine Grossnichte haben, nennen wir sie Ophelia. Sie wird zu mir sagen: „Ihr habt doch gewusst, dass der Klimawandel kommen wird. Warum habt Ihr nichts getan?“

Dann werde ich sagen: „Ja, wir haben es gewusst. Im Gymnasium haben wir noch vor 1985 das Wichtigste über den Treibhaus-Effekt gelernt. Gleichzeitig drohte auch das Waldsterben, und es drohte ein Ozonloch. Das alles hat mir damals grossen Eindruck gemacht. Ich beschloss, nicht Auto zu fahren und neigte politisch zu den Grünen. Aber ich hatte Kollegen, denen das alles egal war. Kaum 18, fuhren sie mit stolzgeschwellter Brust und Papas Karre auf den Parkplatz vor der Schule.“

„Wie konnten sie nur?!“ wird Ophelia sagen.

„Nun ja, sie sahen sich als Yuppies – und die zeigten gerne ihren Zaster.“

„Was ist ein Yuppy?“ wird Ophelia fragen.

„Yuppies ist eine Abkürzung für „Young Urban Professionals“. Das waren junge, karrierebewusste Anwälte, Ärztinnen, Betriebswirte“, werde ich sagen. „Sie waren hemmungslos hedonistisch. Weisst Du, später habe ich gesehen, dass es etwas Verwegenes hatte, diese ganzen Umweltbedenken in den Wind zu werfen und zu sagen: ‚Verzicht ist etwas Kleinbürgerliches. Ich habe das nicht nötig und auch gar keine Zeit dafür. Sollen sich andere darum kümmern, wenn es überhaupt ein Problem ist.‘ Aber bei mir war das nicht so, jedenfalls nicht am Anfang. In meiner WG an der Uni waren wir zu dritt und alle sehr umweltbewusst.“

„Und was ist dann passiert?“, wird Ophelia fragen.

„Ja, dann bekam ich erste Zweifel. Das Waldsterben wurde abgewendet, und das Ozonloch auch. Und viele fanden die Grünen einfach nur verschroben. Manchmal ging es mir auch so. Eines Abends diskutierten wir in der WG über die Frage, ob das Joghurt aus dem Kartonbecher oder jenes aus dem Glas die bessere Öko-Bilanz habe. Das fand ich absurd, denn wenige hundert Meter weiter tobte vierspurig der Autoverkehr. Warum sollte ich über Spitzfindigkeiten bei meinem Konsum nachdenken, wenn der Umweltschutz so vielen anderen am Allerwertesten vorbeiging?“

„Du hättest Dich nicht beirren lassen dürfen durch das, was alle anderen machten,“ findet Ophelia.

„Ja, stimmt, aber ich suchte eben meinen Standpunkt.“

„Habt Ihr Fleisch gegessen?“ wird Ophelia fragen.

„Manchmal. Damals wurde Fleisch noch nicht als Treiber des Klimawandels angesehen.“

„Seid ihr geflogen?“

„Ja“, werde ich sagen, „Wir sind sogar viel geflogen. Reisen brachten Weltwissen und Spass. Über unsere Reisen definierten wir, wer wir waren. Niemals hätten wir uns das nehmen lassen.“

„Und später hast Du dann sowieso den Klimaschutz in den Wind geworfen?“

„Nicht ganz. Aber einmal habe ich einen Job nicht bekommen, weil ich nicht Auto fahren konnte. Danach habe ich sogar das gelernt. Aber wenn Du nicht gerade in der Forschung gearbeitet hast, dann warst Du in der Arbeitswelt voll in der Logik des Konsums.“

„Du kannst mich mal mit Deiner Logik des Konsums“, wird Ophelia sagen.

Spaziergang im Starkregen


Heute Morgen, 9.30 Uhr, Unter der Egg in Luzern. Normalerweise kann man auf den quer gelegten Baumstämmen sitzen und gemütlich die Beine Richtung Reuss strecken, ohne nasse Füsse zu bekommen. Weiter oben: Sandsäcke, in Plastik verpackt.

Wasser trommelt auf meinen Schirm, Tropfen fallen mir auf die Hände und Beine. Pitschpatsch. Pitschpatsch. Ich gehe heute zu Fuss zur Arbeit, ich will den Wasserpegel an der Reuss sehen. 40 Minuten bis ins Büro. Pitschpatsch. Ich mag Regenspaziergänge, aber das hier ist mehr als Regen. Die Tropfen fühlen sich dickflüssig an, sie tippen mich an wie wütende Finger. Es regnet seit Wochen. Nicht ununterbrochen, manchmal scheint einen Tag lang die Sonne. Doch schon in der Nacht danach beginnt der Himmel wieder, ein Meer über uns auszuleeren.

Nachrichten von drohenden Überschwemmungen beobachte ich mit einer Mischung aus Sorge und Sensationslust. Wir leben hier in einem Regenloch. Mit meinen 56 Jährchen kann ich mich an Dutzende Unwetter erinnern, auch an Katastrophen: 2005 wurde die Kleine Emme über Nacht ein wütender Strom. Ihre braunen Fluten rissen Strassen mit und überschwemmten ganze Vorortsquartiere. Das war das Jahrhunderthochwasser. 2015 tötete ein zum Sturzbach gewordenes Rinnsal im Dorf Dierikon eine Frau in einem Keller. Trotz all dem wecken solche Ausnahmezustände oft auch Heiterkeit. Sie heben die ungeschriebene Regel auf, dass man in der Stadt nicht mit Fremden spricht. Plötzlich entdeckt man den Galgenhumor Unbekannter.

Aber jetzt ist kaum jemand unterwegs, obwohl Markttag ist. Am Reussufer liegen Sandsäcke, bedeckt von grünlichem Plastik. Bald wird der Fluss über die Ufer treten. Ich mache ein paar Bilder und schaue, dass ich weiterkomme. Pitschpatsch. Im Geschäft angekommen, klebt mir das Haar an der Stirn, und meine graue Hose ist schwarz vor Nässe bis zu den Knien.

In den Ferien im Juni haben wir zugeschaut, wie der Hagel eine weisse Decke auf die Strassen von Les Bois im Jura legte. Wenig später gab es auch in Luzern ein Hagel-Grossereignis. «Die hohe Zerstörung, welche das Gewitter anrichtete, war selbst für Experten unvorstellbar», schrieb die Gebäudeversicherung. Sie verzeichnete 12000 Schadenfälle und 150 bis 200 Millionen Franken Schaden. Ganze Häuserzeilen sind unbewohnbar, weil der Hagel die Dächer zerstörte. Die Rede ist vom «grössten Elementarereignis seit 16 Jahren». Beim Jahrhunderthochwasser von 2005 beliefen sich die Schäden im Kanton Luzern auf rund 590 Millionen Franken (Luzerner Zeitung vom 6. Juli).

Um 16 Uhr gehe ich nach Hause, auf dem gleichen Weg. Es regnet sanft. Auf der Brücke stehen Männer und fotografieren den Pegelstand. Er ist höher als am Morgen. Vor dem Theater Feuerwehrautos. Die Wetterprognose für die nächsten Tage: Regen, Regen, Regen.

Pelatischiessen – ein kurzer Text über Tomaten

Das Pflänzchen auf dem Bild ist meine allererste eigene Tomatenstaude. Immer habe ich davon geträumt, eigene Tomaten zu ziehen. Ich liebe den Duft von Tomatenstauden, und die roten Kugeln aus dem Supermarkt schmecken mir oft nicht mehr. In unserer alten Wohnung war der Balkon zu klein für Gartenexperimente. Aber jetzt haben wir eine schöne, grosse Loggia. Das Pflänzchen bekam ich von einer Nachbarin aus der Nummer 6, im Austausch gegen unseren Borretsch.

Jeden Morgen besuche ich als erstes mein Balkongärtchen. Ich rieche an den Tomatenblättern, schaue nach dem Basilikum, den wir im April knapp vor dem Eingeschneitwerden retten konnten. Ich staune darüber, wie der Borretsch plötzlich wuchert.

„Und dann gab es ein Pelatischiessen“, sagt Herr T. beim Kaffeetrinken. Pelatischiessen? Meine Ohren spinnen wieder, es ist krass. X-mal sagt Herr T. „Pelatischiessen“. Er berichtet von einem Fussballmatch, den er gesehen hat. Am Schluss stand ein Unentschieden, und es gab ein episches Pelatischiessen. Dann kamen die Goalies zum Zug, und dann gewann Villareal. So viel habe ich verstanden.

Einen Tag später steht es auf allen Online-Portalen: Die Schweiz bricht mit der EU. Ich möchte aufstehen und Tomaten kaufen, eine dünnschalige Sorte, oder vielleicht auch Pelati. Ich würde sie unseren sieben Bundesräten mit der ganzen Wucht meines Zornes an den Kopf schleudern. Dass sie es soweit haben kommen lassen!

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