Schwerhörigkeit, Lektion 1

„Mann, wie gut ihr unsere Nachbarn kennt!“ sage ich staunend zu Herrn und Frau Buddha. Die beiden wissen sogar, in welcher Wohnung die meisten Leute hier genau wohnen. Ich füge hinzu: „Ich bin da eher zurückhaltend. Ich überlege mir bei jeder Begegnung: ‚Wenn ich diese Person anspreche, muss ich ihr wahrscheinlich auch sagen, dass ich schwerhörig bin. Denn wenn die Akustik nicht optimal ist, werde ich ihre Antwort beim ersten Mal nicht verstehen, und vielleicht auch nach zwei Wiederholungen nicht. Lohnt sich das wirklich?'“

„Ja, aber, Mona, das musst Du doch den Leuten sagen!“ ruft Herr Buddha. „Du kannst Dich doch nicht so zurückziehen, sonst bist Du plötzlich total isoliert!“ Die beiden sind bei uns zum Nachtessen, und ich bin sicher, er will mich nicht belehren, sondern meint es gut.

„Ja, da hast Du recht“, sage ich, „Aber weisst Du: Ich müsste das bei jeder Begegnung tun, den ganzen Tag. Im Büro, in der Stadt, überall. Ich überlege mir, ob es sich wirklich lohnt, einen Laden zu betreten und ein womöglich peinliches Gespräch mit dem Verkäufer zu riskieren. Ich muss entscheiden, ob ich im halligen Treppenhaus einer Nachbarin einen schönen Abend wünsche. Wenn sie dann nicht ‚danke gleichfalls‘ sagt, bin ich verloren. Ich muss das auch Leuten sagen, denen ich es schon zweimal gesagt habe, denn sie vergessen es mit Sicherheit. Das ist anstrengend. Oft weiche ich den Leuten deshalb einfach aus.“

Herr Buddha wiegt nachdenklich den Kopf.

Eine schwerhörige Bekannte von mir hat schon gesagt: „Ich sage ‚es‘ nur Leuten, von denen ich denke, dass sie mir wohlgesonnen sind.“ Aber sie ist nur auf einem Ohr taub. Ich bin auf beiden Ohren hochgradig schwerhörig. Wenn ich etwas sage und dann die Antwort nicht verstehen, denken meine Gesprächspartner womöglich, ich sei nicht so hell auf der Platte. Oder unfreundlich. Aber dass ich unfreundlich und etwas merkwürdig bin, denken sie wohl sowieso – gerade, weil ich nichts sage.

Man nennt es das Dilemma der Schwerhörigkeit.

Haarsträubende Geschichten über Schweizer Uhren

Heute ist Nationalfeiertag in der Schweiz. Doch anstatt ein bisschen über unseren nationalen Zusammenhalt zu faseln, um den es nicht zum Besten bestellt ist, erzähle ich lieber vom Besuch unserer Nachbarn, den Kaufmanns. Es war ein charmantes Treffen zwischen sehr unterschiedlichen Haushalten. Während wir unter der Regie von Herrn T. zu Klimaaktivisten geworden sind, legt Herr K. als Handelsmann jährlich 60000 Kilometer mit dem Auto zurück.

Als wir von unseren Ferien im Jura erzählten, leuchteten Herrn K.s Augen. Ich schilderte die geschichtsträchtige Heimat der Schweizer Uhrenindustrie als sanft dem Verfall anheimgegebene, wildromantische Landschaft. „Da macht man sich natürlich ganz falsche Vorstellungen“, sagte Herr K., nennen wir ihn Toni. „Wisst ihr, da gibt es in der Nähe einer dieser Hochlandseen, äh, der Name fällt mir grad nicht ein… also, da gibt es eine alte Scheune. Die ist so baufällig, wenn Du die siehst, dann denkst Du, sie fällt gleich auseinander. Aber sobald Du drin bist, ist alles topmodern und total Hochglanz. Und in dieser Scheune sitzen sechs Leute, und jeder von denen arbeitet an einer einzigen Hochpräzisionsuhr. Von diesen sechs Leuten baut jeder nur eine einzige Uhr im Jahr. Und die kostet dann eine Million Franken. Aber diese Uhren sind so begehrt, dass die Firma 38 Kunden auf der Warteliste hat. Stell Dir mal vor, wie lange man da auf eine Uhr warten muss!“

„Sechs Jahre!“ sagte Herr T.

„Jaaa, da gab es natürlich Leute, die sagten: ‚Ich zahle Ihnen zwei Millionen, wenn es schneller geht.'“, fährt Toni weiter. „Aber die Firmenleitung winkt ab: ‚Nein, das machen wir aus Prinzip nicht‘, sagen die.“

Wahr oder gut erfunden? Jedenfalls irgendwie haarsträubend. Deshalb habe ich ein bisschen herumgegoogelt. Auf die Schnelle habe ich keine Firma gefunden, auf die Tonis Beschreibung zehntelsmillimetergenau passt. Aber in Frage kommt zum Beispiel Greubel Forsay in der Nähe von La Chaux-de-Fonds. Da parkiert man beim Firmenbesuch in der Tat direkt neben einem Bauernhaus – wenige Meter weiter gibt’s dann aber gut sichtbar eine filigrane, moderne Fabrikationshalle mitsamt Schafweide auf dem Dach.

Millionenteuer sind auch gewisse Armbanduhren der Marke Richard Mille, mit der sich Tennis-Star Rafael Nadal gerne schmückt. Richard Mille haben ihren Sitz in Les Breuleux – einem Kaff, das ich meiner Mutter in einer Whatsapp als „etwas traurig und heruntergekommen“ geschildert habe: „Beim Bahnhof geschlossene Läden und bröckelnde, mit Brettern notdürftig zusammengehaltene Hausfassaden.“ Vielleicht ist das welsches Laissez-faire. Und vielleicht kommt von Rafael Nadals Millionen einfach nicht sehr viel bei den Bewohnerinnen von Les Breuleux an.

Was die Medien falsch machen

„Ich fand schon, die Medien seien während der Pandemie nicht so ganz frei gewesen“, sagt Paulina zum Schluss. Auaa! Schon wieder hat sie einen dieser Sätze gesagt, die mich treffen wie ein jäher Zahnschmerz. Unsere Gespräche sind ein einziger Versuch geworden, solche Sätze zu vermeiden. Auf beiden Seiten. Aber manchmal kann sie es nicht lassen.

Der Satz trifft auf mindestens zwei empfindliche Stellen. Erstens ist er der quälende Refrain jener Leier, die ich bei der meiner Arbeit von Covid-Skeptikern in gefühlten 778 Varianten gelesen habe. Und zweitens arbeite ich bei einem Medienunternehmen und bekomme bei diesem Satz immer den Drang, ‚die Medien‘ zu verteidigen. Ich fange also an, die Medien zu verteidigen. Ich versuche, etwas zu sagen, was ich nicht schon gesagt habe. Aber es gibt nichts Neues.

Ich muss es anders machen, denke ich und frage: „Was hättest Du denn von den Medien erwartet?“

Sie strahlt auf, ist völlig verblüfft und sagt: „Das ist eine sehr gute Frage!“ So gut, dass sie auf Anhieb keine Antwort weiss, und so verabschieden wir uns gleich darauf. In aller Freundschaft.

Frühling in Terrassien


Das Café in unserem Erdgeschoss heute Vormittag. Gegen Abend wird hier Hochbetrieb herrschen.

Zu den Glückseligkeiten unserer relativ neuen Wohnlage gehört das Café im Erdgeschoss. Als ich am Freitagabend von der Arbeit kam, fand ich dort an einem Tischchen auf dem Vorplatz schon den Buddha und den Doppelbuddha beim Bier. Ich nenne die beiden so, weil das Freitagabendbier mit den beiden, wenn es denn stattfindet, stets ein erheiterndes Ritual ist. Der Buddha hat ein pfiffiges Lächeln und viele Geheimnisse, von denen er selten eines preisgibt. Der Doppelbuddha hat ein warmes Grinsen, eine kräftige Stimme und treibt die Konversation voran, die nirgends hinführen muss, aber immer wieder von Gelächter unterbrochen wird.

Ja, ihr habt das richtig mitbekommen: Bei uns in der Schweiz sind die Gaststätten offen. Oder jedenfalls die Gaststätten-Terrassen, die Gartenrestaurants, die Tischchen auf den Vorplätzen. Ich fühle mich sonst nicht wohl in Restaurants, meistens kann ich den Gesprächen an einem Vierertisch nicht so recht folgen, und das verunsichert mich. Aber im Moment geht von diesen geöffneten Terrassen eine ungeheure Anziehungskraft aus. Ich würde mich bei diesem frühlingshaften Wetter wie der einsamste Mensch auf der Welt fühlen, wenn ich nicht irgendwann alle warnenden Stimmen in den lauen Frühlingswind schlagen und mich wenigstens für ein Stündchen auch in dieses Gartenbeizengetümmel stürzen könnte.

Ich habe die beiden Buddhas seit längerer Zeit nicht gesehen, und mich dünkt, der Doppelbuddha habe heute eine ungesund ins Bläuliche spielende Gesichtsfarbe. Seine kleine Firma hat in der Krise des letzten Jahres gelitten. Seine Partnerin arbeitet im Tourismus, und der Tourismus liegt bei uns seit bald 14 Monaten im Koma. Normalität wird hier – noch – mit Bundesgeldern aufrechterhalten. Wir sind ernster als sonst, trinken, diskutieren.

Und doch. Dieses eine Stündchen fühlt sich an wie richtiger Frühling.

Drei Träume

13. Februar: Der Kulturflaneur und ich wohnen in einem Schloss mitten in einem Wäldchen am Fluss. Die Burg ist baufällig, Trümmer liegen in den Räumen. Die Schlossherren sind auch da, schreiten umher und sprechen englisch. Nachts kommen Marder herein und spielen zwischen den Trümmern. Eine Psychotherapeutin, die auf Besuch kommt, kann nicht schlafen. Der Kulturflaneur und ich verlassen das Schloss. Im Wäldchen begegnen wir einem Italiener, der auf der Suche nach einer Bleibe ist. Wir kommen zu einer Pizzeria. Unser Begleiter verwandelt sich in einen Wolf und verjagt den Pizzabäcker – dann zieht er selber in die Pizzeria ein. Ich erwache und bin überschäumend fröhlich, weil unser Freund ein neues Daheim gefunden hat.

14. Februar: Abends besuche ich ein Ausgehlokal. Es ist gebaut wie ein Basar in Istanbul, mit vielen verschachtelten Innen- und Aussenräumen. Ich treffe Judith, eine Freundin aus meiner Zeit in der Kulturszene. Ich will mit ihr sprechen, aber sie hat keine Zeit für mich, sie muss arbeiten. Dann sehe ich Matz, auch einen alten Bekannten. Doch auch er wird nicht mit mir sprechen, er hat mich immer verachtet. Ich gehe in einen Aussenraum und finde vor dem Eingang zu einer Bar drei schalenförmige Stühle. Auf einen davon setze ich mich und schlafe ein. Ich reisse mich aus dem Schlaf und betrete die Bar. Dort laufen am Fernsehen Bilder vom Ukrainekrieg. Der Barmann sagt: „Sie habe ich hier noch nie gesehen.“ Ichv ersichere ihm, dass ich oft hier im Haus bin – aber selten an dieser Bar. Die Explosionen im Fernseher erschüttern das Gebäude. Ich komme mit einer Krankenschwester ins Gespräch. Sie wohnt an der Strasse am Fluss, im gleichen Haus wie ich früher. Sie fragt mich, an welcher Busstation ich jeweils ausgesteigen sei. Sie sagt: „Ich weiss nie, wo ich aussteigen soll. Ich habe überall Angst, vergewaltigt zu werden.“ Wir fahren zusammen dorthin, aus dem Stadtfluss ist eine grüne Landschaft mit zwei alten Holzbrücken geworden. Trotzdem weiss ich noch genau, wo wir aussteigen müssen. „Es ist doch ganz einfach“, sage ich. Dann wache ich auf. Ich bin abgrundtief traurig.

15. Februar: Ich habe ein Klassentreffen unserer Gymnasiums-Klasse, aber ich erinnere mich an nichts Genaues – es ist, als sträube der Traum sich gegen das Erinnertwerden. Aber ich erwache glücklich. Ich bin sicher, dass ich im Traum all jene Kolleginnen und Kollegen gesehen habe, die mir damals etwas bedeutet haben: Astrid und Sibylle, Regula und Lukas und Erich.

Das ist mein Beitrag zum zweiten diesjährigen Wort des famosen Projektes *txt. Es lautet „nächtelang“.

Elf Fragen

In hohem Bogen hat mir frau tikerscherk aus Berlin ein Stöckchen zugeworfen. Es flog geraume Zeit, dann habe ich es aufgefangen und eine Weile freudig daran herumgenagt. Hübsches Stöckchen! Vielen Dank, Frau Tikerscherk!

Ich werfe vier Stöckchen – je an katiza (obwohl ich mich zunächst nicht traute, es ihr zuzuwerfen – ich bin ihr selber noch eins schwach), die Testsiegerin, la-mamma, Herrn Steppenhund und an den Herrn T. Meine Fragen dann unten.

Eine Abenteuerreise wartet auf Sie. Was wäre für Sie das absolute Abenteuer?

Noch vor wenigen Tagen träumte ich davon, meinen vierten Roman zu schreiben. Was für andere Klettern am Kilimandscharo, meditieren im tibetischen Kloster oder Paris-Roubaix ist, ist für mich das Schreiben von Romanen. Jetzt aber muss ich zuerst meine Instagram-Sucht besiegen, bevor ich damit anfangen kann.

Sie dürften bestimmen, wer eine Spende von 10000 € bekommt. Wer wäre das und warum?

Ganz gewiss eine gute Hilfsorganisation, die den Syrien-Flüchtlingen in der Türkei, in Jordanien und im Libanon vor dem Hunger bewahrt. Weil ich dort gereist bin. Weil mir nahe geht, was dort passiert.

Für einen Tag dürften Sie in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Von wem wüssten sie gerne, wie sich sein Leben anfühlt?

Ich würde mit meiner Kollegin Wanda tauschen – weil ich nicht verstehe, warum sie ihre Internet-Dating-Probleme nicht lösen kann und ihr helfen möchte (wenn jemandem beim Internet-Dating überhaupt zu helfen ist). Die Bedingung wäre: Sie muss einen Tag in meine Haut schlüpfen. Damit mal jemand anderes sich einen Tag lang meinen Tinnitus anhören muss.

Und welches Tier wären Sie gerne, wenn das möglich wäre?

Ein Delfin – denn wie sagte Douglas Adams: Sie haben unglaublich viel Spass. Sie sind die intelligentesten Tiere, die es gibt. Und Douglas Adams ist in solchen Fragen eine hohe Autorität. Laut Adams wissen Delfine auch die Antwort auf die Frage, was das alles soll (die Welt, das Leben etc.). Sie lautet „4“. Oder war es „42“ – Na, egal, wenn ich ein Delfin wäre, wüsste ich es. Und: Sie wissen, wann man sich absetzen muss. (Hier alles über Delfine).

Hat schon mal ein Traum Ihr Leben beeinflusst?

In diesen Nächten träume ich lebhaft, hänge in Kneipen herum und habe ganz allgemein viel Spass. Das ändert nichts an meinem Wachleben. Aber es hilft, wenn ich mich tagsüber zuweilen etwas isoliert fühle.

Lieblingsbücher liest man gerne mehrfach. Welches haben Sie am häufigsten gelesen?

­Soll ich die gebüldete Antwort geben? Dann wäre es die „Blechtrommel“ von Günter Grass. Wegen dieses Buchs habe ich sogar Germanistik studiert (was vielleicht nicht die beste Entscheidung in meinem Leben war, aber schön war’s trotzdem). Aber vielleicht war es auch „One Day“ von David Nicholls – weil eine hinreissende Liebesgeschichte. So geweint!

Wenn Sie in ein anderes Land fliehen müssten, dessen Sprache sie nicht sprächen und wo Ihre Berufsausbildung nicht anerkannt würde, mit welchen Fähigkeiten könnten Sie sich den Lebensunterhalt verdienen?

Hmm … mein Leben ist schon sehr sprachlastig, fürchte ich. Salat pikieren kann ich. Auch Tabak pflücken. Wenn die Schrift dieselbe wäre: Briefe sortieren. In einem Bibliotheksmagazin Bücher versorgen. Kleinen Kindern ihre Nöte und Freuden von den Augen ablesen.

Verraten Sie uns ihr Lieblingskuchenrezept?

Da müssten Sie den Herrn Kulturflaneur fragen – der kocht und backt das meiste, was ich gerne esse. Auch die Spinattorte mit Pinienkernen, die ich so heiss liebe.

Unter Ihrem Balkon soll jemand ein Ständchen singen. Sie dürfen sich Sänger und Lied wünschen. Also, wen und was wünschen Sie sich?

Puh … ich passe. Ich darf das – ich würde ihn eh nicht hören.

Auf welche fünf Lebensmittel können Sie nicht verzichten?

Kaffee, Käse, Kirschen, Kartoffeln – und, ja, Schokolade.

Die Elf ist die Zahl des Narren. Wenn Sie sich denn verkleiden würden, als was würden Sie zum Karneval gehen?

Als auffallend unauffälliger Herr im Trenchcoat – unter dem Hut lugt eine lange, neugierige Nase hervor – vielleicht bin ich vom NSA, vielleicht vom Staatsschutz, kommt ganz auf die jeweilige Aktualität an.

– Eine Abenteuerreise wartet auf Sie. Was wäre für Sie das absolute Abenteuer?
– Wie halten Sie es mit Geld: Ausgeben oder horten? Opulent oder asketisch?
– Sie dürften bestimmen, wer eine Spende von 10000 € bekommt. Wer wäre das und warum?
– Für einen Tag dürften Sie in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Von wem wüssten sie gerne, wie sich sein Leben anfühlt?
– Und welches Tier wären Sie gerne, wenn das möglich wäre?
– Hat schon mal ein Traum Ihr Leben beeinflusst?
– Lieblingsbücher liest man gerne mehrfach. Welches haben Sie am häufigsten gelesen?
­- Wenn Sie in ein anderes Land fliehen müssten, dessen Sprache sie nicht sprächen und wo Ihre Berufsausbildung nicht anerkannt würde, mit welchen Fähigkeiten könnten Sie sich den Lebensunterhalt verdienen?
– Welcher Song müsste an Ihrer Beerdigung gespielt werden?
– Auf welche fünf Lebensmittel können Sie nicht verzichten?
– Die Elf ist die Zahl des Narren. Wenn Sie sich denn verkleiden würden, als was würden Sie zum Karneval gehen?

Im Indianerkleid


Silberpfeil-Comics hatten wesentlichen Einfluss auf Frau Frogg’s kindliche Vorstellung von cooler Frauenbekleidung (Bildquelle: lambiek.net)

Manchmal durften mein kleiner Bruder und ich in Grossvaters roten Opel Rekord steigen. Dann fuhr er mit uns zum nächsten Kiosk und kaufte uns einen Stapel Andy und Bessy- und Silberpfeil-Comics. Wir wussten, dass das ein anrüchiges Vergnügen war. Comics galten als Schundliteratur – andere schenkten ihren Enkeln gewissenhaft richtige Bücher. Was unser Vergnügen an Andy und Bessy & Co. aber eher befeuerte. Und unseren Grossvater liebten wir gerade deshalb, weil er sich um gewisse Konventionen überhaupt nicht scherte. Er traute uns offensichtlich Dinge zu, vor denen bravere Leute ihre Kinder schützen zu müssen glaubten. Darauf waren wir sogar ein bisschen stolz.

Als ich neulich auf Herrn Wortmischers Kleider-Alphabet als zweitletzten freien Buchstaben ein „I“ vorfand, fiel mir dazu spontan das Wort „Indianergwändli“ ein – und die Episode mit meinem Grossvater. Und dass ich als Kind immer ein Kleid wollte wie Mondkind, die Heldin und einzige weibliche Identifikationsfigur in Silberpfeil. Das karminrote, sehr beinfreie Stück ist im Bild oben links gut sichtbar.

Hat mir die Lektüre dieser Comics irgendwie geschadet? Wahrscheinlich nicht. Tatsache ist: Vor zwei drei Jahren habe ich entdeckt, dass meine Eltern sie sogar aufbewahrt haben. Offenbar war ihnen die Erinnerung an unser Lesevergnügen wichtiger als ihr literarischer Wert. Jedenfalls gaben sie sie meinen Nichten zu lesen. So sah ich sie auch wieder mal – und hatte einen sehr tantenhaften Reflex: Ich fand die Bilder für Kinder sinnlos übersexualisiert und das Frauenbild eine Katastrophe. Ich war geradezu erleichtert, dass meine Nichten das Zeug zwar zügig lasen, aber offensichtlich nicht sonderlich interessant fanden.

Eins weiss ich mit Sicherheit: Ich bekam dann ein Indianerkleid – zur Fasnacht 1976. Womit auch die Frage beantwortet ist, was ein „Gwändli“ ist: ein Karnevalskostüm eben. Ich war aber schwer enttäuscht von dem, was ich da tragen musste. So also sieht es aus, wenn man versucht, die Fiktion in die Realität umzusetzen, dachte ich.


Frau Frogg (10) an der Fasnacht 1976 – daneben der Kleine Bruder (7) in gekonnter Cowboy-Pose

Der Journalist

„Ein paar Jahre war ich bei den ‚Kleinstädter Nachrichten“, sagt Hörbi, mein neuer Bierbekannter. „Oh“, sage ich, „dann kennst Du all die alten Kämpfer dort – Reto Windlinger, Walter Hämmerli …?!“ Ich erinnere mich selber gut an die beiden. Ich war den früher nuller Jahren Redaktorin beim ‚Mittelstädter Anzeiger‘. Damals tauschten wir täglich Berichte mit den Kleinstädter Kollegen aus.

„Jaja, Reto Windlinger!“ Hörbi lacht vergnügt in sich hinein. Ich auch. Reto Windlinger – Kürzel „wir.“! Die Seele der Kleinstädter Nachrichten. Manchmal schob er wochenlang Dienst, fast jeden Tag, von mittags bis spät in die Nacht hinein. Füllte alles ab, setzte Titel und Bildlegenden, verhandelte mit freien Mitarbeitern und uns Mittelstädtern. „wir.“ war kein Alphatier, kein Blattmacher-Typ, mehr der stiller Schaffer. Er errötete schnell. Aber er war routiniert und verlässlich. Knurrte höchstens ein bisschen herum, wenn andere im Tohuwabohu längst die Nerven verloren hätten. Seine Berichte über die häufigen Finanz-, Spar- und Budgetdebatten im Kleinstädter Kantonsrat waren kompetent, wenn auch da und dort etwas holprig geschrieben. Das Theater liebte er – seine Kurzbesprechungen aus der Kleinstädter Kleintkunstbühne enthielten Herzblut, man merkte es. Über sein Privatleben wusste niemand etwas.

„Ja, und dann wurde Reto pensioniert“, sagte Hörbi. „Wir feierten seinen Abschied, und dann fuhr er mit der S-Bahn nach Hause. Und am nächsten Tag sass er wieder in seinem Büro und arbeitete. Und am übernächsten Tag auch. Am dritten Tag sagte der Chef zu ihm. ‚Reto, Du bist jetzt pensioniert. Du bekommst keinen Lohn mehr.‘ Nichtsdestrotrotz kam Reto am nächsten Tag wieder. Und so jeden Tag. Ab und zu schrieb er noch über Parlamentssitzungen. Er ging noch ins Theater. Und sonst – ich weiss es nicht.

Nach drei Monaten sagte der Chef: ‚Reto, Du musst jetzt Dein Büro räumen. Wir haben hier gar keinen Platz mehr für Dich.‘ Ein paar Wochen lang passierte gar nichts. Reto kam immer noch fast täglich. Erst allmählich begann er, Papierstapel aus seinem Büro hinauszutragen. Kubikmeterweise. Tage-, nein, wochenlang trug er Stapel hinaus, einen nach dem anderen. Den einen oder anderen Stapel andere stopfte er einfach in die Büchergestelle anderer Kollegen. Und manchmal sah man ihn auch mit einem Stapel wieder in sein Büro hineingehen.“

„Um Gottes Willen“, sagte ich.

„Jemand anderes bekam dann sein Büro. Aber er kam immer noch. Er arbeitete einfach an Schreibtischen von Kollegen, die gerade frei hatten. Manchmal ass er an den Schreibtischen der Kollegen und hinterliess Spuren – Brotbrösmeli oder die Ränder von Kaffeetassen. Das sorgte für Unmut, sage ich dir!“

„Und jetzt? Ist er immer noch dort?“ frage ich.

„Ich habe keine Ahnung“, sagt Hörbi. „Irgendwann bin ich weg von den ‚Kleinstädter Nachrichten‘.“

Das ist mein Beitrag zum ersten neuen Wort im Projekt *txt auf neonwilderness – „nichtsdestrotz“.

Fernbeziehung

„Er hat eine Stelle in Berlin in Aussicht. Wenn er die bekommt, na, dann haben wir eben wieder eine Fernbeziehung. Schon wieder“, sagte meine Lunch-Bekannte Elfie. Sie wohnen erst seit kurzer Zeit zusammen. „Ich hatte auch mal eine Fernbeziehung“, sagte ich. „Das war während meines Studiums. Er war in Luzern, ich in Bern. Eine Stunde vierzig war das damals mit dem Zug.“

„Das kann man ja kaum eine Fernbeziehung nennen!“ lacht Elfie. Ja, klar. Heute ist das keine Fernbeziehung mehr. Heute ist Hamburg-Zürich das Minimum. Alles andere ist kleinkariert. Fernbeziehungen sind Status-Symbole. Wenn man schon die Strapazen einer vierstündigen Zugfahrt mit einem Hörsturz bezahlt wie ich, fällt einem das auf. Das Gegenüber sagt dann nicht nur: „Ich habe eine Fernbeziehung.“ Es sagt auch: „Ich bin stark. Ich brauche den Liebsten nicht täglich an meiner Seite.“ Und: „Ich bin tough. Ich habe die Kraft für diese Reisen.“ Und: „Ich habe einen intimen Kontakt in einer fernen, grossen Stadt. Ich habe ein aufregendes Leben.“

Nun gut, vielleicht hat Elfie das alles gar nicht mitgemeint. Elfie ist jung, klug und wirklich sehr liebenswürdig.

Aber ich habe es damals mitgemeint. Ich wusste es nur noch nicht. Bern-Luzern ging damals als Fernbeziehung noch ziemlich gut durch.

Ich sage Elfie dann doch nicht, was ich damals gelernt habe: dass eine Fernbeziehung erst richtig aufregend wird, wenn aus ihr eine Nahbeziehung werden könnte. Dann fallen die Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen: Bin ich tatsächlich stark? Oder habe ich mich nur für stark gehalten, weil er mich aus diskretem Abstand beschützt hat? Bin ich schon bereit, die Ketten der Monogamie definitiv zu tragen? Schrecke ich zurück, wenn ich die Schnappfalle Mutterschaft aufblitzen sehe? Manchmal fallen sie dann wie Hackebeilchen, die Antworten.

„Distanz“ heisst das sechzehnte Wort im Projekt *txt auf neonwilderness. Das hier ist mein Beitrag.