Mein neuer Job

Vom Bildschirm lächelt mich ein junger Mann an, höchstens 30, durchtrainiert bis in die Wangenmuskeln. Was um alles in der Welt macht sein Bild bei mir?!

„Passt auch ein .tif-Format auf die Seite?“ frage ich den Chef. „Ja, sollte gehen“, kommt postwendend die Antwort. Ich kopiere den Text ins Layout, ziehe das Porträtbild ins richtige Feld. Ja, .tif geht.

Dann lese ich den Text. Schnell wird klar: Der junge Mann ist bei einem Skitouren-Unfall ums Leben gekommen, 31-jährig. Er war die Aufstiegshoffnung eines KMU am Alpenrand, vor kurzem mit „der Frau seines Lebens“ in die gemeinsame Wohnung gezogen. Dann der letzte, grandiose Sonnenaufgang vor der Berghütte. Beim Abstieg ging etwas fürchterlich schief. Deshalb ist sein Bild hier, bei mir.

Das ist also die neue Aufgabe, die ich seit unserem letzten Stellenabbau zusätzlich habe: Nekrologe in die Zeitung packen. Wir haben auf dem Land noch diesen alten Brauch – man gedenkt der Verstorbenen mit einem Nachruf in der  Zeitung, maximal 5000 Zeichen (mit Leerschlägen). Die Hinterbliebenen schreiben den Text selbst. So geistern ¨die Verblichenen über meinen Bildschirm, mit einem kleinen Bild – immer schwarzweiss, wie es zum Genre gehört. Frauen, die zehn Kinder getragen haben. Männer, deren knapp bemessene Freizeit dem Jodlerchor gehörte, meist mit vom Alter gezeichneten Gesichtern. Es ist eine monotone Textsorte, die Stationen eines Lebens werden vorschriftsgemäss abgehakt. Doch oft ist viel Liebe zwischen den Zeilen, viel Familiensinn. Und dann und wann eine schockierende Geschichte.

Ich bearbeite ab jetzt um die drei Texte dieser Art, pro Woche. Auftrag ist, den Aufwand möglichst gering zu halten. Mein Chef erwartet von mir, dass ich diese neue Aufgabe mit gleichmütigem Achselzucken annehme, wie ich alles andere in den letzten Jahren angenommen habe. Sie hätten mich auch entlassen können. Diese Lösung gut für mein Portmonee, aber anspruchsvoll für mein Gemüt. Ich bin sonst die Frau für den Ärger und die Kontroversen. Damit kann ich umgehen. Dazwischen plötzlich umschalten auf Trauer und Weichheit? Ich weiss ja nicht.

Diese Nachrufe gehen mir aussergewöhnlich nahe. Ich möchte meinem Chef sagen, dass ich dem Tod eben selbst von der Schippe gekrochen bin, und dass ich Sehnsucht nach etwas anderem habe. Nach blühendem, lebendigem Leben.

Der Teufel als Hoteldirektor

Laird Cregar am Empfang zur Hölle im Hollywoodfilm „Ein himmlischer Sünder“, (1943)

Mein persönliches Ende scheint wieder in die Ferne gerückt zu sein – daher mutet es vielleicht merkwürdig an, wenn ich mich jetzt mit Jenseitsvorstellungen auseinandersetze. Aber ich finde das Bild oben aus dem Film von Ernst Lubitsch einfach zu köstlich, um es Euch vorzuenthalten. Daher dieser Blogbeitrag.

Es stellt Luzifer am Empfang zur Hölle so dar, wie man sich in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen Bank- oder Hoteldirektor vorstellte – jovial, aber höchst seriös führt er ein exklusives Etablissement. „Einen Pass zur Hölle bekommt man nicht auf Grund von Allgemeinplätzen“, sagt er zum Protagonisten des Films, der den Empfang eben betreten hat und merkwürdigerweise in der Hölle Einlass begehrt.

Der Streifen basiert auf einer volkstümlichen Jenseitsvorstellung des 20. Jahrhunderts. Sie besagte ungefähr, dass wir armen Sünder nach dem Hinschied erst mal bei Petrus an die Himmelstür klopfen. Petrus wird uns entweder einlassen oder – falls wir auf Erden zu sehr gesündigt  haben – zur Hölle schicken. Diese Vorstellung bot sich im 20. Jahrhundert auch für zahlreiche Witze an. Wer einen erzählt bekommen will, melde sich bitte – das hier ist eine ernste Sache.

Warum also meldet sich Henry van Cleve, Held von Lubitschs Film, nicht zuerst bei Petrus an, sondern kommt bussfertig gleich in den unteren Stock? Er beteuert, habe ein Leben dauernder Verfehlungen geführt. Doch muss er das erst genauer erklären, denn der satanische Herr am Empfang will ihm nicht glauben.

Henry breitet also seine Vita aus, die eines reichen Schürzenjägers, der seine Ehefrau verschiedene Male betrog.

Der Film kam neulich auf Arte, und schnell wurde mir klar, dass man ihn für militante Twitterblasen wohl mit einem Warnhinweis versehen müsste – er ist getragen von einem höchst altmodischen Frauen- und Männerbild. Zum Glück haben die Mitglieder der militanten Twitterblasen keine Zeit, solche alten Streifen auf Arte anzuschauen – und wir Ü50 haben gelernt, dass es keinen Sinn macht, die Filme vergangener Generationen unbesehen zur Hölle zu schicken, nur, weil sie andere Gender-Vorstellungen vertreten als wir. Es ist eine charmante Komödie, ein Zeitvertreib für Menschen, die für ein paar Stunden ihre Ängste vergessen wollen (es war gerade Zweiter Weltkrieg, als er in die Kinos kam). Er legt nahe, dass wir es auch im Jenseits einmal mit kompetentem und verständnisvollem Personal zu tun haben werden. Das ist doch tröstlich.

Weniger tröstlich, aber irgendwie doch plausibler dünkt mich die Jenseitsvorstellung der Stoiker, die Ferdinand von Schirach neulich in einem Interview zusammenfasste. Er bewies im Gespräch ebenfalls viel Stil. Den Tod müsse man nicht fürchten, sagt er. Der Tod sei „ein Zustand wie vor der Geburt. Epikur sagte, solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, sind wir es nicht mehr.“ Mit dem glauben an Hölle und Fegefeuer sei es vorbei, sagt Schirach. „Ich habe lange darüber nachgedacht, warum wir den Tod trotzdem noch fürchten. Ich glaube, es ist nur der Neid, dass die anderen weiterleben dürfen, man selbst aber nicht.“ Das ganze Interview findet sich hier.

Glückliche Unruhe im Ohr

„Unrueh“ ist ein Film, in dem Russisch, Französisch und Berndeutsch gesprochen wird.

Mein Freund, der Pedestrian, lockte mich neulich ins Kino. Der Film hiess Unrueh und spielt im Uhrenfabrikstädtchen Saint-Imier im wilden Berner Jura.

Ich hatte nur eine ängstliche Frage dazu: „Ist er untertitelt?“ Der Pedestrian versicherte: „Ja. Mindestens an den Stellen, an denen russisch oder französisch gesprochen wird.“ Das beruhigte mich nicht einmal annähernd. Denn die meisten Stellen in oft mehrsprachigen Deutschschweizer Filmen sind ja Deutsch gesprochen und somit nicht untertitelt. In letzter Zeit hörte ich oft zu schlecht, um dann folgen zu können. Aber ich wusste, dass Herr T. sich für den Film interessieren würde. Er dreht sich im die anarchistische Bewegung, die es in Saint-Imier im 19. Jahrhundert gab – über diese hat er bereits begeistert geschrieben (hier sein Blogbeitrag). „Unrueh“ bezeichnet das Teilchen, das Uhren am Laufen hält. Aber wohl auch das, was gerade bei der Arbeiterschaft in der Uhrenfabrik damals gärte.

Schon in der ersten Szene merkte ich, dass mit meinen Ohren etwas ganz Unglaubliches passiert sein muss: Ich konnte hören, dass die drei Frauen im Bild russisch sprachen. Ich höre also tatsächlich wieder besser. Merklich besser. Während der Pandemie hatte ich mein Gehör so rasant verloren, dass ich oft nur noch Lärm mitbekam, wenn jemand mich nicht sehr gezielt und in ruhiger Umgebung ansprach. Und das mit voll aufgedrehtem Hörgerät.

Dann musste ich mir im Oktober einen Backenzahn ziehen lassen, um den herum ich eine beträchtliche Zahnfleisch-Entzündung hatte. „Entzündungsherde im Körper fördern den Krebs“, begründete die Zahnärztin das Vorhaben. Sofort hatte ich nach dem wenig erbaulichen Eingriff ein Gefühl nachlassenden Drucks im Ohr – und wenige Tage danach besserte sich dann der Zustand meines Gehörs geradezu dramatisch. Seither geniesse ich jedes Dezibel. Man kann nie wissen, wie lange das Glück dauert.

Fragt mich also nicht nach der Handlung des Films. Ich versenkte mich geradezu verliebt in die Dialoge. Die Protagonisten sprechen ungezwungen ein weiches, helvetisches Französisch und ein zärtlich klingendes Berndeutsch miteinander, so ist das wohl an der Sprachgrenze. Dazwischen kommen Russen ins Spiel.

Einen der ersten Dialoge auf dem Gelände der Uhrenfabrik werde ich wohl nie vergessen. Eben haben Männer einen Teil des Fabrikgeländes gesperrt, wegen Fotoaufnahmen, glaube ich. Die ankommenden Arbeiterinnen werden angewiesen, einen Umweg zum Fabrikgebäude zu nehmen. Da sagt Josephine, eine der jungen Frauen: „Aber wenn ich aussen herum gehe, dann verliere ich vier Minuten.“ Sofort lassen die Herren sie ungehindert passieren. Hat man je eine punktgenauere Abhandlung über das Verhältnis von Zeit, Herrschaft und Selbstbehauptung im Kapitalismus gehört?

 

Unter den Pflastersteinen der Sand

Luzern vor 20 Millionen Jahren (Quelle: Gletschergarten)

Etwa vor einem Jahr lungerte ich morgens um vier Uhr in den Vorhöfen des Schlafes herum und wurde nicht eingelassen. Zum Zeitvertreib las ich einen Essay von Lauren Elkin, einer Amerikanerin, die lange in Paris gelebt hat und dort nach Herzenslust flanierte. „Sous le pavé la plage“ las ich da – „unter den Pflastersteinen das Meer“. Es ging um die Proteste von 1968, aber mein Hirn dachte im Halbschlaf: „Ja, wenn ich sterbe, werde ich zu Sand.“ Das war ein paar Monate, bevor ich eine Krebsdiagnose bekam.

Der Krebs gilt mittlerweile als besiegt. Aber er hat die Art, wie ich über das Jenseits denke, stark verändert. Geradezu verärgert bin ich von der Vorstellung, vor das so genannte Jüngste Gericht treten und mich für meine Lebensführung  verantworten zu müssen. Ich meine, was soll denn das überhaupt für ein Gericht sein?! Muss ich es mir wie das Kriminalgericht des Kantons Luzern vorstellen? Bekomme ich da auch eine Anwältin? Und die Paragraphen, nach denen der Richter urteilt? Sie stehen wahrscheinlich in der Bibel – aber die Auslegung und das Strafmass? Himmel? Hölle? Fegefeuer? Ich will ja nicht hochmütig sein (strafbar!), aber das kommt mir alles etwas vage vor.

Wer eine Chemotherapie macht, hat viel Zeit zum Grübeln – da geht man oft selbst streng mit sich ins Gericht. Lieber möchte ich eines Tages den ganzen Mist einfach hinter mir lassen und wie im Tiefschlaf in den Sand sinken. Dabei stellte ich mir immer vor, ich würde ein Sandkorn am Strand auf dem Bild oben – ein Bild, das ich schon als Kind im Luzerner Gletschergarten gesehen habe. Vielleicht, weil es für mich Heimat und exotisches Paradies zugleich ist.

Ich habe das alles in den letzten Wochen wieder vergessen. Aber eben habe ich  hier einen Beitrag von Hopkins gelesen. Da war plötzlich alles wieder da.

I Got Life, Mother!

Seit Anfang Woche arbeite ich wieder im Büro. Das ist schwieriger als ich gedacht habe. Ich fühle mich wie abgeschnitten von den anderen, die ich zum Teil monatelang nicht gesehen habe. Ein Neuanfang, auf den niemand gewartet hat.

Aber gestern Mittag ging ich mit dem Herrn Grossstadtrat zu Mittag essen. Wir speisten im Bistro an der Tagblattstrasse. Er ist ein langjähriger Kunde, und mit den Jahren sind unsere Treffen ungeschäftlicher und unsere Gespräche entspannter geworden.  Hinter uns sassen zwei pensionierte Herren Stadträte, die ich früher interviewt habe, und ihre ebenfalls pensionierten Chefbeamten. Niemand kann so viel Heiterkeit verbreiten wie Politiker, die ihre Arbeit getan haben und sich endlich in Ruhe ein Gläschen gönnen dürfen. Es ist sogar für die Leute am Nebentisch ansteckend.

Später traten der Herr Grossstadtrat und ich auf die Strasse, die Bäume am Strassenrand waren gelb, der Himmel strahlte. Als wir uns verabschiedeten, parkierte gerade eine junge Frau ihr Fahrrad beim Veloständer nebenan. Es war die Frau SP-Regierungsratskandidatin, nach der sich der Herr Grossstadtrat verstohlen umblickte.

Ich blickte in den Himmel und fühlte mich wie eben geboren. In meinem Kopf erschallte plötzlich ein Song, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe. Aber ich hörte ihn klar, jede Modulation in der Stimme des Sängers, und ich konnte erstaunlicherweise weite Strecken des Textes auswendig: „I got life, mother; I got laughs, sister; I got freedom, brother; I got good times, man.

I got crazy ways, daughter; I got million dollar charm, cousin; I got headaches and toothaches; And bad times too like you!

I got my hair; I got my head; I got my brains; … I got my ass; I got my arms; I got my hands; I got my fingers; I got my legs; I got my feet; I got my toes; I got my liver; I got my blood;  got my guts; got my muscles I got life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)“
Hier und hier alles darüber.

Wenn ein Tisch dagewesen wäre, hätte ich glatt darauf zu tanzen begonnen.

 

Dostojewski lesen

Eines Sonntags im Juli  traf ich bei der nachbarschaftlichen Kehrichtsammelstelle den Doppelbuddha. Damals war ich noch kahl, hatte aber vergessen, mir einen Hut aufzusetzen. Ich hatte nur ein Käppi aus Strumpfstoff an, wie man es unter Perücken trägt.

„Meine Güte, hast Du Chemo?!“ rief der Doppelbuddha aus. Er tat dies derart spontan, dass ich sehr berührt war. Ich bejahte, wir redeten, und irgendwann sagte ich:  „Ach, weisst Du, das Gute daran ist: Man hat viel Zeit zum Lesen. Ich nehme mir gerade so richtig dicke Wälzer vor.“ Er sagte: „Na, dann könntest Du ja mal Dostojewski lesen. Ich leihe Dir ‚Der Idiot‘ aus, wenn Du willst.“ Weil er so nett gewesen war, sagte ich nach einigem Zögern: „Ok, sehr gerne! Wenn Du ihn vorbeibringst, dann komm doch gleich mit Frau Doppelbuddha zum Apero!“ So machten wir es und hatten einen sehr vergnüglichen Abend.

Dann begann ich, den Roman zu lesen, 950 Seiten. Ein Stück Weltliteratur, dem – so hatte ich im Literaturstudium gelernt – mit grösster Hochachtung zu begegnen ist. Ich befürchtete gepflegte Langeweile, aber „Der Idiot“ elektrisierte mich am Anfang geradezu. Die zwei Fremden, die im Zug nach St. Petersburg Bekanntschaft schliessen!  Die mysteriöse Schönheit Nastasja Filippowna! Als Teenager von ihrem Adoptivvater sexuell missbraucht, wird sie von der Gesellschaft als gefallene Frau behandelt. Dass man ihren Stiefvater ins Gefängnis stecken sollte, kommt niemandem in den Sinn! Was für eine Welt!

Die zwei Männer aus dem Zug verfallen Nastasja Filippovna schnell mit Haut und Haaren: der reiche Kaufmannssohn Rogoschin sowie der als Idiot bezeichnete Protagonist des Romans, der junge Fürst Myschkin. Myschkin ist Epileptiker und gerade von einem jahrelangen Kuraufenthalt in den Schweizer Bergen zurückgekehrt. Er ist ein herzensguter, aber in gesellschaftlichen Dingen total unbeholfener Jüngling.

Es ist kein familientauglicher Gesellschaftsroman, wie wir sie sonst aus dem 19. Jahrhundert kennen. Myschkin denkt viel über Grausamkeit, Armut und Tod nach. Auch das packte mich. Ich hatte mich selbst mit Fragen zu beschäftigen, die man nicht so leicht familientauglich abhandeln kann.

Am 31. August ging ich mit meinem alten Freund, dem Slawisten und Zweifler Chäppeli, spazieren. Wir diskutierten zuerst ein bisschen über den Zustand der Welt, den Krieg und all das. Dann erzählte ich ihm freudig von meiner Dostojewski-Lektüre und fragte ihn, was er von dem Roman gehalten habe. Er zögerte, wie es seine Art ist und sagte dann: „Nun ja, Dostojewski sollte man ja jetzt auch nicht mehr lesen.“

Es war die Zeit, als alle Welt über „Der junge Winnetou“ und andere Arten kultureller Aneignung diskutierte, und ich dachte: „Oh nein, nicht noch mehr Zensur! Man kann doch einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nicht für die Verbrechen des 21. schuldig sprechen!“ Aber Chäppelis Bemerkung sollte meinen Blick auf das Buch erheblich verändern.

 

Fieberträume auf der Zielgeraden

Auf meinem Nachttisch lag diese Karte aus einem Buch, das mir ein Nachbar geliehen hatte.
Bis Montag pilgerte ich täglich ins Kantonsspital zur Bestrahlung. Ich lag in einem leeren Raum auf dem Schragen, während seltsame Apparate um mich herum ihre Kreise drehten wie unbewohnte Planeten. Ich hatte erwartet, irgendwelche Strahlen zu sehen, eine Art Laser. Aber das ist natürlich dumm – ionisierende Strahlen sieht man ja nicht.

Einer der Planeten ist eine Halbkugel, deren flache Seite mit einer Glasscheibe bedeckt ist. Dahinter sieht man eiserne Zähne sich bewegen, als kaue dort ein grimmiges Felsenorakel etwas Unsichtbares. Ich habe immer hundert Fragen an das Orakel, wenn ich so daliege. Aber ich konnte sie nicht einmal in Worte fassen und sowieso nicht aussprechen. Egal, dachte ich. Ich bin auf der Zielgeraden. Bald bin ich nach bestem Wissen und Gewissen auskuriert. Ich ein neues Leben geschenkt bekommen – noch bevor ich richtig begriffen habe, dass ich eins brauche.

15 Termine sind es insgesamt, am Montag hatte ich den achten. Unter dem Orakel tat mir da schon der Hals weh, und gegen Abend stieg meine Temperatur. Dann kam eine eine jener Nächte, in denen man Väterchen Frost in den Gliedern spürt und glaubt, gar nicht zu schlafen und doch siebenmal dasselbe träumt. Der Bestrahlungstermin fiel ins Wasser, ich legte mich ins Bett und las, wenn ich konnte. Auf meinem Nachttisch lag die Karte aus einem Buch, das Nachbar Doppelbuddha mir ausgeliehen hatte.

Ich finde Fiebertage an sich spannend, sie machen seltsame Dinge mit dem Gehirn. Solange ich annehmen kann, dass nachher wieder alles gut ist, gebe ich mich gerne dem Delirium hin, das sich so ab 38.8 Grad Celsius bei mir einzustellen pflegt. Gegen Abend spürte ich Flammen aus meinen Knochen gegen das Duvet züngeln und alles tat weh und ich dachte: „Jetzt strecke ich mich aus und lasse mich vom Tod wegtragen.“ Ich probierte zehn Minuten lang aus, ob das tatsächlich möglich wäre, dann drehte ich mich um und erblickte auf dem Nachttischchen das Bild, das mir diesen albernen Gedanken überhaupt eingeflösst hatte. Ich stand auf und machte mir ein Neocitran. Danach ebbte das Fieber ab.

Am nächsten Tag ging ich ins Covid-19-Testzentrum. Und siehe da: Ich war positiv. Die Bestrahlung fällt somit bis Montag ins Wasser. Aber jetzt huste ich nur noch ein bisschen. Und ich kann wieder Dinge in Wort fassen. Alles wird gut.

Früchtchen und Fragen

Werden aus diesen Knöllchen Kumquats werden?
Herr T. hat dann doch kein Covid-19 bekommen, und mittlerweile sind meine Blutwerte wieder beinahe normal. Essen schmeckt wieder besser, und gestern habe ich einen langen Spaziergang mit dem Pedestrian gemacht. Ich bin dafür sogar in einen nicht allzu vollen Überlandbus gestiegen und habe mich dem in der Schweiz stets spürbaren Druck gebeugt, dabei keine Maske zu tragen. „Bin ich jetzt gerettet?“ frage ich mich. Mir ist klar: Sicher sein werde ich vielleicht nie.

Täglich tue ich zwei Dinge: Ich gehe hinaus auf den Südbalkon und betrachte unser Kumquat-Bäumchen, das dieses Jahr zum ersten Mal geblüht hat. Ich betrachte die grünen Knöllchen, die zurückgeblieben sind und frage mich: Werden daraus orange Früchte werden? Werden sie vielleicht sogar reif? Und mit der gleichen Mischung aus Neugier, Freude und Ungeduld lüfte ich den Turban auf meinem Kopf, zupfe an einem der noch spärlichen Stoppel und frage mich: Bekomme ich jetzt wieder Haare?

Ab jetzt könnte es aufwärts gehen

Gestern musste ich zum Bluttest in die Onkologie. Die letzte Dosis Chemo hatte ich zehn Tage zuvor bekommen, der Bluttest sieht erwartbar mies aus, zwei Drittel der Blutwerte sind im Keller. Besonders tief ist der Wert bei den Leukozyten. Ich habe noch 0.6 Giga/l (normal wäre so ab 2.6). Die Ärztin sagte: „Ja, das macht Sie jetzt etwas anfällig auf Infektionen. Melden Sie sich bitte sofort, falls Sie Fieber haben. Da müssen wir Ihnen dann notfalls eine Transfusion machen.“ Aber sie sagte auch: „Der Tiefpunkt ist jetzt erreicht. So innert drei Wochen sollten sich die meisten Blutwerte normalisieren, und dann werden Sie sich besser fühlen.“

Gestern Abend hatte ich danach zum ersten Mal sowas wie ein Wendepunkt-Gefühl. Ich lag dabei ermattet, wie ich es im Moment bin, auf unserem Sofa, genehmigte mir ein Glas Rotwein und schaute mir den georgischen Tanzfilm And Then We Danced an. Der Hauptdarsteller Levan Gelbakhiani, ist zum Niederknien.

Herr T. war nicht da. Er hatte mit unserem Nachbarn, dem Buddha, ein kleines Konzert organisiert. Der Buddha konnte dann zwar nicht kommen, er hat Covid-19. Herr T. hätte das Festchen wohl absagen können. Warum er es nicht tat, wird sein Geheimnis bleiben. Als er zurückkam, sah er richtig glücklich aus, das sah ich auch aus der Distanz von zwei Metern und bei offenen Fenstern. „Frau Buddha kam dann auch“, berichtete er. „Ich weiss ja nicht, wie die beiden das machen, dass sie einander nicht anstecken.“

Bitte versteht mich nicht falsch. Ich will hier nicht über meinen Ehemann lästern, er ist mir vier Monate lang sehr hilfsbereit zur Seite gestanden. Er muss auch mal aus der sauren Routine hier ausbrechen können. Aber heute können wir ja wieder erst am Abend lüften, weil es immer noch so heiss ist – und ich bin jetzt erst mal mit einer FFP2-Maske in unserer Wohnung unterwegs.

Die Wolfstreppe

Die berühmte Kirche Madonna del Sasso in Orselina mit Treppe, die Teil des alten Wegnetzes hinunter nach Locarno ist.
Schliesslich konnten Herr T. und ich dann doch noch ein paar Tage in die Ferien. Wenn man krank ist, ist es immer dasselbe: Vieles geht nicht wie früher, tja, da muss man neue Wege finden – und das versuchen Herr T. und ich gerade. Schliesslich reisten wir in unser geliebtes Orselina im Tessin. An meinem Geburtstag tafelten wir in einem Restaurant, am nächsten Tag waren wir früh mit Freunden in Locarno verabredet. „Lass uns zu Fuss hinunterhingehen“, sagte ich abends zu Herrn T., „ich brauche einen Spaziergang.“ Tatsächlich erreicht man Locarno von Orselina aus zu Fuss in ungefähr 25 Minuten. Ich behaupte sogar, dass man gleich schnell ist wie die vielen Millionäre dort oben, die sich mit Geländewagen die engen Kurven hinunterzwängen. Aber man muss halt das alte Wegnetz kennen.

Dieses haben wir während mehreren Ferien erforscht, die Wolfstreppe entdeckte ich 2016. Damals machte Herr T. eines Tages eine Bergwanderung, zu der ich gerade nicht imstande war. Schon damals war Herr Menière schuld, wenn ich mich richtig erinnere. Ich fuhr mit dem Bus nach Locarno und wollte auf dem Rückweg wenigstens einen Spaziergang machen. So entdeckte ich die Salita del Lupo, die sehr lang ist und fadengerade aufwärts führt. Man muss wissen: Zwischen Locarno und Orselina liegen ungefähr 250 Meter Höhedifferenz. Mehr als die Hälfte legt man auf der Wolfstreppe zurück. Danach muss man, von unten her kommend, einer Klinik und einer Bonzenvilla ausweichen, dahinter verzweigen sich zwei weitere Treppchen, beide führen in den oberen Dorfteil. Sie sind alt und wirken planvoll angelegt. Ich glaube, früher wurden sie rege benutzt, die Bonzenvilla hat man später dann einfach über den Weg gebaut, Motto: „Wer geht schon zu Fuss heute? Haben doch alle ein Auto!“

Auf der Wolfstreppe also wollte ich also hinunter nach Locarno und studierte spätabends die Karte, um am nächsten Morgen der Bonzenvilla gekonnt ausweichen zu können. Die Stufen führen durch unbebautes Land, das sich auf der Karte auftut wie eine gefährliche Wildnis. Nun erst dämmerte mir wieder, wie verdammt steil die Wolfstreppe ist. Hatte sie überhaupt einen Handlauf? Ich glaube nicht. Eine steile Treppe ohne Handlauf abwärts gehen – da kann ich mich ebensogut gleich in einen Abgrund stürzen, die Chemo hat dem Karussell in meinem Innenohr ordentlich Schub verliehen.

Oder waren meine Ängste übertrieben? Und hatte die Treppe vielleicht doch einen Handlauf? Ich haderte lange, dann gestand ich Herrn T. das Problem. Es war spät abends, und er hatte null Verständnis für meinen plötzlichen Sinneswandel. Dass ich schlecht höre, versteht er. Aber beim Schwindel denkt er manchmal, ich würde meine Möglichkeiten unterschätzen.

„Es gibt eine Alternative“, sagte ich. „Wir gehen einfach bei der Madonna del Sasso vorbei. Dort gibt es einen Handlauf.“ Die Madonna del Sasso liegt im unteren Dorfteil.

„Das ist ein verdammter Umweg“, schimpfte Herr T. „So früh am Morgen braucht das zu viel Zeit.“ Wir sind beide keine Frühaufsteher.

Wir grummelten ein bisschen, dann legten wir uns schlafen. Am Morgen erwachte ich schon um 7 Uhr, und siehe da: Herr T. war auch wach. So gingen wir bei der Madonna del Sasso bergab. Wir waren sogar zu früh in Locarno.

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