Fondue-Öfchen, meist Rechaud genannt. Bei Gebrauch nimmt man den gelben Deckel unten ab, giesst Sprit in die Öffnung und zündet ihn an. Dann stellt man den Käse oben drauf und hält ihn so warm. (Bild: Galaxus.ch)
„Das esch ned mis Reschoo.“
Heisst auf Hochdeutsch: „Das ist nicht mein Rechaud.“ Wobei mit „Rechaud“ vermutlich ein Fondue-Öfeli gemeint ist. Die Redensart ahmt im Spott eine ungebildete Person nach, die eigentlich sagen will: „Das gehört nicht in mein Ressort.“ Oder: „Davon verstehe ich nichts.“ Oder, selbstironisch: „Fremdwörter sind Glückssache.“
Erläuterungen 1: Neulich schrieb ich in einem Whatsapp an eine Freundin das Wort „Misogynie“ mit zwei „Y“, also: „Mysogynie“. Als ich den Fehler bemerkte, war es mir erst furchtbar peinlich. Dann hörte ich Geiste das Gelächter meiner leider im letzten Sommer verstorbenen Freundin Reni. Sie war etwas älter als die anderen in unserer Jugendclique. Irgendetwas hatte ihrem Selbstvertrauen schon schwer zugesetzt, als sie zu uns stiess. Sie beschränkte sich im Leben auf kleine Ressorts und sagte zu allem anderen oft: „Das esch ned mis Reschoo.“ Und dann lachte sie, ein Weltgelächter. Ich vermisse sie!
Erläuterungen 2: Wir leben gerade in einer Zeit, in der ein US-Medienunternehmer auch noch ein ganzes US-Ministerium zu seinen Rechauds zählen darf. Und jetzt masst er sich an, auch noch die europäische Politik zu seinem Rechaud zu erklären und giesst ungeheuerlich viel Sprit hinein. Ich fürchte, er setzt noch die ganze Stube in Brand!
Nur dank einiger Gewissheiten hangeln wir uns mit Gelassenheit durch den Alltag. „Nein, Brustkrebs bekomme ich nicht!“, war für mich so eine Gewissheit. Ich hatte dann doch Brustkrebs, gelte jetzt aber als krebsfrei. Eine andere: „Ich höre zwar sehr schlecht, aber meine Augen sind tiptop!“ Dann kamen die Scharen von Mücken, Würmern und Staubflusen im linken Augenwinkel, ein ganzes Wochenende lang. Und schwarze und helle Blitzchen. Am Montag Panikbesuch beim Opthalmologen. Jetzt weiss ich: Die Schatten sind für mein Alter normal. Wenn es wieder blitzt, muss ich vielleicht nochmals zum Arzt. Aber wie eine Gewissheit fühlt sich das nicht an.
Im Lateinunterricht lernten wir: Mors certa est. Hora incerta. Der Tod ist uns gewiss. Aber nicht seine Stunde. „Ein Gemeinplatz“, dachte ich als Gymnasiastin. Aber jetzt sehe ich das anders. Jetzt frage ich mich, wie man lebt, wenn man sich von der Ungewissheit durch den Alltag leiten lässt.
„Unrueh“ ist ein Film, in dem Russisch, Französisch und Berndeutsch gesprochen wird.
Mein Freund, der Pedestrian, lockte mich neulich ins Kino. Der Film hiess Unrueh und spielt im Uhrenfabrikstädtchen Saint-Imier im wilden Berner Jura.
Ich hatte nur eine ängstliche Frage dazu: „Ist er untertitelt?“ Der Pedestrian versicherte: „Ja. Mindestens an den Stellen, an denen russisch oder französisch gesprochen wird.“ Das beruhigte mich nicht einmal annähernd. Denn die meisten Stellen in oft mehrsprachigen Deutschschweizer Filmen sind ja Deutsch gesprochen und somit nicht untertitelt. In letzter Zeit hörte ich oft zu schlecht, um dann folgen zu können. Aber ich wusste, dass Herr T. sich für den Film interessieren würde. Er dreht sich im die anarchistische Bewegung, die es in Saint-Imier im 19. Jahrhundert gab – über diese hat er bereits begeistert geschrieben (hier sein Blogbeitrag). „Unrueh“ bezeichnet das Teilchen, das Uhren am Laufen hält. Aber wohl auch das, was gerade bei der Arbeiterschaft in der Uhrenfabrik damals gärte.
Schon in der ersten Szene merkte ich, dass mit meinen Ohren etwas ganz Unglaubliches passiert sein muss: Ich konnte hören, dass die drei Frauen im Bild russisch sprachen. Ich höre also tatsächlich wieder besser. Merklich besser. Während der Pandemie hatte ich mein Gehör so rasant verloren, dass ich oft nur noch Lärm mitbekam, wenn jemand mich nicht sehr gezielt und in ruhiger Umgebung ansprach. Und das mit voll aufgedrehtem Hörgerät.
Dann musste ich mir im Oktober einen Backenzahn ziehen lassen, um den herum ich eine beträchtliche Zahnfleisch-Entzündung hatte. „Entzündungsherde im Körper fördern den Krebs“, begründete die Zahnärztin das Vorhaben. Sofort hatte ich nach dem wenig erbaulichen Eingriff ein Gefühl nachlassenden Drucks im Ohr – und wenige Tage danach besserte sich dann der Zustand meines Gehörs geradezu dramatisch. Seither geniesse ich jedes Dezibel. Man kann nie wissen, wie lange das Glück dauert.
Fragt mich also nicht nach der Handlung des Films. Ich versenkte mich geradezu verliebt in die Dialoge. Die Protagonisten sprechen ungezwungen ein weiches, helvetisches Französisch und ein zärtlich klingendes Berndeutsch miteinander, so ist das wohl an der Sprachgrenze. Dazwischen kommen Russen ins Spiel.
Einen der ersten Dialoge auf dem Gelände der Uhrenfabrik werde ich wohl nie vergessen. Eben haben Männer einen Teil des Fabrikgeländes gesperrt, wegen Fotoaufnahmen, glaube ich. Die ankommenden Arbeiterinnen werden angewiesen, einen Umweg zum Fabrikgebäude zu nehmen. Da sagt Josephine, eine der jungen Frauen: „Aber wenn ich aussen herum gehe, dann verliere ich vier Minuten.“ Sofort lassen die Herren sie ungehindert passieren. Hat man je eine punktgenauere Abhandlung über das Verhältnis von Zeit, Herrschaft und Selbstbehauptung im Kapitalismus gehört?
Auf meinem Nachttisch lag diese Karte aus einem Buch, das mir ein Nachbar geliehen hatte.
Bis Montag pilgerte ich täglich ins Kantonsspital zur Bestrahlung. Ich lag in einem leeren Raum auf dem Schragen, während seltsame Apparate um mich herum ihre Kreise drehten wie unbewohnte Planeten. Ich hatte erwartet, irgendwelche Strahlen zu sehen, eine Art Laser. Aber das ist natürlich dumm – ionisierende Strahlen sieht man ja nicht.
Einer der Planeten ist eine Halbkugel, deren flache Seite mit einer Glasscheibe bedeckt ist. Dahinter sieht man eiserne Zähne sich bewegen, als kaue ein grimmiges Felsenorakel etwas Unsichtbares. Ich habe immer hundert Fragen an das Orakel, wenn ich so daliege. Aber ich konnte sie nicht einmal in Worte fassen und sowieso nicht aussprechen. Egal, dachte ich. Ich bin auf der Zielgeraden. Bald bin ich nach bestem Wissen und Gewissen auskuriert. Ich ein neues Leben geschenkt bekommen – noch bevor ich richtig begriffen habe, dass ich eins brauche.
15 Termine sind es insgesamt, am Montag hatte ich den achten. Unter dem Orakel tat mir da schon der Hals weh, und gegen Abend stieg meine Temperatur. Dann kam eine eine jener Nächte, in denen man Väterchen Frost in den Gliedern spürt und glaubt, gar nicht zu schlafen und doch siebenmal dasselbe träumt. Der Bestrahlungstermin fiel ins Wasser, ich legte mich ins Bett und las, wenn ich konnte. Auf meinem Nachttisch lag die Karte aus einem Buch, das Nachbar Doppelbuddha mir ausgeliehen hatte.
Ich finde Fiebertage an sich spannend, sie machen seltsame Dinge mit dem Gehirn. Solange ich annehmen kann, dass nachher wieder alles gut ist, gebe ich mich gerne dem Delirium hin, das sich so ab 38.8 Grad Celsius bei mir einzustellen pflegt. Gegen Abend spürte ich Flammen aus meinen Knochen gegen das Duvet züngeln und alles tat weh und ich dachte: „Jetzt strecke ich mich aus und lasse mich vom Tod wegtragen.“ Ich probierte zehn Minuten lang aus, ob das tatsächlich möglich wäre, dann drehte ich mich um und erblickte auf dem Nachttischchen das Bild, das mir diesen albernen Gedanken überhaupt eingeflösst hatte. Ich stand auf und machte mir ein Neocitran. Danach ebbte das Fieber ab.
Am nächsten Tag ging ich ins Covid-19-Testzentrum. Und siehe da: Ich war positiv. Die Bestrahlung fällt somit bis Montag ins Wasser. Aber jetzt huste ich nur noch ein bisschen. Und ich kann wieder Dinge in Wort fassen. Alles wird gut.
Gestern musste ich zum Bluttest in die Onkologie. Die letzte Dosis Chemo hatte ich zehn Tage zuvor bekommen, der Bluttest sieht erwartbar mies aus, zwei Drittel der Blutwerte sind im Keller. Besonders tief ist der Wert bei den Leukozyten. Ich habe noch 0.6 Giga/l (normal wäre so ab 2.6). Die Ärztin sagte: „Ja, das macht Sie jetzt etwas anfällig auf Infektionen. Melden Sie sich bitte sofort, falls Sie Fieber haben. Da müssen wir Ihnen dann notfalls eine Transfusion machen.“ Aber sie sagte auch: „Der Tiefpunkt ist jetzt erreicht. So innert drei Wochen sollten sich die meisten Blutwerte normalisieren, und dann werden Sie sich besser fühlen.“
Gestern Abend hatte ich danach zum ersten Mal sowas wie ein Wendepunkt-Gefühl. Ich lag dabei ermattet, wie ich es im Moment bin, auf unserem Sofa, genehmigte mir ein Glas Rotwein und schaute mir den georgischen Tanzfilm And Then We Danced an. Der Hauptdarsteller Levan Gelbakhiani, ist zum Niederknien.
Herr T. war nicht da. Er hatte mit unserem Nachbarn, dem Buddha, ein kleines Konzert organisiert. Der Buddha konnte dann zwar nicht kommen, er hat Covid-19. Herr T. hätte das Festchen wohl absagen können. Warum er es nicht tat, wird sein Geheimnis bleiben. Als er zurückkam, sah er richtig glücklich aus, das sah ich auch aus der Distanz von zwei Metern und bei offenen Fenstern. „Frau Buddha kam dann auch“, berichtete er. „Ich weiss ja nicht, wie die beiden das machen, dass sie einander nicht anstecken.“
Bitte versteht mich nicht falsch. Ich will hier nicht über meinen Ehemann lästern, er ist mir vier Monate lang sehr hilfsbereit zur Seite gestanden. Er muss auch mal aus der sauren Routine hier ausbrechen können. Aber heute können wir ja wieder erst am Abend lüften, weil es immer noch so heiss ist – und ich bin jetzt erst mal mit einer FFP2-Maske in unserer Wohnung unterwegs.
Der Fotograf Jean-Pierre Pedrazzini (1927 bis 1956), dessen Bilder wir gerade an uns vorbeiziehen lassen.Da sitzen wir und haben Ferien, Herr T. und ich. Eigentlich wären wir jetzt am Filmfestival Solothurn. Dort würden wir mit Hunderten anderen Menschen im Kino sitzen, Schulter an Schulter, geschützt nur durch Impfung und Maske. Wir haben in der Schweiz laut corona-in-zahlen.de gerade eine Inzidenz von 2665 Fällen im 7-Tage-Schnitt (in Deutschland sind es 894, in Österreich 1840). Und das ohne Dunkelziffer – die Tests sind knapp.
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in Solothurn anstecken?“ fragte Herr T. Frau Frogg sagte forsch: „Ungefähr 100 Prozent, oder?“ So stornierten wir unser Hotelzimmer im „Kreuz“. Ich will kein Long Covid, und ich will kein Spitalbett besetzen, solange ich anders kann. Herr T. streamt uns zu Hause Schweizer Filme. Wir sitzen auf unserem Sofa wie hinter der Omikronwand versteckte Guerillakämpfer, zu zweit gegen das Virus und unsere Regierung, die uns durchseuchen will und es nicht so nennt.
Ich bin vom vielen Filmeschauen etwas geistesabwesend geworden. Die Tage haben ihre Struktur verloren, ich lasse die Bilder wie im Traum an mir vorbeiziehen. „Pédra, ein Reporter ohne Grenzen“ mit Bildern des Tessiner Fotografen Jean-Pierre Pedrazzini, ein Journalisten-Star der fünfziger Jahre, er fotografierte Sofia Loren und Prinzessin Margaret in einem Boot in Asien. Später bereiste er die Sowjetunion, dazu gibt’s Footage von ukrainischen Bauern bei der Heuernte, ein archaisches Ritual. Darüber schieben sich Bilder aus meinem Kopfkino, von Schweizer Heuernten in den achtziger Jahren und von der russischen Stadt Tula, wo ich einmal gewesen bin. Eine Stadt, deren Namen ich vorher nicht gekannt hatte, eine grosse Stadt voller Menschen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte. Pédra starb 1956, erschossen beim Aufstand in Ungarn.
Der Film wirkt seltsam unfertig, hört einfach auf nach dem Tod Pédras, als hätte der Fotograf nicht eine Frau hinterlassen, der er von unterwegs die sehnsüchtigsten Liebesbriefe geschrieben hatte. Ich stehe auf, strecke mich, bekomme Fernweh. Am Nachmittag werden wir spazierengehen.
39 Titel habe ich auf der Liste der Bücher vermerkt, die ich 2021 gelesen habe. Das sieht nach wenig aus. Aber es waren einige richtige Büchergiganten dabei. Wenn ich einen oder zwei dieser zentnerschweren Werke auf der Liste unten vermerke, dann tue ich es, weil sie meine Gedanken immer noch begleiten. Aber auch ein wenig aus Stolz darüber, dass ich sie tatsächlich geschafft habe. Beginnen werde ich jedoch mit einem vergleichsweise dünnen Band, der für mich gewichtige Fragen aufwirft:
Claudia Durastanti: „Die Fremde“, Paul Zsolnay Verlag, 2021, 256 Seiten
Die 38-jährige italienisch-englische Schriftstellerin schreibt unter anderem über ihre Eltern, die beide gehörlos waren. Es ist ein schonungsloses, bisweilen grausames Buch, jenseits aller Gebärdensprach-Klischees. Über ihren Vater steht da: „Dann nahm er eines Tages eine junge Frau in den Arm, und er entdeckte, dass er sein ganzes Leben lang nach einem Menschen gesucht hatte, der ihm glich. Einem Menschen, der die Behinderung nicht mit Mut oder Würde, sondern mit Leichtsinn meistern wollte.“ Dann machen sich die beiden auf eine Reise, bei der sie alle Regeln des umsichtigen Benehmens in den Wind schlagen. Aber ist das dann wirklich Liebe oder oder vielleicht doch vor allem geteiltes Schicksal? Ich habe mir da noch keine abschliessende Meinung gebildet.
Pures Leseglück, in einem starken, zeitgenössischen Englisch, mal sehr lustig, mal wütend, mal geradezu hymnisch. Ich zögerte lange, es zu lesen, weil es in einer Art Versform geschrieben ist und beinahe ohne Satzzeichen auskommt. Aber lasst Euch davon nicht abschrecken – es ist einfach wunderbar. In lockerer Form beschreibt es die Lebensgeschichten von 12 Frauen im Vereinigten Königreich, fast alle schwarz, viele lesbisch, eine transsexuell. Alle Figuren überschreiten Grenzen, die der Rassismus, das Klassensystem oder ihr Geschlecht ihnen setzen. Und dann setzt Evaristo nach 453 Seiten eine grossartige Schlusspointe. Sollte ich 2022 etwas trübsinnig werden, werde ich es nochmals lesen.
Hannah Arendt: „Eichmann in Jerusalem“, Piper Verlag, 17. Auflage März 2021, 438 Seiten
Ich preschte im Juni in fünf Tagen durch dieses Buch, als wir auf einem idyllischen Campingplatz im Jura festsassen. Das heitere Wetter und Blick auf den ruhig dahinziehenden Fluss machte die präzisen Schilderungen der Judenvernichtung im Buch gerade noch erträglich. Ich las den Klassiker über Adolf Eichmann, den Logistiker des Genozids, weil mich meine eigenen Gewissensqualen umtrieben: Im Verlauf der Pandemie war ich mit meinem kleinen Büro wider Willen ein Kommunikationszentrum der Covidskeptiker geworden. Gebunden vom Recht auf freie Meinungsäusserung konnte ich nichts dagegen tun. Ich hatte schier unerträgliche Halbwahrheiten und Verdrehungen zur Veröffentlichung gebracht. Konnte ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, auf einem solchen Job sitzen zu bleiben? Eine schlüssige Antwort bekam ich nicht von Arendt, aber einen Hinweis: Auf das Gewissen zu hören, ist nie verkehrt. Wie es mit meinem Job weitergegangen ist, erzähle ich ein andermal.
Vor ein paar Wochen kontaktierte mich ein junger Mann, nennen wir ihn Kemal Abdul. Er sei Kochlehrling und schreibe an einer Diplomarbeit über „Manipulation in den Medien“, erklärte er. Er wolle eine Zeitungsfrau treffen. „Ok“, dachte ich und lud in für ein Gespräch in unsere Betriebscafeteria ein. Der ganze Austausch fand in E-Mails statt, ich telefoniere ja nur, wenn es nicht anders geht. Am Morgen vor unserem Treffen kündigte Herr Abdul an, er werde einen Kollegen mitbringen. Da passierte etwas Merkwürdiges in meinem Kopf: Plötzlich bekam ich Angst, die beiden seien Terroristen und wollten sich gewaltsam Zugang zu unseren Büros verschaffen. Das ist nicht gänzlich lachhaft, ich habe auch schon gewaltbereite Leute in der Cafeteria empfangen. Meine Phantasie machte wilde Sprünge. Dann erinnerte ich mich an eine Szene im Buch von Ayad Akhtar. Er schildert dort die Begegnung seines literarischen Alter Ego mit einem Polizisten in einem Kaff in den USA. Der Ordnungshüter liest den Namen Ayad Akhtar in seinem Führerschein und hält den völlig unschuldigen Sohn pakistanischer Einwanderer sofort für einen Terroristen. Von da an gehen die Dinge schrecklich schief. „Nein, ich bin nicht wie dieser Polizist“, dachte ich. Aber ich schrieb Herrn Abdul, pandemiebedingt möchte ich ihn alleine treffen. Später ging ich entschlossen in die Cafeteria, um einem 23-jährigen Jungen mit geradezu kindlich unschuldigen Augen die Hand zu schütteln. Seither und seit der Lektüre dieses Buches habe ich oft versucht, die Dinge aus der Sicht von Migranten zu sehen, wenn ich nicht ganz gelungene Begegnungen mit einem von ihnen hatte. Der Roman ist ausserdem ein Festessen für literarische Gourmets, vielschichtig und überaus reich an sprachlichen Finessen.
Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe des Hilfbuchhalters Bernardo Soares“, Fischer Taschenbuch, 8. Auflage, November 2019, 573 Seiten
Was soll ich sagen? Ich habe über dieses Buch hier und hier geschrieben. Es hat mich mehr als zwei Monate lang beschäftigt. Pessoa lässt darin den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares erzählen – über seine Stadt, sein Leben, seine Seele. Wir lernen viel, unter anderem, dass auch kleine Hilfsbuchhalter manchmal eine unermesslich grosse Seele haben.
Am Donnerstag konnte ich mich boostern lassen. Mein linker Arm seufzte leise: „Nicht schon wieder eine Spritze!“ Ich habe mich dieses Jahr ja nicht nur dreimal gegen Covid-19 impfen lassen, sondern auch einmal gegen die Grippe. Eine Grippe kann mir schwer auf die Ohren schlagen, das weiss ich aus Erfahrung. Also mache ich das halt auch noch.
Gestern dann wieder heftige Nebenwirkungen: Moderna-Arm, gegen 38 Grad Temperatur, und mein Knochengestell fühlte sich an wie eine Burgruine bei minus 8 Grad. Sorgen machte ich mir deswegen keine – das hatte ich beim letzten Mal Moderna auch. Wo immer man nachforscht, man wird lesen: Nebenwirkungen zeigen, dass das Immunsystem reagiert und dass die Impfung wirkt. Herr T., der sich gleichentags hat boostern lassen, hatte nichts. Wirkt die Impfung bei ihm nicht? Wahrscheinlich doch, liest man überall.
Zufälligerweise bin ich im Tagesanzeigerauf einen Bericht über Nebenwirkungen bei geimpften Kindern gestossen. 2268 Kinder bekamen eine Spritze, bei zwei Dritteln war Pfizer drin. Ein weiteres Drittel, die Kontrollgruppe, bekam einfach Kochsalzlösung. 51 Prozent der geimpften Kinder hatten Beschwerden wie Erschöpfung, diverse Schmerzen, Schüttelfrost und Fieber. Allerdings hatten auch 37 Prozent der mit Kochsalzlösung gespritzten Kinder solche Nebenwirkungen.
Kann es demnach sein, dass manche vor lauter Angst Nebenwirkungen haben? Das halte ich bei mir für unwahrscheinlich, ich war beim ersten und zweiten Mal furchtlos und fieberte beim zweiten Mal doch. Aber ich kann mich ja trotzdem jetzt dafür entscheiden, beim nächsten Mal einfach keine Angst und, wer weiss, keine Nebenwirkungen zu haben. Mein Chef wird dankbar sein. Das wird ihm den Ärger ersparen, Zeuge eines weiteren Wutanfalls meinerseits zu werden. Man hatte mir an meinem Fiebertag unerwartete Mehrarbeit aufgebürdet. Eine Woche lang hatte ich mich gut organisiert, um genau das zu vermeiden. Aber dann passierte es trotzdem.
Der Phonak Compilot, mein Helfer beim Telefonieren.Aus allseits bekannten Gründen bereite ich mich mental auf ein medizinisches Worst Case-Szenario vor, das da wäre: Eine mir sehr nahestehende Person liegt im Bett, ringt um Luft und kann nicht mehr selber telefonieren (ich wage es nicht, diese Person hier beim Namen zu nennen. In dieser Hinsicht bin ich wie die weniger heldenhaften Zauberer in Harry Potter. Das Böse versuche ich von mir fernzuhalten, indem ich es nicht gänzlich in Worte fasse). Ich bin allein mit dieser Person und muss also selbst die Ambulanz herbeitelefonieren.
Das Problem ist: Ich kann nur noch mit grösster Mühe und einem Hilfsmittel telefonieren. Das Hilfsmittel heisst Phonak Compilot II und überträgt den Schall vom Telefon via Bluetooth direkt auf meine Hörgeräte. Auch mit Hilfe dieses Streamers verstehe ich meist nicht so richtig, was man mir sagt. Aber ich höre es wenigstens, wenn auf der anderen Seite jemand spricht.
Mit Herrn T. exerziere ich durch, was ich im Notfall tun müsste. Im Moment bin ich, so glaube ich jedenfalls, durchaus im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Aber ich ahne, was Panik mit mir machen könnte. Deshalb braucht es jetzt diesen Drill. Ich fange an: „Ich muss den Streamer immer in Bereitschaft haben – das heisst: Ich muss regelmässig seinen Akku aufladen. Wenn es soweit ist, muss ich den Streamer umhängen, ihn einschalten und die Nummer 144 anrufen. Es ist 144, oder?“ Herr T. nickt. Ich habe die beunruhigende Tendenz, 144 mit 142 zu verwechseln. Im Falle eines Falles könnte eine solche Verwechslung unnötig Zeit kosten, ich werde es also täglich repetieren: Die richtige Telefonnummer für medizinische Notfälle ist 144.
Wenn die Person am anderen Ende sich meldet, muss ich sagen: „Guten Tag, ich habe hier einen medizinischen Notfall. Ich bin schwerhörig, bitte sprechen Sie langsam und deutlich.“ Die Person am anderen Ende wird etwas sagen, was ich bestenfalls verstehe, aber vielleicht auch nicht. Ich werde genau beschreiben, was mit der kranken Person los ist.
Herr T. nickt.
„Und dann werde ich sagen: ‚Ich glaube, Sie müssen eine Ambulanz schicken und ihn holen.'“
Herr T. nickt und wartet, ich weiss nicht auf was. Dann sagt er: „Du musst aber unbedingt Deine Adresse angeben und sagen, bei welchem Namen die Leute von der Ambulanz klingen müssen.“
Der Mann, der gestern Abend unsere Wohnung betrat, war tatsächlich jener Jungpolitiker, den ich mit einer gewissen Beklommenheit erwartet hatte. Ich hatte ihn gegoogelt und erkannte ihn auch unter der Maske.
„Sie können die Maske gerne ausziehen, wir sind beide geimpft“, sage ich. Mit Maske würde ich ihn unmöglich verstehen, aber das muss ich jetzt nicht sagen. Der Versicherungsagent nimmt die Maske ab und sagt: „Ja, und ich habe es gehabt und bin seit zwei Wochen wieder gesund.“ Ich muss nicht fragen, was „es“ war. Ich frage: „Und, wie war es?“
„Wie eine heftige Grippe“, sagt er und beschreibt die Symptome und einige Verwirrung um seine Tests. So verlaufen heutzutage also Kennenlern-Gespräche. Es stellt sich heraus, dass er mich ebenfalls gegoogelt hat und weiss, dass wir schon Schriftverkehr gehabt haben, mit ihm als Kunden. Nicht durchwegs positiven, wie er sich erinnert. Es könnte sein, dass ich ihn etwas stiefmütterlich behandelt habe. Das wäre natürlich unprofessionell von mir gewesen, und ich entschuldige mich kurz. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass ihn die Situation mehr verunsichert als mich. Er ist für einen Versicherungsagenten ungewöhnlich zurückhaltend, fast mürrisch. Dafür macht er gar keine Anstalten, unsere Wohnung zu inspizieren. So bin ich etwas lockerer, und mit der Zeit hellt sich die Stimmung auf. Schliesslich werden wir handelseinig. Als ihm Herr T. noch unseren Nordbalkon mit Blick auf den sagenhaften Innenhof zeigt und wir in eine fachmännische Diskussion über ortsübliche Mietzinsen geraten, bricht so etwas wie Freundlichkeit durch.