Im Namen aller Mütterchen in Beige

In den Jahren zwischen 50 und 59 fühlte ich mich beinahe sicher vor den  ungebetenen Tipps irgendwelcher Lifestyle-Päpstinnen. Aber kaum rückt der 60. Geburtstag näher, diskutieren wir plötzlich über Longevity oder über die Frage: Was heisst gut altern?

Neulich las mir Herr T. eine Passage des Buches „Altern“ von Elke Heidenreich vor, die ich selbst gnädig überlesen hatte. Die 81-jährige Autorin schreibt: „Ich sehe um mich herum Frauen, die anders altern als ich, und manchmal, wenn nach Lesungen eine Frau beim signieren zu mir sagt: ‚Wir sind derselbe Jahrgang‘, und ich sehe hoch, und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin nicht ich.“*

Sofort empörte sich mein Herz für alle „Mütterchen in beige“, obwohl ich selbst kein einziges beiges Kleidungsstück besitze. Ich wurde richtig laut und sagte schliesslich das, was ich zu Fragen des Kleidungsstils schon mein ganzes Leben lang sage: „Jede und jeder lebt nach bestem Wissen und Gewissen sein bestmögliches Leben!“ Mit 59 Jahren Lebenserfahrung würde ich einräumen, dass es gierige und zynische Menschen gibt. Aber die erkennt auch die Lifestyle-Päpstin nicht unbedingt an der Farbe der Bekleidung.

*Elke Heidenreich: „Altern“, Hanser Berlin, 2024, S. 62. Um eins klarzustellen: Ich möchte keiner Person die Lektüre vergällen, die das Buch vielleicht bald lesen wird. Es stehen auch einige sehr gute Dinge drin!

Gemeinsam lesen: Fünf Bücher des Jahres 2024

2024 fanden 52 Titel den Weg auf meine „gelesen“-Liste. Einige waren grossartig, andere habe ich schon fast wieder vergessen. Das Besondere an diesem Jahr: Ich habe diesmal mehr Bücher als sonst zusammen mit Freund*innen oder Verwandten gelesen. Um diese Lektüren ranken sich Geschichten, von denen ich hier zum Jahresausklang fünf erzählen möchte:

In unserer Nachbarschaft tobte 2024 das Bannalec-Fieber. Auf ihre letztjährige Bretagne-Reise angesprochen, lieh uns das Paar schräg übers Eck die „Bretonische Flut“ und einen weiteren Bannalec-Titel aus. Auch Herr und Frau Buddha planen gerade eine Tour bis hinaus nach Ouessant, und Frau Buddha, eine grosse Krimileserin, preschte deshalb in kürzester Zeit durch sämtliche Bannalec-Bände. Herr T. wiederum las die beiden Titel, die wir bekommen hatten (hier seine Impressionen). Ich fremdelte. Ich konnte einfach nicht ignorieren, dass sich im Wort „Bannalec“ das Wort „banal“ versteckt. Ich las dann doch diesen einen Roman des deutschen Bretagne-Verehrers und war angenehm überrascht: Er schildert das Licht, die betörenden Farben und die landschaftlichen Schönheiten der bretonischen Südküste so hingerissen, dass ich das alles selbst in der Erinnerung neu zu sehen begann.

Ein paarmal im Jahr besuche ich einen englischsprachigen Buchclub im steuergünstigen Nachbarkanton Zug. Es gibt in Zug mehr Expats als in Luzern und deshalb überhaupt genügend Leute, die an einem English Book Club interessiert sind.  T. C. Boyle’s Klimawandel-Gesellschaftsroman bekam von mir Bestnoten. Er ist hemmungslos spannend („Wen oder was wird die gruselige Pythonschlange aus dem ersten Kapitel fressen?!“). Und er zeigt, was wir alle tun angesichts des Klimawandels: Nichts. „Was sollen wir auch tun? Es liegt doch alles daran, dass wir einfach zu viele sind“, sagte eine der Teilnehmerinnen. Sie blieb unwidersprochen. Viele teilten ihre Meinung, ich fühlte mich zu schwerhörig, um mich mit ihr anzulegen.

Dieses Bändchen gehört auch heute noch zum Pflichtlesestoff für Germanistik-Studentinnen. „Komm, das lesen wir wieder mal!“ rief Paulina, als wir im Sommer darauf zu sprechen kamen. Wir haben beide eine Behinderung, deshalb können wir uns mit einem Taugenichts identifizieren. Wir wollten sogar eine ad hoc-Lesegruppe mit einem jungen Nachbarn Paulinas gründen. Aber der Junge schaffte es dann gar nicht durch das Büchlein. Ich zwar schon, aber ich wurde nicht warm damit, fand nur die Liedtexte schön, alle grossen Themen darin verschenkt, und sagte: „Das ist ja wie ein Musical! Viele Songs, aber sonst sehr oberflächlich.“ Paulina aber berichtete, Thomas Mann sei ganz begeistert gewesen über die Pflichtvergessenheit und die Ablehnung des Nützlichkeitskalküls durch Eichendorffs Protagonist. Ich muss wohl den Tatsachen ins Auge schauen, ich tauge nicht zur Germanistin.

Das bergige Land, aus dem mein Vater stammt, kann gruselig sein. Es gibt Sagen über Ungeheuer, die in den Tälern des Napfgebietes ihr Unwesen treiben. Darauf fusst dieser Krimi, mit dem er sich die ersten Monate vom tristen, neuen Dasein im Talgrund ablenkte. Das Buch wurde für die ganze Familie Pflichtlesestoff. Meine Mutter fand: „Ja, sehr unterhaltsam. Aber wenn die Luzerner Kriminalpolizei wirklich so ermittelt, wie das hier steht, dann gute Nacht!“ Mich hatte Autorin Mansour in der Tasche, als ich die Namen der drei alten Herren am Stammtisch der Beiz in Willisau las: Wermelinger, Hüsler und Aregger. „Der Lokalkolorit stimmt!“ freute ich mich. Nur mit dem Schluss war ich unzufrieden: Die psychologischen Probleme der Täterfigur nehme ich dem Buch nicht ab. Mein Vater jedoch w¨ünschte sich gleich Mansours Gesamtwerk zum Geburtstag, meist Krimis, die im Kanton Luzern spielen.

„Tim ist ein grosser Fan von Anna Rosenwasser“, verriet mir die Mutter meines Gottenbuben. Er folgt der 30-jährigen, queeren Aktivistin auch auf Instagram (@annarosenwasser). So schenkte ich ihm die Kolumnen-Sammlung der Zürcherin zum 19. Geburtstag. Ich wollte mit ihm über die SP-Politikerin diskutieren, denn diskutieren tun wir gern, auch kontrovers. Für mich wurde die Frau zur Provokation, als sie überraschend in den Nationalrat gewählt wurde und sich dann zierte, die Wahl anzunehmen. Tim steckte das Buch in eine erstaunlich grosse Innentasche seiner Jacke (in Sachen Modebewusstsein ist er mir um Lichtjahre voraus). Er las immerhin die Hälfte, diskutieren taten wir jedoch über viele andere Dinge. Mir (59) gefiel es, beim Lesen mitzubekommen, wie die Kolumnen im Buch zunächst noch etwas hölzern sind, wie die Autorin dann aber allmählich ihren ganz eigenen Ton findet.

 

 

Hörtest mit Polizeisirene

Vielleicht bekomme ich bald ein Cochlea-Implantant, auch CI genannt. Was das ist, könnt ihr hier nachlesen. Man ist für ein solches Ding qualifiziert, wenn man so schlecht hört, dass auch Hörgeräte nicht mehr richtig helfen. Ich kenne vier Personen, die ein CI haben. Drei von ihnen sagen: „Du, das ist wie Wunder! Aber du wirst viel trainieren müssen.“

Ich hatte schon eine CI-Abklärung, im Herbst 2020. Damals lautete das Verdikt der CI-Spezialistin: „Nun ja, Sie sind eine Wackelkandidatin. Warten Sie doch mal ab.“ Seither hat mein rechtes Ohr den Geist fast ganz aufgegeben, das Linke schwächelt je nach Tagesform. Jetzt sitze ich wieder mal in einem dieser mit Schaumstoff ausgekleideten Räume, in denen Hörtests gemacht werden. Rechts vis à vis von mir die Audiologin mit allerhand Geräten. Genau gegenüber hängt ein Lautsprecher an der Wand.

Ich lächle die Audiologin an und warne sie: „Das wird anstrengend, auch für Sie!“ Dann erzähle ich ihr die Anekdote vom letzten Mal. Die Audiologin von damals sagte nach einer halben Stunde zu mir: „Das ist anstrengend, nicht wahr?!“ Ich so: „Ja, weil es sooo leise ist!“ Darauf sie: „Ja, für mich ist es auch anstrengend, weil es sooo laut ist!“

Die jetzige Audiologin sagt nachsichtig: „Naja, für sowas sind wir ja da.“

Es folgen die üblichen Tests mit Piepen aus dem Kopfhörer und so weiter. Dann kommen aus dem Lautsprecher Wörter. Links höre ich sie mit Hörgerät meistens und verstehe sie oft sogar. Rechts: Nichts, auch mit Hörgerät. Schliesslich jault es aus dem Lautsprecher gegenüber so heftig, dass er fast von der Wand springt. Wenn ich es mit dem linken Ohr höre, klingt es wie die Sirene eines amerikanischen Polizeiautos. Rechts: nichts. Aber ich weiss, dass es jault, denn die Audiologin hält sich ihr dem Lautsprecher zugewandtes Ohr zu.

Ohrenverschlechterung

Zwei Jahre lang war mein Gehör links stabil. Man kann Ziele haben, wenn man links stabil gut hört – auch wenn das Hörgerät die meiste Arbeit beim gut Hören macht. Man kann fast ein richtiges Leben führen. Aber jetzt ist das linke Ohr nicht mehr stabil. Neulich abends zogen wir uns den neuen Literaturclub auf dem Schweizer Fernsehen rein. Milo Rau gurrte wie eine Taube, Elke Heidenreich verrückte mit ihrer Stimme Möbel. Am nächsten Morgen im Bus hörte ich Eiszapfen hundertmal verstärkt auf Blechdächer klirren. Ich besuche meinen Vater im Talgrund. Wenn die Lifttür sich öffnet, macht sie ein Würgegeräusch.

Ich nehme meine Ziele und klopfe sie auf ihre Gültigkeit ab, das Klopfen klingt filzig.

Carmen an der Abwaschmaschine

Sprechen wir also über die Kaffee-Ecke! An einem Vormittag letzte Woche fand ich dort eine zierliche Gestalt mit hell gesträhnter Mähne vor. Sie beugte sich mit dem Rücken zu mir über die Abwaschmaschine. Ach, der weiblich gelesene Mensch II, dachte ich. Aber manchmal besiegt mein spontaneres Ich meine Ressentiments. Es sagte freundlich: „Oh, hallo Carmen, Du bist also die tapfere Seele, die diese Abwaschmaschine ausräumt!“ Ich wusste, dass das Geschirr in der Maschine zwar sauber war – aber das Ding so voll, dass ich bei meinem vorherigen Besuch nicht genügend Zeit gehabt hatte, es auszuräumen. Dabei stapelten sich neu verschmutzte Tassen schon in der Spüle. „Kann ich Dir helfen?“ fragte ich.

Sie lehnte ab. Aber dann hatten wir eine nette Konversation über das viele Geschirr überall. Das ist schon wegen meiner Schwerhörigkeit nicht selbstverständlich. Und dann hatte ich ja auch noch Ressentiments, und die reichten bis zum Frauenstreiktag 2024 zurück. Damals, am 14. Juni, hatte ich als Frau und potenzielle Teilnehmerin am feministischen Streik mich in unserer Zeitung als „weiblich gelesener Mensch“ bezeichnen lassen müssen. Zuoberst im Frontkommentar! Ich war so wütend, dass ich an jenem Tag nicht einmal den Frontkommentar zu Ende las, geschweige denn den Rest der Zeitung. Ich beschwerte mich sogar bei der Autorin des Kommentars.

Ich meine: Die Abschaffung des generischen Maskulinums ist eine 40 Jahre alte feministische Forderung. Doch bei unserer Zeitung war dessen Gebrauch bis 2021 Vorschrift. In den zehn Jahren vor der Pandemie mogelte ich mich um diese Regel herum (warum, siehe hier). Ich war mir aber stets bewusst, dass unsere Hausregeln die Existenz des weiblichen Geschlechts in der Sprache eigentlich nur in Ausnahmefällen vorsah. Und nun werden wir Frauen schon wieder überfahren, erst noch von so genannten Feminist*innen! Sorry, aber da finde ich sehr wohl, dass man uns Frauen „etwas wegnimmt“!

An jenem Tag also begegneten mir in der Kaffee-Ecke Carmen Zimmerhäckel und ihre Kollegin, Marina Hartkiesel, beide junge Redaktorinnen. Seither heissen die beiden bei mir der weiblich gelesene Mensch II und der weiblich gelesene Mensch I. Denn an jenem Tag sprach ich sie an, vielleicht zum ersten Mal ohne äussere Notwendigkeit. Ich nahm all meinen Mut zusammennehmen und fragte: „Sagt mal, fühlt ihr Euch angesprochen, wenn man Euch als weiblich gelesene Menschen bezeichnet?“

Sie sahen mich an, als wäre ich vom Mars und von oben bis unten grün. Dann sahen sie einander an, lächelten, liessen beim Nicken ihr Frisuren wippen und sagten: „Ja.“

Rennes: Wieder Französisch können

Am vierten Tag warten wir in Rennes auf den TGV für die Weiterreise. Er hat eine halbe Stunde Verspätung. Herr T. geht ein Sandwich kaufen, ich passe auf das Gepäck auf und lasse den Blick schweifen. Bis jetzt habe ich das mit der Verständigung meist Herrn T. überlassen. Oft verstehe ich gehörbedingt die Leute eh nicht, wenn sie eine Antwort auf eine Frage nuscheln. Aber jetzt lese ich auf einem Netflix-Werbeplakat den Titel „L’envers du sport“ und übersetze spontan: „Die Hölle des Sports“, in Erinnerung an ein Zitat aus einem Stück von Jean-Paul Sartre, … aber nein, das kann nicht sein, das Zitat heisst nicht „l’envers c’est les autres“, sondern „l’enfer, c’est les autres“, die Hölle sind die anderen.

Mensch! Dann: Wenn aber „l’enfer“ die Hölle heisst, muss „l’envers“ etwas anderes heissen. „Die Kehrseite“ vielleicht? Die Kehrseite des Sports, das klingt doch gut. Ich kann also noch Französisch, denke ich und plötzlich wird mir klar: Ich kann in diesem sprachlosen Zustand nicht weitermachen. Als wir die Chance haben, mündliche Auskunft über die bänglich erwartete Zugsabfahrt zu bekommen, gehe ich hin und frage den Mann mit der Uniform selbst. Und weil ich so stockend gesprochen habe, antwortete er auch sehr deutlich. Dann ist das Französisch plötzlich wieder da in meinem Hirn, wie angeknipst.

Und seit gestern weiss ich sogar: Die Plakate warben für eine neue Staffel der Netflix-Serie „Untold“. Ob sie auch einen deutschen Namen hat, weiss ich aber nicht.

Über Schwerhörigkeit bloggen

Eine Bekannte von mir hat als @ohrkaputt auf Instagram einen höchst sehenswerten Feed. Die Protagonistin saust dort mit Mann, Kind und Schwerhörigkeit auf fröhlichen Cartoons durch ihren Alltag. Neulich thematisierte @ohrkaputt etwa das Paradox, dass Schwerhörige oft sehr lärmempfindlich sind. Das Material ist ansprechend verknappt – da ist ein Profi am Werk. Dringend nötige und wirksame Aufklärung, auch für Hörende.

Dann blicke ich jeweils stirnrunzelnd auf meinen eigenen Blog. Vielleicht sollte ich mehr über Schwerhörigkeit schreiben, denke ich. Ich meine: Meine Posts zu diesem Thema gehören zu den meistgelesenen. Freud’scher Verhörer etwa kommt auf sagenhafte 397 Klicks. Und doch sträube ich mich, aus zwei Gründen. Erstens will ich hier gar nichts Professionelles tun. Ich will hier kussbereit bleiben. Ich will wie die vom Liebeszauber berauschte Feenkönigin Titania dem erstbesten Thema verfallen, das mir an einem Morgen so begegnet. Und dann will ich, Königin und gewissenlose Womansplainerin, unverkürzt darüber schwadronieren.

Zweitens, und wichtiger: Ich habe irgendwann festgestellt, dass so eine Menière-Erkrankung zwar beengend ist. Dass es aber hilft, wenn man nicht die ganze Zeit um sie kreist. Ich habe beschlossen: Ich will zeigen, dass ich einen Horizont habe, der über meine Behinderung hinausgeht. Dass es möglich ist, schwerhörig zu sein und zum Beispiel über Politik nachzudenken. Oder über Bücher.

Das ist nicht so wirksam. Aber wichtig ist es eben auch. @ohrkaputt solltet Ihr Euch trotzdem anschauen.

 

Neue Freud’sche Verhörer

Der Frühling ist hierzulande auch die Zeit der Generalversammlungen. Als hochgradig Schwerhörige meide ich solche Treffen. Ich verstehe trotz guter Hörgeräte meist sowieso nicht, was gesagt wird. Ausnahme ist die Jahresversammlung unserer Wohnbaugenossenschaft. Da gehe ich immer hin, auch, weil sie exzellent vertont ist. Ich verstehe jeweils fast alles, aber manchmal verhöre ich mich.

Etwa, als unser Vizepräsident eine langjährige Vorständin verabschiedete. „12 Jahre lang hat sie uns ihr wackliges Knowhow zur Verfügung gestellt.“

Wackliges Knowhow? Das kann er nicht gesagt haben! Die Frau vorne hatte ein sympathisches Lächeln und einen eisgrauen, kompetenten Haarschnitt. Bestimmt meinte er „ihr fachliches Knowhow“, entschied ich.

Ja, und dann feiert unsere Wohnbaugenossenschaft auch noch ihr hundertjähriges Bestehen. Der Präsident sagte daher zum Schluss: „Heute findet auch unser Überlebensfest statt, zu dem ich Sie herzlich einlade.“

Überlebensfest? Eine Genossenschaft mit fast 2200 Wohnungen und nach Präsentation einer erfreulichen Jahresbilanz? Nein, er muss das Jubiläumsfest gemeint haben.

Ältere Freud’sche Verhörer gibt’s hier und hier.

 

Zwischenspiel: Kammermusik und Schwerhörigkeit

Nur noch selten empöre ich mich
gegen mein schwaches Gehör,
meine Fehlhörigkeit.
Meist fehlt mir dazu die Zeit.

Aber neulich, Kammermusik!
Mein erstes Konzert, seit Jahren.
Hei, wie die Geigen quietschen und gellen,
wie sie maulen, greinen und bellen.

Dann schaltete ich
die Hörhilfen aus.
Ich sah den Mann am Cello,
er spielte pizzicato.
Weich trafen Töne meine Ohren,
wie der Schritt einer Fee, die in Ugg Boots
auf dem Mond spaziert.

Lippenlesen bei Dr. Aeschlimann

Hörende schwärmen gerne von der Magie des Lippenlesens. Ich sage ihnen dann jeweils leicht ungehalten, ich könne gar nicht lippenlesen, lippenlesen sei eine Zumutung. Klar, Frühertaubte können es oft unglaublich gut. Aber für uns Spätertaubte fällt schon ins Gewicht, dass sich am Mund selbst nur etwa 30 Prozent der im Mund produzierten Laute ablesen (oder eher erraten) lassen. Klar, ich verstehe Leute besser, wenn ich ihren Mund sehe. Aber meiner Meinung nach hat das einfach damit zu tun, dass dann die Schallwellen aus diesem Mund auch ohne Umwege in meine Hörgeräte gelangen.

Nun musste ich diese Woche zu Dr. Aeschlimann, dem Endokrinologen, der in zehn Tagen meine Schilddrüse behandeln wird – eine harmlose Sache, hat man mir versichert. Damit ich schon mal weiss, was auf mich zukommt, simulierten wir kurz die OP-Situation. Das wird alles ohne Narkose vonstatten gehen. Ich werde mich auf einen Schragen legen müssen, und Herr Aeschlimann wird sich von hinten über meinen Kopf beugen. Ich lag also da und sah, wie sie sein Gesicht von oben in mein Gesichtsfeld schob, verkehrtherum, und er redete. Mit verkehrten Lippen! Was für ein verwirrender Anblick! Ich bekam Panik, diese Art von Panik, die ich in letzter Zeit bekomme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Dinge auditiv aus dem Ruder laufen. Ich sagte spontan: „Zunderobsi* lippenlesen ist aber ziemlich schwierig.“

Dr. Aeschlimann ist ein umsichtiger Arzt. Er vergisst nur selten, dass ich nicht gut höre. Er sagte: „Ja, das ist mir eben auch durch den Kopf gegangen.“ Er wird dran denken, wenn ich da auf dem Schragen liege. Mich aber beschäftigt seither die Frage, ob ich tatsächlich intensiver Lippen lese als ich immer behaupte.

*schweizerdeutsch: verkehrtherum