Ich bin keine Sprachpuristin. Ich habe kein Problem damit, dass sich Sprache verändert. Deshalb habe ich mich lange Zeit gefragt, warum ich plötzlich diesen Drang verspüre, verschwindende Vokabeln und Redensarten aus der Sprache meiner Eltern zu sammeln und in meinem Kopf noch einmal nachklingen zu lassen.
Dann las ich „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“ des Franzosen Didier Eribon. Das Buch ist ein zugleich liebevoller und distanzierter Nachruf auf seine verstorbene Mutter, und er schreibt: „Ich werde nie wieder Gelegenheit haben, aus dem Mund meiner Mutter jene Wendungen zu hören, die sie so gern brauchte, ihren Tonfall, ihre (laute) Art zu reden, ihren Akzent, ihre regionalen Ausdrücke.“* Dazu muss man wissen, das Eribon in Reims in einer Arbeiterfamilie aufwuchs, dann nach Paris ging und als Soziologe und Journalist europaweit bekannt wurde. Er schuf eine grosse Distanz zwischen sich und seiner Herkunft. Nachdem seine Mutter gestorben war, vermisste er jedoch ihre Sprache so sehr, dass er sogar ein Dialektwörterbuch der Gegend von Reims kaufte – in der Hoffnung, beim Lesen dieses Buches „besser zu verstehen, wer seine Mutter gewesen war“, quasi in der Sprache ihren Körper, ihren Gestus, ihren Habitus noch einmal zu rekonstruieren.
Eribon nervt teils, weil er ein solches Tamtam um seinen sozialen Aufstieg macht und um die Sprache, die in Paris die seine wurde. Ich wohne Luftlinie nur drei Kilometer von meinem Elternhaus entfernt und lebe in einem Milieu, das jenem meiner Eltern zum Teil ähnlich ist. Aber es sind halt vierzig Jahre vergangen, seit ich bei ihnen wohnte. Unsere Umgangssprache hat sich verändert. Und doch tue ich etwas sehr Ähnliches wie Eribon. Während mein Vater im Talgrund immer unbeweglicher wird, sitze ich da und sammle die Redensarten meiner Kindheit. Als könnte ich ihm damit noch einmal auf sein Töffli setzen.
Wenn ich sie für meinen Blog notiere, merke ich aber auch: Für für meine mehrheitlich nichtschweizerische Leserschaft ist halt doch eine erweiterte Vorgehensweise nötig. Aber darüber ein andermal mehr.
*Didier Eribon: „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“ : Suhrkamp, 2024