Heimweg

Nachtrag zu meinem gestrigen Beitrag: Bis am Abend blieb ungewiss, ob die Feuerwehr die Seebrücke schliessen würde oder nicht. Die Pegelstände waren hart an der Grenze. Ich beschloss, lieber gleich über die St. Karlibrücke zu gehen. Der Weg führt durch Quartierstrassen, die vom Hochwasser unberührt sind – als ob nichts wäre. In den Gärten wuchert es dort in allen Farben. Wunderschön.

Für heute sind weitere Regengüsse angesagt. Am Sonntag soll dann endlich die Sonne wieder richtig scheinen.

Wasserstandsmeldung

Schwanenplatz
Schwanenplatz Luzern, heute morgen, 9.10 Uhr

Hier wartete ich auf dem Weg zur Arbeit auf den Bus. Das Bild zeigt die Bootsvermietung, die nun den zweiten touristenlosen Sommer erlebt. Ja, der Wasserpegel ist wieder gestiegen. Gestern leckte der See hier nur am Randstein. Jetzt umarmt er innig zwei Meter des Trottoirs.

Ein melancholischer Anblick – aber harmlos im Vergleich zu dem, was in der Eifel passiert ist. Ich denke an jene, die dort den ganzen Horror ausser Kontrolle geratener Wasserfluten erlebt haben.

Dann kommt mein Bus.

Was ich kurz nach neun Uhr noch gar nicht wusste: Seit 8.46 Uhr sind die Fussgängerbrücken im Stadtzentrum gesperrt: Kapellbrücke, Rathaussteg, Reussbrücke, Spreuerbrücke (Quelle: luzernerzeitung.ch). Es tröpfelt wieder. Nicht auszuschliessen, dass die Seebrücke auch gesperrt wird. Dann gibt es ein Verkehrschaos. Und ich werde mir überlegen müssen, wie ich nach der Arbeit nach Hause komme. Geöffnet sind dann noch die Geissmattbrücke und die St. Karlibrücke reussabwärts. „Die Geissmattbrücke geht immer“, sagt mein Mann, sagt auch der Pedestrian. Aber etwas mulmig ist mir trotzdem.

Spaziergang im Starkregen


Heute Morgen, 9.30 Uhr, Unter der Egg in Luzern. Normalerweise kann man auf den quer gelegten Baumstämmen sitzen und gemütlich die Beine Richtung Reuss strecken, ohne nasse Füsse zu bekommen. Weiter oben: Sandsäcke, in Plastik verpackt.

Wasser trommelt auf meinen Schirm, Tropfen fallen mir auf die Hände und Beine. Pitschpatsch. Pitschpatsch. Ich gehe heute zu Fuss zur Arbeit, ich will den Wasserpegel an der Reuss sehen. 40 Minuten bis ins Büro. Pitschpatsch. Ich mag Regenspaziergänge, aber das hier ist mehr als Regen. Die Tropfen fühlen sich dickflüssig an, sie tippen mich an wie wütende Finger. Es regnet seit Wochen. Nicht ununterbrochen, manchmal scheint einen Tag lang die Sonne. Doch schon in der Nacht danach beginnt der Himmel wieder, ein Meer über uns auszuleeren.

Nachrichten von drohenden Überschwemmungen beobachte ich mit einer Mischung aus Sorge und Sensationslust. Wir leben hier in einem Regenloch. Mit meinen 56 Jährchen kann ich mich an Dutzende Unwetter erinnern, auch an Katastrophen: 2005 wurde die Kleine Emme über Nacht ein wütender Strom. Ihre braunen Fluten rissen Strassen mit und überschwemmten ganze Vorortsquartiere. Das war das Jahrhunderthochwasser. 2015 tötete ein zum Sturzbach gewordenes Rinnsal im Dorf Dierikon eine Frau in einem Keller. Trotz all dem wecken solche Ausnahmezustände oft auch Heiterkeit. Sie heben die ungeschriebene Regel auf, dass man in der Stadt nicht mit Fremden spricht. Plötzlich entdeckt man den Galgenhumor Unbekannter.

Aber jetzt ist kaum jemand unterwegs, obwohl Markttag ist. Am Reussufer liegen Sandsäcke, bedeckt von grünlichem Plastik. Bald wird der Fluss über die Ufer treten. Ich mache ein paar Bilder und schaue, dass ich weiterkomme. Pitschpatsch. Im Geschäft angekommen, klebt mir das Haar an der Stirn, und meine graue Hose ist schwarz vor Nässe bis zu den Knien.

In den Ferien im Juni haben wir zugeschaut, wie der Hagel eine weisse Decke auf die Strassen von Les Bois im Jura legte. Wenig später gab es auch in Luzern ein Hagel-Grossereignis. «Die hohe Zerstörung, welche das Gewitter anrichtete, war selbst für Experten unvorstellbar», schrieb die Gebäudeversicherung. Sie verzeichnete 12000 Schadenfälle und 150 bis 200 Millionen Franken Schaden. Ganze Häuserzeilen sind unbewohnbar, weil der Hagel die Dächer zerstörte. Die Rede ist vom «grössten Elementarereignis seit 16 Jahren». Beim Jahrhunderthochwasser von 2005 beliefen sich die Schäden im Kanton Luzern auf rund 590 Millionen Franken (Luzerner Zeitung vom 6. Juli).

Um 16 Uhr gehe ich nach Hause, auf dem gleichen Weg. Es regnet sanft. Auf der Brücke stehen Männer und fotografieren den Pegelstand. Er ist höher als am Morgen. Vor dem Theater Feuerwehrautos. Die Wetterprognose für die nächsten Tage: Regen, Regen, Regen.

Nachtrag zum ersten Impfbericht

So, nun habe ich also die erste Impfung verabreicht bekommen. Es war Moderna. Das sagen sie einem hierzulande erst unmittelbar bevor die Kanüle die Haut ritzt. Ist auch richtig so. So eine Impfaktion wäre in der Schweiz nicht organisierbar, wenn jede und jeder zwischen Pfizer und Moderna wählen könnte. Gott bewahre! Und AstraZeneca ist hierzulande gar nicht zugelassen.

Auf dem Weg ins Impfzentrum ist mir dann auch klar geworden, warum uns im Zusammenhang mit dieser Impfaktion ein solcher Mitteilungsdrang erfasst: Wir erleben – und beschreiben – hier ja doch Zeitgeschichte. Aber diese Erkenntnis hemmt bei mir erst mal die Erzählfreude. Sofort frage ich mich: Was werden die Nachgeborenen wissen wollen, wenn sie einmal alte Archive nach Impfberichten durchforsten? Kann ich überhaupt noch etwas erzählen, was nicht bereits tausendfach bezeugt ist?

Einerlei, dachte ich. Ich schreibe ja für meine Blogleserinnen und -leser. Nicht für Nachgeborene. Ich brauche das Impfzentrum nicht zu beschreiben. Es wird Fotografien geben von der Messehalle mit den 50 Impfkabinen. Es wird Erlebnisberichte geben von den Zivildienstlern, die die Leute von Posten zu Posten schicken. Es gibt bereits zwei launige Leserbriefe von einem der pensionierten Ärzte, die hier den Leuten das Vakzin verabreichen. Es wird Bilder geben von der Ruhezone, in der 50 frisch Geimpfte mit 1,5 Metern Abstand 15 Minuten lang abwarten, ob sie einen anaphylaktischen Schock bekommen oder nicht. Ein seltsamer Anblick, so viele still dasitzende Menschen unter einem Dach, wie früher in der Kirche. Nur mit Maske.

Für Schwerhörige hält so ein Impfprozedere seine eigenen Schwierigkeiten bereit. Auf dem ganzen Parcours wird man fünfmal instruiert oder befragt. Alle sind nett und geduldig, aber die Halle ist riesig und lärmig, und alle tragen Mundschutz. Viermal musste ich jemandem sagen, dass ich schwerhörig bin, und dass er langsam sprechen muss. Wenn ich glaubte, die Instruktionen verstanden zu haben, wiederholte ich sie, um ja nichts falsch zu machen. An einem Ort mit so viel Sicherheitspersonal muss man vorsichtig sein. Man weiss nie, wie die reagieren, wenn jemand auffällig wird. Es dauerte alles sehr, sehr lange.

Danach machte ich einen kleinen Spaziergang, sah die ersten Saat-Esparsetten, den ersten Wiesensalbei und roch Flieder und war glücklich.

Im Paradies


Herr T. im schönsten Teil des Bächtenbühls. Hier ist es wie früher – ein Traum.

Herr T. und ich sind ein älteres Ehepaar. Und wie so viele ältere Ehepaare sind wir manchmal etwas reizbar, wenn wir zusammen spazieren gehen. Das zeigt sich etwa, als Herr T. ein Foto machen will. Während er noch die Kamera zückt, beginnt er über Instagram zu schimpfen: „Es ist so ärgerlich, dass man dort nach jedem dritten Bild eine Anzeige bekommt!“ Ich merke, dass er daraus eine Tirade machen will und unterbreche ihn: „Ach, komm, hör auf, das Wetter ist zu schön zum Herumzetern.“

Doch auch ich habe ein Schimpfthema. Es präsentiert sich, als wir nach einer Stunde unser erstes Ziel erreichen: das Bächtenbühl, eine Anhöhe über dem Vierwaldstättersee, gleich hinter der Luzerner Stadtgrenze. Es war früher mein Paradies auf Erden. Ich habe hier schon 2011 zum ersten Mal davon erzählt. Die Luft hier oben war früher wunderbar mild, als würden die Hügel und Bäume Wärme speichern und sie der Wanderin beim Vorbeigehen sanft zufächeln. Am schönsten ist es, wenn die alten Obstbäume blühen. Aber fast zuoberst halten uns Tafeln auf: „GOLFPLATZ – Spaziergänger unerwünscht“. Wir müssen dem Rand des Areals entlangwandern, wie es hier vom Fussvolk erwartet wird. Wir gehen einen Stock tiefer als die vorbeigehenden Golfer und haben deren Gemächt auf Augenhöhe. Welch ein Ärgernis! Und das Clubhaus mit Restaurant: eine Beleidigung fürs Auge! Jetzt ist die Luft hier oben nicht mehr frühlingsmilde, sondern zornesheiss.


Der Golfplatz mit Ausblick auf den Pilatus. Den Anblick des Club-Restaurants auf dem Hügel erspare ich Euch.

Herr T. hat sich selbst schon kritisch über den Golfplatz geäussert (hier). Jetzt jedoch findet er, ich solle mich beruhigen – es sei doch alles gar nicht so schlimm. Aber ich beruhige mich erst, als wir den letzten für Wandernde zugänglichen Obstbaumhain erreicht haben. Hier ist es wie früher, ein Traum. „Es könnte schlimmer sein“, denke ich. „Sie könnten alles mit Einfamilienhäusern zugepflastert haben.“ Dennoch fällt mir ein Wort ein, das ich erst kürzlich gelernt habe: Solastalgie: Die Trauer über eine zerstörte Landschaft. Habe ich hier Anspruch auf einen Anflug von Solastalgie? Oder übertreibe ich wieder mal?

Wir gehen weg vom Golfplatz, über die Strasse und weiter die Anhöhe von Meggen hinauf, zur Linken Wiesen, zur Rechten Villen. Es grünt und blüht. Eine Traumlandschaft! „Geniess es einfach!“ denke ich, „Wir sind ein älteres Ehepaar, das noch ein bisschen auf diesem Planeten herumspazieren darf. Das ist das einzige, was zählt.“

Sollen wir noch reisen?


Ob sie beim Reisen ein Gefühl der Befreiung haben? Touristengruppe in der Stadt Luzern – vor Covid-19 (Quelle: Handeszeitung.ch)

Hilfsbuchhalter Bernardo Soares hält rein gar nichts vom Reisen. „Wahre Erfahrung beruht auf einem verminderten Kontakt mit der Wirklichkeit und einer verstärkten Analyse dieses Kontaktes“*, behauptet er im „Buch der Unruhe“ von Fernando Pessoa. Und weiter: „Und das Gefühl der Befreiung, das vom Reisen ausgeht? Das kann ich ebenso haben, wenn ich von Lissabon nach Benfica, in der Vorstadt, fahre, und zwar sehr viel intensiver als einer, der der von Lissabon nach China reist, denn ist die Befreiung nicht in mir, erlange ich sie nirgendwo.“ Nun ja, Bernardo ist ein äusserst empfindsamer Mensch und ein genauer Beobachter. Da er zudem gar nicht über die Mittel für grosse Fahrten verfügt, macht er wahrscheinlich aus der Selbstbeschränkung eine Tugend. Da sollte man nicht zu hart über ihn urteilen.

In Zeiten von Covid-19 können wir uns sogar eine Scheibe bei ihm abschneiden. Und auch die beängstigende Klimasituation verlangt ja, dass wir weniger reisen. Aber sollen wir das Reisen deshalb gleich verteufeln? Oder Reisende verachten? Sogar als Bewohnerin einer früher vielleicht etwas zu gut besuchten Tourismusdestination bin ich mir nicht sicher. Ich habe mir zwar angesichts der Touristenhorden in unserer Stadt durchaus schon überlegt, ob Reisende in spe nicht eine Eignungsprüfung ablegen sollten, bevor man sie ins Flugzeug steigen lässt. Ich erinnere mich gut an Szenen mit Asiaten, die mir auf dem Trottoir mit der Nase dicht am Handy entgegenkamen. Wollte man sie passieren, musste man sie anschreien oder auf die Strasse ausweichen. Ich sehe noch Amerikaner vor mir, die ihre beträchtliche Leibesfülle passgenau in die Mitte der schmalen Denkmalstrasse gossen. Mit dem Velo war da kein Durchkommen. Das ist ärgerlich, wenn man pünktlich in seinem Büro an der Denkmalstrasse sein muss.

Ich will nicht verallgemeinern. Die meisten Asiat*innen sind freundlich und rücksichtsvoll. Und Leibesfülle sollte an sich keine Disqualifikation fürs Reisen sein. Das Problem ist: Reisen ist erstens etwas Narzisstisches. Ich habe junge Amerikaner mit Eroberermiene über die Seebrücke schreiten sehen. „Seht her, ich habe mein Fähnchen in der Schweiz eingesteckt!“ sagte ihr Blick. Reisen sind zweitens ein Statussymbol. Reiseanekdoten eignen sich ja so wunderbar als Konversationshäppchen am Apero in der Heimat. Für viele Touristinnen und Touristen kommt das Interesse an der Welt, die sie bereisen, ungefähr an dritter Stelle. Und das ist ein Ärgernis.

Aber jetzt sind sie weg, die Touristen – und es fehlt eben doch etwas. Unsere Stadt ist ja geradezu als Kulisse für den Tourismus gebaut. Jetzt, wo die Hotelkästen leer und die Uhrenläden geschlossen sind, macht sich in den Gassen Ratlosigkeit breit. Und nicht nur das: Ohne Touristen ist meine Stadt eine biedere, in sich gekehrte Kleinstadt. Die Gäste aus Indien, aus China, aus Amerika bringen wenigstens ein bisschen internationale Betriebsamkeit hierher. Im besten Fall bestaunen wir sie, und sie bestaunen uns. Für mehr reicht es meistens nicht. Aber schon das erweitert den Horizont.

Und selbst gar nicht mehr reisen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Pessoa hat zwar recht: Es gibt Dinge, die wir beim Reisen selbst mitbringen müssen. Zum Beispiel die Bereitschaft, die Welt um uns herum wahrzunehmen. Dann verändert uns das Reisen – und das Gefühl der Befreiung bekommen wir dann eben doch von aussen geschenkt. Ich bin nie in China gewesen. Aber zum Beispiel in Russland, und deshalb weiss ich: In den Städten dort haben die Menschen andere Probleme als wir. Und ähnliche wie wir noch dazu. Das zu verstehen, hat mich weniger empfindlich für gewisse Launen meiner Schweizer Mitmenschen gemacht. Und in der Nähe von New Orleans habe ich gelernt wie mies und verkommen Rassismus eine Gesellschaft macht – auf eine Art, wie ich es in der Schweiz nicht hätte lernen können. Natürlich, auch ich bin aus Narzissmus gereist. Auch ich erzähle gern von meinen Abenteuern. Aber die Welt ist gross, und wir verstehen sie nicht, wenn wir nur nach innen schauen. Und, wie sagt es Bernardo Soares: „Wir werden aller Dinge müde, nur des Verstehens nicht.“**

* Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“, Fischer Taschenbuch, 2006, Seite 142
** daselbst, S. 238

In der Warteschlange

Eins hat die Pandemie in der Schweiz verändert: Wir stehen sicht- und fühlbar Schlange. Zum Beispiel an Ostern vor der Confiserie, wie hier beschrieben. Aber auch anderswo.

Die ärgerlichste aller Warteschlangen ist unsichtbar. Es ist die Impf-Schlange. Am 15. April habe ich die dritte SMS mit exakt demselben Text vom Absender ImpfCovid bekommen: „Impf-News: Sie haben sich erfolgreich fürs Impfen angemeldet und sind in der Warteschlange. Sobald Impftermine frei sind, kontaktieren wir sie.“ Ich weiss nicht, wer auf die Idee kommt, eine solche Message als „News“ zu bezeichnen. Angemeldet habe ich mich am 14. Januar, ich bekam die Nummer 563990. Ich bin nicht die einzige, die allmählich ungeduldig wird. Neulich stand meine Freundin Beate unter der Tür, Tränen flossen ihr in die FFP2-Maske. Erst nach mehreren Versuchen verstand ich, was sie, Mutter dreier Schulkinder und Pendlerin, herausschluchzte: „Ich halte es einfach nicht mehr aus! Jetzt macht der Bundesrat wieder alles auf*, und ich habe immer noch keinen Imfptermin! Meine Freundinnen in Deutschland sind inzwischen alle geimpft!“ Ich konnte sie nicht mal umarmen.

Und die fröhlichste Warteschlange: An meinen Bürotagen stehe ich vor einer Bäckerei für mein Mittagessen an. In den Laden dürfen drei Personen, draussen steht manchmal fast ein Dutzend Wartende, die meisten aus den umliegenden Büros. Drinnen gibt es aufgewärmte Pasta, manchmal Hackbraten oder Riz Casimir, freitags Käsewähen und immer Salate. Ich würde lieber in unserer hauseigenen Cafeteria essen, aber die ist wegen Pandemie geschlossen. Manchmal stehen vier oder fünf Leute aus demselben Büro vor der Bäckerei und sind zum Scherzen aufgelegt. Das erheitert dann die ganze Schlange, auch mich. Obwohl ich nie verstehe, was sie sagen. Und nur dann, wenn ich vor Hunger nicht schon leicht gereizt bin.


Das Freigleis – zu normalen Zeiten tummeln sich hier Velofahrer*innen und Spaziergänger*innen aus dem urbanen Mittelstand. Zurzeit stehen hier ganz in der Nähe montags hungrige Migrantinnen und Migranten für Lebensmittel Schlange (Quelle: outdooractive.com).

Die traurigste ist die Warteschlange mit Essen für arme Leute: Ich bin ja auch gerade in Kurzarbeit und ging neulich an einem freien Montag mit einer Kollegin auf dem Freigleis spazieren. Nach wenigen hundert Metern passierten wir eine Warteschlange auf der Velospur. Da standen vielleicht sieben oder acht Menschen vor einem leeren Häuschen, mehrere Frauen mit Kopftüchern, eine mit Babywagen, ein junger Mann mit brauner Hautfarbe und Velo. Die Kollegin sagte laut: „Was ist das denn?!“ Da drehte ein vorbeieilender Jogger sich um und sagte: „Das ist eine Essensausgabe für arme Leute, stellen Sie sich das vor, mitten in der Schweiz!“ Eine kurze Recherche im Internet ergab: Die Gruppe Resolut verteilt dort immer montags gratis Lebensmittel an Bedürftige.

* Unsere Bundesregierung hat in ihrer unergründlichen Weisheit (*Sarkasmus off*) trotz steigender Fallzahlen beschlossen, die Fitnesszentren, Restaurant-Terrassen, die Theater und Kinos ab morgen wieder zu öffnen, Hier erklärt sich Gesundheitsminister Alain Berset.

Amor an der Bushaltestelle

Wenn ich im Moment überhaupt Bus fahre, warte ich oft an der grossen Bushaltestelle am Schwanenplatz. Dann sehe ich auf der anderen Strassenseite ein repräsentatives, sechsstöckiges Bauwerk aus dem vorletzten Jahrhundert. Es ist Heimat eines 170-jährigen Uhren- und Schmuckladens, der vor der Coronakrise sein Geschäft mit kostspieligen Souvenirs für Touristen aus aller Welt machte. Immer geht mein Blick zuerst zur Spitze des Gebäudes, zum kleinen Amor im Türmchen. Ich muss wissen, ob er noch steht, mit dem Rücken zum Abgrund, Sekundenbruchteile vom Sturz entfernt seit Jahrzehnten. Ob er noch um sein Gleichgewicht ringt. Ob die Girlanden noch halten, an denen er sich festhält. Ob noch immer das Lächeln eines ins Spiel versunkenen Kindes seine Lippen umspielt.

Er steht.

Ich mag ihn. Vielleicht, weil mir manchmal selbst schwindlig ist. Vielleicht wegen seines Lächelns. Ich weiss: Wenn er stürzt, werden ihm Flügel wachsen. Auch wenn wir sie jetzt noch nicht sehen.

Das neue Café

Sonntagnachmittag. Der pedestrian und ich haben wieder einmal die gigantischen Baustellen am Seetalplatz besichtigt. Jetzt stehen wir beim Bahnhof Emmenbrücke und hoffen, in der Nähe einen guten Kaffee zu bekommen. Allzu zuversichtlich sind wir nicht. Cafés sind lange Zeit nicht so die Stärke von downtown Emmenbrücke gewesen. Es gibt in der Gegend bloss eine hohe Dichte von Kebab-Lokalen und ein paar Büezer-Beizen. Und eine Tierfutterfabrik.

Aber jetzt hat sich etwas getan: Gleich vis à vis vom Bahnhof leuchten die Neonfarben eines Cafés. Sieht aus wie ein Kaffeehaus für ältere Damen, mit Nussgipfeln auf den Tischen und so. „Caffe Mlinar“ heisst es – ein merkwürdiger Name, denke ich. Aber interessant.


(Quelle: zentralplus.ch)

Wenig später sitzten wir im rappelvollen Lokal. Es ist tatsächlich ein Kaffeehaus. Aber ohne Nussgipfel – in den Körbchen liegen Böreks und andere Produkte aus Filo-Teig. Hier sitzen Alt und Jung, die Stimmung ist fröhlich. Ich finde es so spannend, dass ich für eine halbe Stunde glatt an meinen Ohren zu leiden vergesse. Und der Kaffee ist intensiv, ganz wie er mir mundet.

Emmenbrücke beginnt sich zu verändern. Es ist immer noch ein Moloch aus Fabriken, Verkehr und billigen Wohnungen. Hier leben immer noch die Büezer und die Migranten, aus Sri Lanka und Bosnien, aus Kosovo, Kroatien und der Türkei, aus Äthiopien und Eritrea. Nur auf den Hügeln drängen sich Einfamilienhäuschen, die den hiesigen Lehrern und ein paar Bauunternehmern gehören. Im neuen Café scheinen alle einen Treffpunkt gefunden zu haben. Und wenige Schritte weiter entsteht ein neues Stadtquartier.

Zu Hause google ich ein bisschen und stelle fest: Das Caffe Mlinar hiesse zu Deutsch Café Müller und gehört zu einer kroatischen Kaffeehauskette. Und es hat eine aussergewöhnliche Geschichte, bei der ein lokaler Spitzenfussballer eine wichtige Rolle spielt.

Bergsteigen verboten


Der Pilatus bei Luzern. Heute ist er eine gut besuchte Tourismus-Destination. Aber das war nicht immer so.

637861 Besucher beförderten die Pilatusbahnen 2014. Wie viele dieser Fahrgäste ganz auf den Berg hinauf fuhren, weiss ich nicht. Aber ich weiss: An einem sonnigen Tag herrscht dort oben ziemlich Betrieb. Asiatische Touristen, einheimische Wanderfreunde, der obligate Alphornbläser, Familienausflügler – und die meisten ersteigen auch die höchste Stelle des Berges – den Esel (2182 müM).

Heute nennen ihn manche Luzerner bieder unseren Hausberg. Aber unsere Vorfahren mochten ihn nicht. Im Mittelalter verbot der Stadtrat sogar, ihn zu besteigen. Und das wurde auch geahndet: Als 1387 sechs Geistliche hinaufkraxelten, warf man sie danach ins Gefängnis.

Warum? Nun, im Mittelalter war diese Beschäftigung ohnehin suspekt, sogar subversiv. Als der Dichter Petrarca anno 1336 auf den Mont Ventoux stieg, war das ein Wendepunkt in der Kulturgeschichte. Petrarca ging da hinauf, um selber zu sehen. Er machte eine Entdeckungsreise. So etwas wurde damals von der Obrigkeit nicht ermutigt. Wer würde noch glauben, was irgendein Pfaffe sagte, wenn er jederzeit selber hingehen und sich ein Bild machen konnte?

Beim Pilatus begründete man das Verbot mit einer gruseligen Geschichte. Es hiess, dort oben liege die Leiche von Pontius Pilatus – jenes römischen Statthalters also, der Jesus einst ans Kreuz geliefert hatte. Den Magistraten hatte danach Gewissenspein geplagt, und er fand auch im Tod keine Ruhe. Er wurde ein bösartiges Gespenst. Wo man ihn auch begrub, er brachte Pest und Cholera und Unwetter. Also suchte man für ihn ein abgelegenes Plätzchen – fand den fraktus mons und warf die Leiche des Pontius dort in einen kleinen See. Doch auch hier soll er keine Ruhe gegeben haben. Wenn naseweise Leute auf den Berg stiegen und Steine in den Tümpel warfen, geriet seine arme Seele wieder in Aufruhr – er schickte Blitz und Donner und liess die Bäche über die Ufer treten.

Alte Sage oder Erfindung der Luzerner Obrigkeit? Möglicherweise letzteres. Erst gegen 1600 glaubte auch der Luzerner Stadtrat nicht mehr an den Hokuspokus mit dem Pilatusseeli. Die Ironie daran ist: Heute locken die Pilatusbahnen ausgerechnet mit dieser Story (hier Reisende aus aller Welt auf den Berg.

Das ist mein Beitrag zu Dominik Leitners wunderbarem Projekt *txt. Das zweite Wort in diesem Jahr lautete „Berg“.