Diese unsagbare Wehmut

Am Morgen lese ich jetzt oft noch drei, vier Seiten aus einem Reisebericht von Patrick Leigh Fermor. Man darf sich in diesen Tagen nicht schon um 8.30 Uhr von den News erschlagen lassen. Ich lese, wie der Brite am Ostersonntag 1934, gerade 19-jährig, aus der ungarischen Stadt Esztergom aufbricht und donauabwärts wandert. Vor wenigen Tagen ist das Eis auf dem Fluss geborsten, tags zuvor sind die Störche aus dem Süden zurückgekehrt, es ist magisch. Und kaum hat Fermor die Stadt verlassen, ist da nur noch Natur im Frühlingsrausch. Er schreibt:

„Die Vögel sangen um die Wette, überall wurden fieberhaft Nester gebaut, Schwalben und Mauersegler schlugen ihre Haken am Himmel. Mehlschwalben besserten alte Bauten aus, Eidechsen huschten zwischen den Steinen, überall in den Binsen tauchten neue Nester auf, im Wasser wimmelten Fischschwärme, und die Frösche, die mit einem langen Sprung im Wasser verschwanden, wenn ein Fremder kam, waren sogleich wieder da, und es klang, als würde ihr Chor von Stunde zu Stunde um tausend neue Stimmen verstärkt; sie sorgten dafür, dass die Nistplätze der Reiher verwaist lagen, bis das letzte Abendlicht schwand.“*

Patrick Leigh Fermor
Während ich das lese, erhebt sich eine grosse Wehmut in mir, höher als der Raum, in dem ich sitze. Sie reicht bis in den Himmel, ich kann Schwalben sehen. Dann frage ich mich: Welches Stilmittel hat der Autor eingesetzt, um mir dieses Gefühl zu vermitteln? Ist es die schiere, episch dahinfliessende Länge des zweiten Satzes? Schwingt da Fermor’s Heimweh nach seiner Jugend mit (er stellte das Buch spät im Leben fertig, es erschien erstmals 1986). Oder Sehnsucht nach der Zeit, bevor der Eiserne Vorhang niederrasselte und dieses Flussparadies vom Westen trennte? Oder empfinde nur ich hier Wehmut? Habe ich einen Anfall von Solastalgie, also Trauer um die verschwundene Überfülle der Natur? Bin ich nur so wehmütig, weil dieser Text mich an einen viel neueren Text erinnert, über einen Fluss und eine Welt, in diesem Fall ganz sicher nach einer Katastrophe?

„Einst gab es Bachforellen in den Bergflüsschen. Du konntest sie in der bernsteinfarbeben Strömung stehen sehen, wo die weissen Ränder ihrer Flossen zart die Strömung fächelten. Wenn du sie in der Hand hieltest, rochen sie nach Moos. Poliert und muskulös und zapplig. Auf dem Rücken hatten sie wurmartige Muster, Karten der Welt in ihrem Werden. Karten und Labyrinthe. Von etwas, was man nicht rückgängig machen konnte. Nicht wieder in Ordnung bringen konnte. In den tiefen Schluchten, in denen sie lebten, war alles älter als die Menschen und summte vor lauter Geheimnissen.“**

* Patrick Leigh Fermor: „Zwischen Wäldern und Wasser“; Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2010 (S.26-7)
** Cormack McCarthy: „The Road“; Picador Paperback, London, 2007 (S.307-8, meine Übersetzung)

Über die Liebe, die Ehe und den Schwindel

Rebecca Solnit

Ein Besuch im Bücher-Brocky spülte mir den Titel „A Field Guide to Getting Lost“*,  von Rebecca Solnit in die Tasche. Als ich zu lesen begann, verliebte ich mich sofort in den Text oder vielleicht auch die Autorin. Die Autorin: geboren 1961. Eine Frau meiner Generation, eine Wanderin und Spaziergängerin. Die Texte: träumerische Essays über das Sich-Verirren, im weiten Land oder als Mensch. Es sind auch Essays über die Liebe, die oft klingen, als wären sie über meine eigenen Liebschaften, jene der Vergangenheit und die heutige. Die heutige: eine fürsorglich-routinierte Ehe. Fast täglich fragt mein Mann: „Hast Du gut geschlafen?“ Oder: „Hast Du die Zeitung schon geholt?“ Oder: „Willst Du Suppe essen?“ Er fragt stets mit einer leisen Ironie, als könnten sich hinter der schieren Banalität dieser Fragen ungeahnte Möglichkeiten verbergen – aber dann vertiefen wir uns halt doch in die Zeitung oder essen Suppe.

Das alles wird in ein merkwürdiges Licht gestellt von Solnit’s Gedanken über Alfred Hitchock’s Meisterwerk „Vertigo“. Ihr erinnert Euch: eine Liebesgeschichte zwischen Privatdetektiv Scottie Ferguson und einer blonden Frau mit einer seltsam verschwommenen Identität. Scottie soll herausfinden, wer sie ist, und verliebt sich in sie. Sie ist jedoch schwer suizidal. Als sie auf einen Kirchturm flüchtet, kann er ihr nicht folgen, denn er leidet an Höhenangst. Er muss zusehen, wie sie vom Turm springt und stirbt. Diese Angst des Protagonisten vor der Tiefe versteht Solnit als Metapher für seine innere Unzulänglichkeit.

Dem Phänomen der Höhenangst** widmet Solnit mehrere Seiten. Sie beschreibt eine Besteigung des Mount Whitney in Kalifornien, 4419 Meter über Meer. Dabei kommt sie von Osten her und hat zunächst nur Blick auf die Landschaft auf der einen Seite des Berges. Sie schreibt: „Einen Gipfel zu besteigen, wird immer als Eroberung dargestellt. Aber wenn Du höher und höher steigst, wird die Welt grösser und grösser, und Du fühlst Dich kleiner im Verhältnis zu ihr, bist überwältigt und befreit, weil so viel Raum um Dich herum ist.“ (S. 151). Dann überwindet Solnit die letzten Meter und blickt über den Grat: „Plötzlich erscheint die Welt im Westen vor Dir, eine gigantische Weite. … Die Welt verdoppelt ihre Grösse. Etwas Ähnliches geschieht, wenn Du jemanden wirklich siehst – und das ist der Grund, weshalb alle in ‚Vertigo‘ immer wieder fallen.“ (S. 152) Mit anderen Worten: Scottie kann die Geliebte nicht retten, weil es ihn überfordert, sie wirklich zu sehen. Oder das, was seine Verbindung mit ihr ist oder sein könnte.

Seither frage ich mich: Was heisst das, jemanden wirklich zu sehen? Ich meine, unsere Ehe gleicht keiner Gipfel-Erstürmung – mehr einem Marsch auf den oft glatten, teils unwegsamen Pfaden des Alltags. Aber: Welche ungeahnten Möglichkeiten sieht Herr T., wenn er fragt, ob ich eine Suppe will? Und: Ist es auch ok, sich der gigantischen Grösse einer Liebe nicht täglich bewusst zu sein?

*Rebecca Solnit: „A Field Guide to Getting Lost“, Penguin, 2006. Ich habe hier bewusst den englischen Titel angegeben, der romantisch und ominös klingt. Der deutsche Titel lautet: „Die Kunst, sich zu verlieren – ein Wegweiser“. Das wirkt für meinen Geschmack zu putzig.

** Als Menière-Patientin muss ich anmerken, dass hier von Höhenangst die Rede ist, nicht von Drehschwindel, obwohl im Film-Trailer Drehschwindel dargestellt wird. Wer mir hier allenfalls eine psychosomatische Lesart des Textes aufzwingen will, hat den Ernst einer Menière-Erkrankung nicht erkannt und gehört mit nur einer halben Stunde zünftigem Drehschwindel bestraft.

Meine Meinung über Nemo ist non-binär

Gesangsstar Nemo (Quelle: Facebook.com)

Am Sonntagmorgen segelte ich auf einer rosa Wolke des Patriotismus zum Frühstücktisch. Dort machte sich meine Freundin Helga aus Deutschland gerade eine Tasse Getreidekaffee. „Wir haben den Eurovision Song Contest gewonnen!“ strahlte ich. Nemo heisst das 25-jährige, non-binäre Wesen aus Biel, das am Samstagabend in Malmö ganz Europa hingerissen hatte (hier geht’s zum Film). Beim Kaffeetrinken kamen wir dann auf den kleinstaatlichen Aspekt der Sache zu sprechen. „Weisst Du, der Song Contest ist in der Schweiz schon total verpolitisiert“, berichtete ich unserem Gast. „Denn jetzt müssen wir die nächste Austragung durchführen, und die Kosten sind für ein verhältnismässig kleines Land verhältnismässig hoch. Die Rede war von 20 Millionen Euro.“ Ich grinse selbstironisch. Ich weiss, dass es schwierig ist, Deutschen zu erklären, dass wir hier in der Schweiz für irgendetwas kein Geld haben könnten.

„Ich bitte Dich!“ sagte Helga prompt, „Luxemburg ist ein noch viel kleineres Land und hat den Eurovision Song Contest in den 68 Jahren seines Bestehens viermal ausgerichtet.“ Nun ja, wo sie recht hat, hat sie recht, dachte ich. Erst später habe ich hier gesehen: Luxemburg hat sich 1993 vom Wettbewerb zurückgezogen, aus Kostengründen. Ausserdem kennt Helga das Gift der helvetischen Debatte über Fernsehgelder nicht. Die SVP, unsere Rechtspartei, will die Gebühren für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio massiv kürzen. So ein Eurovision Song Contest, noch dazu gewonnen von einer non-binären Person – meine rosa Wolke löste sich in düsteren Vorahnungen über kommende Debatten auf.

F¨ünf Tage später muss ich leider melden, dass meine Befürchtungen sich bewahrheitet haben. Die Schweiz hält es nicht aus, einen Sieg zu geniessen. Das einzige, was wir hierzulande noch kollektiv können, ist streiten, meistens um Geld. Ich habe zwar selbst feministische Fragen zur Non-Binarität, (hier habe ich das angetönt). Aber mir wurde derart übel von der rechten Hetze gegen non-binäre Menschen allgemein und Nemo im Besonderen, dass ich in Gedanken an einen guten Ort floh: auf den Berg, auf dem Helga und ich später spazierten und uns einig waren, dass wir in unserem Alter (ich bin Jahrgang 1965) zur Non-Binarität nicht mehr unbedingt eine dezidierte Meinung haben müssen.

Aber dass wir aus dem European Song Contest nächstes Jahr ein wunderschönes Fest machen sollten, dafür bin ich ganz entschieden.

Was mein Gottenbub über Nemo denkt

Gesangstalent Nemo wird die Schweiz am Eurovision Song Contest vertreten (Quelle: srf.ch)

Am Osterspaziergang mit einem Gottenbub, neu 19, frage ich ihn über seine Haltung zur Genderfrage aus. Tim ist Jungpolitiker, parteilos, mit einem Hang zu den Grünen. Er ist ein ausgezeichneter Diskussionspartner.

Die Genderdebatte beginnt er jedoch mit einer ungemütlichen Schelte ausgerechnet derjenigen Zeitung, bei der ich seit 23 Jahren meinen Lebensunterhalt verdiene. Ihn hat unsere Berichterstattung über Nemo gestört, jene nonbinäre Person, die die Schweiz am Eurovision Song Contest am 7. Mai vertreten wird. In unserem Bericht wurde diese Person offenbar schon im ersten Abschnitt mit „er“ bezeichnet. „Wo doch klar ist, dass Nemo keine Pronomen will! Das ist doch respektlos gegenüber Nemo.*“

Unsere Berichterstattung zum European Song Contest hatte ich nicht einmal gelesen. Musik zu ignorieren ist eine meiner Überlebensstrategien als Schwerhörige (für Euch geht’s hier zum Song)! Mein erster, innerer Seufzer ist: Ach, da haben meine Kolleginnen und Kollegen ein reaktionäres Statement gemacht, womöglich unfreiwillig! Aber ich gebe dem Reflex nach, sie in Schutz zu nehmen und erinnere Tim an die Regeln des guten Stils: Dreimal im selben Abschnitt denselben Eigennamen zu wiederholen, ist unschön. Viele unserer Leserinnen und Leser würden es lachhaft oder anbiedernd finden. Wir behalten bei der Zeitung ausserdem kritische Distanz zu den Leuten, über die wir berichten.

Aber das kann Tim nicht akzeptieren. Er sagt: „Da schimpft Ihr immer, dass die jungen Leute keine Zeitung mehr lesen! Und dann tut Ihr etwas, was wir jungen Leserinnen und Leser überhaupt nicht cool finden.“

Mir bleibt da nur noch der Verweis auf unser Redaktions-Reglement für den Umgang mit dem Geschlecht in der Sprache. Dieses wurde ungefähr 2017 renoviert, vor dem Auftauchen nonbinärer Personen an der Öffentlichkeit. „So ein Reglement zu ändern, braucht seine Zeit“, versichere ich ihm. Seltsamerweise versteht Tim, dass es solche Reglemente braucht und auch Zeit, sie zu verändern. Ich verspreche ihm dann immerhin, seine Reklamation an meinen Chef weiterzuleiten. Als Input für künftige Reglements-Änderungen.

Später stellte ich fest, dass die Musikredaktionen landesweit seither schon eine gewisse Geschicklichkeit im Umgang mit den wegzulassenden Pronomen entwickelt haben. Üblich ist zum Beispiel geworden, Nemo „das Gesangstalent aus Biel“ zu nennen. Und in einem späteren Bericht eines unserer Autoren über Nemo habe ich einen Abschnitt gefunden, in dem sich der Kollege offiziell dazu bekennt, Nemos Non-Binarität zu akzeptieren. Im folgenden Abschnitt mit 36 Wörtern kommt das Wort Nemo sechsmal vor.

*Ich bin nicht mehr ganz sicher, wie Tim das formuliert hat. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er selbst ein männliches Pronomen verwendet hat. Einfach, weil es auf Schweizerdeutsch noch viel schwieriger ist, Sätze ohne solche zu machen. Da steht sogar vor Eigennamen eines, wie in: „De Tim hed gseid… . D’Frau Frogg hed gseid…“

Wer hat die bessere Zukunftsvision?

Aus der angelsächsischen Popkultur kennen wir diese merkwürdigen Entweder-Oder-Fragen: Cat Person oder Dog Person? Beatles oder Stones? Ich kann solche Fragen nie eindeutig beantworten. Ich weder eine Hunde- noch eine Katzenperson, aber ich liebe meine Zimmerpflanzen. Und was die Musik betrifft, fand ich mal: Die Beatles sind etwas für die obere Körperhälfte, die Stones eher für die untere – warum also nicht beides? Richtig kompliziert wird’s indes bei der Frage: Wer hat die bessere Dystopie geschrieben? Aldous Huxley oder George Orwell? Die beiden Autoren werden immer wieder verglichen, denn es sind ja beide Engländer – und beide haben vor bald 100 Jahren grosse Romane über den Zustand der Welt in einer damals unheimlich erscheinenden Zukunft verfasst. In einer Zeit, die vielleicht jetzt unsere sein könnte.

Ich habe kürzlich beide wieder mal gelesen, Orwell und Huxley, und ich muss sagen: Was den politischen Riecher betrifft, bin ich eindeutig im Orwell-Team. Im Moment vergeht kein Tag, an dem ich nicht an seinen Roman „1984“ denke. Orwell beschreibt darin, wie sich die drei Machtblöcke USA, Russland und China in wechselnden Bündnissen gegenseitig bekriegen. Das klingt geradezu unheimlich aktuell. Ausserdem kann man bei Orwell viel über die Lüge in der Politik lernen. Er beschreibt Phänomene, die wir seit Donald Trump’s Präsidentschaft sehr gut kennen. Etwa dieses seltsame Flimmern im Kopf, wenn man das, was man für wahr hält und die Lüge des einstigen US-Präsidenten vergleicht. Und dann die Möglichkeiten der totalen Überwachung und was daraus werden könnte! Schauderhaft.

Viele Leute im Huxley-Team finden, der grosse Zukunftsroman „Brave New World“ aus dem Jahre 1932 porträtiere genau den ungehemmten Hedonismus unserer Zeit: Alle haben ständig Sex mit ständig wechselnden Partnern, Partys ohne Ende und alle nehmen eine Droge, die legal, unschädlich und erst noch gratis ist. Alle sind unerhört sensationslüstern. Alle shoppen ständig, damit alle anderen Arbeit haben.

Aber dieses Urteil dünkt mich oberflächlich, denn hier hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Die Menschen in Huxley’s Welt leben unter komplett anderen Voraussetzungen als wir. Damit ihr Wohlstand und ihr ungehemmter Hedonismus überhaupt möglich sind, wachsen sie nicht im Mutterleib heran, sondern werden vom Staat im Labor nach Bedarf gezüchtet.  Sie werden für ein Leben in einem strikten Klassensystem mit medizinischen Eingriffen vorprogrammiert. Alle müssen also schon als Embryonen schwerwiegende Verletzungen ihrer Grundrechte hinnehmen – sie werden geklont, an ihnen wird herumgedoktert, als Kinder werden sie alle im gleichen Schlafsaal gleich indoktriniert, denn keines von ihnen wird je eine Familie haben. Also wird sich auch niemand je Sorgen über Kinder oder kranke Angehörige machen müssen. Und den wenigsten  wird je ein individueller Gedanke durch den Kopf gehen. All das ist von wohlmeinenden Staatsvätern so eingerichtet, (Staatsmütter gibt es keine. Denn nur Männer werden so konditioniert, dass sie den nötigen Grips haben, einen Staat zu lenken).

Um es etwas polemisch zu sagen: Bei uns ist die Welt doch genau umgekehrt: Unsere Grundrechte sind einigermassen intakt und wir sind Individuen oder fühlen uns wenigstens als solche. Dafür haben wir ständig Geld- und Familiensorgen, fürchten um unseren Job und unseren gesellschaftlichen Status und den unserer Kinder. Unsere Drogen sind nicht besonders wirksam, gefährlich oder illegal. Und unser Hedonismus ist vielleicht einfach Ablenkung.

Und dennoch: Der Roman ist brilliant und packt und sorgt für Diskussionsstoff. Vielleicht muss man die beiden Autoren gar nicht gegeneinander ausspielen – vielleicht hat Orwell mehr über das schlimmstmögliche politische System nachgedacht und Huxley mehr über das Wesen und die Möglichkeiten des Menschen überhaupt. Aber das geht definitiv weiter als die angelsächsische Popkultur so allgemein.

Der Teufel als Hoteldirektor

Laird Cregar am Empfang zur Hölle im Hollywoodfilm „Ein himmlischer Sünder“, (1943)

Mein persönliches Ende scheint wieder in die Ferne gerückt zu sein – daher mutet es vielleicht merkwürdig an, wenn ich mich jetzt mit Jenseitsvorstellungen auseinandersetze. Aber ich finde das Bild oben aus dem Film von Ernst Lubitsch einfach zu köstlich, um es Euch vorzuenthalten. Daher dieser Blogbeitrag.

Es stellt Luzifer am Empfang zur Hölle so dar, wie man sich in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen Bank- oder Hoteldirektor vorstellte – jovial, aber höchst seriös führt er ein exklusives Etablissement. „Einen Pass zur Hölle bekommt man nicht auf Grund von Allgemeinplätzen“, sagt er zum Protagonisten des Films, der den Empfang eben betreten hat und merkwürdigerweise in der Hölle Einlass begehrt.

Der Streifen basiert auf einer volkstümlichen Jenseitsvorstellung des 20. Jahrhunderts. Sie besagte ungefähr, dass wir armen Sünder nach dem Hinschied erst mal bei Petrus an die Himmelstür klopfen. Petrus wird uns entweder einlassen oder – falls wir auf Erden zu sehr gesündigt  haben – zur Hölle schicken. Diese Vorstellung bot sich im 20. Jahrhundert auch für zahlreiche Witze an. Wer einen erzählt bekommen will, melde sich bitte – das hier ist eine ernste Sache.

Warum also meldet sich Henry van Cleve, Held von Lubitschs Film, nicht zuerst bei Petrus an, sondern kommt bussfertig gleich in den unteren Stock? Er beteuert, habe ein Leben dauernder Verfehlungen geführt. Doch muss er das erst genauer erklären, denn der satanische Herr am Empfang will ihm nicht glauben.

Henry breitet also seine Vita aus, die eines reichen Schürzenjägers, der seine Ehefrau verschiedene Male betrog.

Der Film kam neulich auf Arte, und schnell wurde mir klar, dass man ihn für militante Twitterblasen wohl mit einem Warnhinweis versehen müsste – er ist getragen von einem höchst altmodischen Frauen- und Männerbild. Zum Glück haben die Mitglieder der militanten Twitterblasen keine Zeit, solche alten Streifen auf Arte anzuschauen – und wir Ü50 haben gelernt, dass es keinen Sinn macht, die Filme vergangener Generationen unbesehen zur Hölle zu schicken, nur, weil sie andere Gender-Vorstellungen vertreten als wir. Es ist eine charmante Komödie, ein Zeitvertreib für Menschen, die für ein paar Stunden ihre Ängste vergessen wollen (es war gerade Zweiter Weltkrieg, als er in die Kinos kam). Er legt nahe, dass wir es auch im Jenseits einmal mit kompetentem und verständnisvollem Personal zu tun haben werden. Das ist doch tröstlich.

Weniger tröstlich, aber irgendwie doch plausibler dünkt mich die Jenseitsvorstellung der Stoiker, die Ferdinand von Schirach neulich in einem Interview zusammenfasste. Er bewies im Gespräch ebenfalls viel Stil. Den Tod müsse man nicht fürchten, sagt er. Der Tod sei „ein Zustand wie vor der Geburt. Epikur sagte, solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, sind wir es nicht mehr.“ Mit dem glauben an Hölle und Fegefeuer sei es vorbei, sagt Schirach. „Ich habe lange darüber nachgedacht, warum wir den Tod trotzdem noch fürchten. Ich glaube, es ist nur der Neid, dass die anderen weiterleben dürfen, man selbst aber nicht.“ Das ganze Interview findet sich hier.

Lesen während der Rekonvaleszenz

Das Bild zum Klassiker: Achilles besiegt Hektor – drastisch dargestellte Szene aus dem trojanischen Krieg, hier von Peter Paul Rubens (Quelle: kunstbilder-galerie.de)

In diesen Tagen der Rekonvaleszenz lasse ich die News nicht zu nahe an mich heran. Spekulationen über Putins Hirn und den Krieg lasse ich meist links liegen. Wenn in der „Tagesschau“ die schlimmen Bilder kommen, konzentriere ich mich auf die Untertitel. Immer noch befasse ich mich lieber mit Stoffen aus der fernen Vergangenheit. Ich habe mich in Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ richtig vergraben.

Mittlerweile kann ich mich aber dem Krieg auch dort nicht mehr entziehen. Ich bin beim Kampf um Troja angelangt. Im Buch gibt es sehr anschauliche Schlachtszenen, hier ein Mini-Ausschnitt: „Ajax … traf mit der Lanze den Amphios, einen Verbündeten der Trojaner, unter dem Gurte, dass er in dumpfem Falle zu Boden stürzte; dann stemmte er den Fuss auf den Leichnam und zog die Lanze heraus; ein Hagel von Speeren hinderte ihn, den Gefallenen der Rüstung zu berauben.“ (S. 397)

Actionszenen vor der Erfindung des Actionfilms eben, und sie ziehen sich über 100 Seiten hin, auf denen der Endkampf um die Stadt in Kleinasien tobt. Dutzende Helden sterben. Schwab scheint sich hier recht genau an die „Ilias“ von Homer gehalten zu haben. Ich versuche, das alles nur zu überfliegen, bleibe aber doch immer wieder hängen, als könnte ich mich auf diese Weise dem Unaussprechlichen nähern. Ich vertiefe mich sogar in eine verjüngte Bearbeitung des Stoffes: Ich sehe mir „Troy: Fall of a City“ von 2018 auf Netflix an. Diese Serie kann ich freilich nur Hobby-Historiker*innen empfehlen. Der Streifen braucht ungefähr so viel Geduld wie Schwab. Zudem enthält er ebenso drastische Action-Szenen, und erst noch in bewegten Bildern. Aber dann und wann tauchen ungewohnte Interpretationen des Stoffes auf. So thematisiert die zweite Folge den ökonomischen Aspekt des Krieges: Die Griechen, lautet die die plausible Behauptung, wollten nicht nur die „Entführung“ der Helena rächen, sondern den Troern gleich auch noch die lukrative Zollstation am Ausgang der Dardanellen wegschnappen.

In der zweiten Folge versuchen die Griechen die Stadt mit einem Blitzangriff an einem einzigen Tag einzunehmen. Aber der Plan misslingt. Bei Einbruch der Nacht ziehen sich beide Armeen erschöpft in ihre Lager zurück. Es folgt eine Szene von grosser Melancholie, in der der griechische Chefstratege Odysseus schwer atmend zum Kollegen Nestor sagt: „Wir haben keinen Zentimeter Boden gewonnen. Das ist kein Krieg, das ist Wahnsinn. Als die Trojaner unsere Forderungen zurückwiesen, sah ich, wie sich die Jahre vor mir auftaten. Ich werde ein alter Mann sein, wenn ich wieder nach Hause komme.“

„Da sah ich, wie sich die Jahre vor mir auftaten.“ Der Satz packt mich am Nackenhaar und zwingt meinen Blick auf die Gegenwart, mehr als viele hochtrabende Analysen über den misslungenen Blitzangriff der Russen vor ein paar Wochen. Ist es das, was wir jetzt vor uns haben? Jahre des des Mordens, des Elends und der Ungewissheit?

Gustav Schwab: „Sagen des Klassischen Altertums“, Insel taschenbuch 2792, Frankfurt am Main und Leipzig, Erste Auflage 2001

Lagebericht aus der Omikronwand

Der Fotograf Jean-Pierre Pedrazzini (1927 bis 1956), dessen Bilder wir gerade an uns vorbeiziehen lassen.
Da sitzen wir und haben Ferien, Herr T. und ich. Eigentlich wären wir jetzt am Filmfestival Solothurn. Dort würden wir mit Hunderten anderen Menschen im Kino sitzen, Schulter an Schulter, geschützt nur durch Impfung und Maske. Wir haben in der Schweiz laut corona-in-zahlen.de gerade eine Inzidenz von 2665 Fällen im 7-Tage-Schnitt (in Deutschland sind es 894, in Österreich 1840). Und das ohne Dunkelziffer – die Tests sind knapp.

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in Solothurn anstecken?“ fragte Herr T. Frau Frogg sagte forsch: „Ungefähr 100 Prozent, oder?“ So stornierten wir unser Hotelzimmer im „Kreuz“. Ich will kein Long Covid, und ich will kein Spitalbett besetzen, solange ich anders kann. Herr T. streamt uns zu Hause Schweizer Filme. Wir sitzen auf unserem Sofa wie hinter der Omikronwand versteckte Guerillakämpfer, zu zweit gegen das Virus und unsere Regierung, die uns durchseuchen will und es nicht so nennt.

Ich bin vom vielen Filmeschauen etwas geistesabwesend geworden. Die Tage haben ihre Struktur verloren, ich lasse die Bilder wie im Traum an mir vorbeiziehen. „Pédra, ein Reporter ohne Grenzen“ mit Bildern des Tessiner Fotografen Jean-Pierre Pedrazzini, ein Journalisten-Star der fünfziger Jahre, er fotografierte Sofia Loren und Prinzessin Margaret in einem Boot in Asien. Später bereiste er die Sowjetunion, dazu gibt’s Footage von ukrainischen Bauern bei der Heuernte, ein archaisches Ritual. Darüber schieben sich Bilder aus meinem Kopfkino, von Schweizer Heuernten in den achtziger Jahren und von der russischen Stadt Tula, wo ich einmal gewesen bin. Eine Stadt, deren Namen ich vorher nicht gekannt hatte, eine grosse Stadt voller Menschen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte. Pédra starb 1956, erschossen beim Aufstand in Ungarn.

Der Film wirkt seltsam unfertig, hört einfach auf nach dem Tod Pédras, als hätte der Fotograf nicht eine Frau hinterlassen, der er von unterwegs die sehnsüchtigsten Liebesbriefe geschrieben hatte. Ich stehe auf, strecke mich, bekomme Fernweh. Am Nachmittag werden wir spazierengehen.

„München“ – ein brandaktueller Film

Die beiden Protagonisten von „Munich“ – Paul von Hartmann (Jannis Niewöhner) und Hugh Legat (George MacKay) beobachten die Entwicklung der Weltlage aus nächster Nähe. (Quelle: sportskeeda.com)
Am Freitagabend schauten Herr T. und ich uns „Munich – the Edge of War“ auf Netflix an. Der Film ist geradezu lachhaft aktuell: Es geht um einen Aggressor (im Film Adolf Hitler) der sein Territorium auf einen Nachbarstaat in Osteuropa ausdehnen will (im Film die Tschechoslowakei, 1938). Und es geht um einen Vertreter der europäischen Grossmächte, die ihn stoppen wollen (im Film der britische Premierminister Neville Chamberlain). Mir kam es vor, als hätten die Netflix-Filmemacher dagesessen und diskutiert: „Na, was passiert so als nächstes auf der Welt? Welchem Thema wollen wir uns widmen? Ach, vielleicht überfällt Putin die Ukraine! Ja, kommt, lasst uns auf Putin setzen und ein ähnlich gelagertes Thema aus der ehrwürdigen Weltkriegsliteratur suchen!“

Bekanntermassen wollte Chamberlain 1938 einen Krieg um jeden Preis vermeiden. Er glaubte, Hitler mit einem Kompromiss von weiteren Verbrechen abhalten zu können. Eine massive Fehleinschätzung, wie sich 1939 herausstellte, als Hitler in Polen einfiel und sich die Briten dann doch für den Krieg entschlossen. Das alles wissen wir, während wir sehen, wie sich das Drama um Chamberlain entfaltet.

Danach sitzen Herr T. und ich auf dem Sofa und diskutieren: „Ist Putin wie Hitler? Ist er ein Verbrecher, der sich nur mit Gewalt aufhalten lässt?“ Nein, wahrscheinlich nicht, sagen wir. Aber vielleicht sind wir nur so naiv wie die Briten 1938. Neulich haben wir einen Bericht des Schweizer Fernsehens über die gewachsene Wehrbereitschaft der Frauen in der Ukraine gesehen. Die sehen das möglicherweise anders als wir.

Früher habe ich ja immer sehr auf Aktualität im Kunstschaffen gepocht. „Der Stoff muss uns in eine Auseinandersetzung mit dem zwingen, was auf der Welt um uns passiert“, habe ich postuliert. Es war Dan Brown, der meine diesbezügliche Gewissheit ungefähr 2005 ins Wanken gebracht hat. Was wir in Dan Brown’s Romanen sehen, ist billige, schlecht informierte Aktualitätshascherei.

Ist „München“ besser? Ja, ich denke schon. Um Längen sogar. Denn es geht um Fragen, die wir uns unser ganzes, verwöhntes Leben lang nur in kleinem Massstab stellen mussten: Wer ist unser Gegner? Müssen wir kämpfen und dabei Risiken eingehen, weil er skrupellos ist und alles vernichten wird, was uns wichtig ist? Oder reichen Kompromisse und Verhandlungen? Für die Rolle des Gegners kommt heute nicht nur Putin in Frage, sondern auch Trump – und mithin die Covid-Skeptiker, die hierzulande im letzten Herbst durchaus wie eine ernste politische Bedrohung aussahen. Letztere haben wir erst mal mit einer Volksabstimmung ruhigstellen können. Aber wie es weitergeht – niemand weiss es.

Was wir an dem Film am besten gefallen hat: Die beiden jungen Protagonisten verändern sich im Verlaufe des Films ständig: Der Deutsche Paul von Hartmann wird vom Hitler-Fan zum fast schon fanatischen Hitler-Bekämpfer. Der Brite Hugh Legat hat anfänglich noch Zeit für Eheprobleme und derlei Kleinigkeiten und ist im Umgang mit deutschen Überwachungsstaat lebensgefährlich naiv. Aber auch an ihm geht das Treffen in München nicht spurlos vorbei.

Soweit die Parallelen zur Aktualität. Aber bringt der Film auch etwas, was wir im Umgang mit ihr verwerten können? Ja, macht er. Er zeigt, dass Wehrbereitschaft nicht von heute auf morgen kommt. Sondern, dass sie wachsen muss.

Alter Woody Allen-Film, ganz neu gesehen

Diane Keaton und Woody Allen in „Manhattan“ (nicht die Einstellung, über die ich hier schreibe).

Den hastigen Dialogen in Woody Allen-Filmen kann ich oft nicht mehr folgen. Oder vielleicht können es die Untertitel nicht, ich weiss es nicht genau. Als wir neulich abends „Manhattan“ (1979) sahen, blieb unten jedenfalls mal minutenlang eine Zeile über ein Restaurant hängen, während die Protagonisten im Film aufgeregt weiterbrabbelten.

Dafür sehe ich Bilder anders als früher, und so fiel mir in „Manhattan“ diese geradezu beunruhigend intime Einstellung auf. Sie dauert sicher zwei Minuten, eine Nahaufnahme von Diane Keaton, Woody Allen und Michael Murphy an einer Vernissage. In der Bildmitte sieht man das Gesicht der jungen Keaton wie eine strahlende Sonne, mit diesem Leuchten, das junge Leute haben, und das mich manchmal fast umhaut. Die beiden Männer links und rechts von ihr stehen etwas im Schatten. Die drei haben eines dieser Gespräche über Kunst, Philosophie oder die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung oder was immer. In einer heutigen TV-Produktion würde die Kamera jeweils auf die sprechende Person schwenken und so ihrer Aussage Gewicht geben. Aber das passiert hier nicht. Sie bleibt in derselben Position, und man sieht eigentlich nur Keaton. Das illustriert dann auch, wozu diese nervösen Dialoge eigentlich da sind: Da wollen alle bloss zeigen, was für Intelligenzbestien sie sind. Dabei zählt im Grunde nur das Begehren – das Begehren der Kerle natürlich, wir sind ja in einem Woody Allen-Film.