Nach dem Booster

Am Donnerstag konnte ich mich boostern lassen. Mein linker Arm seufzte leise: „Nicht schon wieder eine Spritze!“ Ich habe mich dieses Jahr ja nicht nur dreimal gegen Covid-19 impfen lassen, sondern auch einmal gegen die Grippe. Eine Grippe kann mir schwer auf die Ohren schlagen, das weiss ich aus Erfahrung. Also mache ich das halt auch noch.

Gestern dann wieder heftige Nebenwirkungen: Moderna-Arm, gegen 38 Grad Temperatur, und mein Knochengestell fühlte sich an wie eine Burgruine bei minus 8 Grad. Sorgen machte ich mir deswegen keine – das hatte ich beim letzten Mal Moderna auch. Wo immer man nachforscht, man wird lesen: Nebenwirkungen zeigen, dass das Immunsystem reagiert und dass die Impfung wirkt. Herr T., der sich gleichentags hat boostern lassen, hatte nichts. Wirkt die Impfung bei ihm nicht? Wahrscheinlich doch, liest man überall.

Zufälligerweise bin ich im Tagesanzeigerauf einen Bericht über Nebenwirkungen bei geimpften Kindern gestossen. 2268 Kinder bekamen eine Spritze, bei zwei Dritteln war Pfizer drin. Ein weiteres Drittel, die Kontrollgruppe, bekam einfach Kochsalzlösung. 51 Prozent der geimpften Kinder hatten Beschwerden wie Erschöpfung, diverse Schmerzen, Schüttelfrost und Fieber. Allerdings hatten auch 37 Prozent der mit Kochsalzlösung gespritzten Kinder solche Nebenwirkungen.

Kann es demnach sein, dass manche vor lauter Angst Nebenwirkungen haben? Das halte ich bei mir für unwahrscheinlich, ich war beim ersten und zweiten Mal furchtlos und fieberte beim zweiten Mal doch. Aber ich kann mich ja trotzdem jetzt dafür entscheiden, beim nächsten Mal einfach keine Angst und, wer weiss, keine Nebenwirkungen zu haben. Mein Chef wird dankbar sein. Das wird ihm den Ärger ersparen, Zeuge eines weiteren Wutanfalls meinerseits zu werden. Man hatte mir an meinem Fiebertag unerwartete Mehrarbeit aufgebürdet. Eine Woche lang hatte ich mich gut organisiert, um genau das zu vermeiden. Aber dann passierte es trotzdem.

Nacht in Italien

Dies ist die erste Story der Sammlung Geschichten, die glücklich machen. Es freut mich, wenn ihr auch eine Story beisteuert.

Frau Frogg mit 19 am Bahnhof von Lucca, allerdings bei Tag.
Im Oktober 1984 gab es noch keine Handys. Wenn man etwas abmachte, galt es. Ich hatte mich an einem Freitagmorgen um 7.30 Uhr mit meinem Kumpel Fred in Livorno verabredet. Wir wollten zusammen nach Korsika. Fred hatte gesagt: „Ich komme spät am Vorabend in Livorno an. Du findest mich unter der Eisenbahnbrücke 100 Meter hinter dem Bahnhof. Dort übernachte ich. Sei pünktlich. Das Schiff geht um 8 Uhr.“ Fred kam direkt aus der Schweiz. Ich wollte mit dem Zug von Lucca anreisen, wo ich mit meiner Klasse auf Abiturreise gewesen war. Eine Zugfahrt von etwas mehr als einer Stunde. Ich war 19.

Womit ich nicht gerechnet hatte: Während wir in Lucca waren, brach ein Eisenbahnerstreik aus. „Scioppero!“ Gelegentlich fuhren Züge, sehr oft auch nicht. Ob es am frühen Morgen eine Verbindung nach Livorno geben würde, wusste ich nicht. Doch die Nacht unter der Eisenbahnbrücke in einer fremden Stadt verbringen – nein danke! Nach Korsika aber wollte ich.

Wenn ich etwas unbedingt gewollt habe, habe ich es mir stets mit schierer Sturheit geholt. An jenem Tag stand ich um vier Uhr früh am Bahnhof von Lucca. Dort war bereits ein Menschengrüppchen im blassen Schein von ein paar wenigen Lampen auf dem Perron 1 versammelt. Der Zug auf dem Gleis war unbeleuchtet. Ich fragte ein wenig herum, ein paar Worte Italienisch konnte ich. Niemand wusste etwas.

Dann kam ein Mann auf mich zu, vielleicht vierzig Jahre alt. Ich solle mitkommen, sagte er. Er führte mich einem Gleis entlang, hinaus ins Dunkle. Mir wurde sehr mulmig. Aber dann sah ich weiter vorne einen beleuchteten Zug und mehr Menschen. „Dieser Zug geht nach Varese. Dort steigen wir um. Ich muss auch nach Lucca“, sagte der Mann. Ich misstraute ihm, aber ich hatte mich auf das Abenteuer eingelassen. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihm in den Zug zu steigen. Die anderen stiegen auch ein. Wir waren wenigstens nicht allein im Abteil. Irgendwann zuckelte der Zug los.

Der Mann sagte, er sei Seemann, und von der Bekleidung her kam das ungefähr hin. Mein Italienisch war schnell erschöpft, aber wir stellten fest, dass wir beide die Literatur liebten. Da begann er Gedichte zu rezitieren. „Piove“, sagte er irgendwann und immer wieder, „piove“ und „piove“. Draussen zog die Dunkelheit vorbei. Drinnen rauschte der Regen ins Abteil. Er hatte eine Stimme wie Sand. Noch heute kann ich diesen Gesang hören, diese wohlgeformte Sprache, dieses immer wiederkehrende „piove, piove“.

Später habe ich recherchiert und vermute, dass es Gabriele d’Annunzios La pioggia nel pineto war. Der Pedant würde sagen, dass Gabriele d’Annunzio politisch nicht über jeden Zweifel erhaben war. Ich aber erlebte an jenem Morgen die entrückende Kraft der Sprache und wurde gerettet.

Wir müssen lange unterwegs gewesen sein. Der Zug traf um 7.25 Uhr in Livorno ein. Ich verabschiedete mich dankbar und machte mich auf die Suche nach Fred. Seine Eisenbahnbrücke fand ich, aber nicht ihn. Zehn wertvolle Minuten gingen verloren. „Nun, dann gehe ich jetzt in die Bar am Bahnhof, trinke einen Kaffee, und dann schauen wir weiter“, dachte ich.

Kaum hatte ich das Bahnhofsrestaurant betreten, sah ich Fred. Er kläffte mich als erstes an, weil ich mittlerweile verspätet war. Am hinteren Ende des Tresens sass mein Seemann vor einem Gläschen Eierlikör. Bevor wir eilig die Bar verliessen, winkte ich ihm nochmals zu. Aber er tat, als erkenne er mich nicht.

Das Schiff nach Korsika verpassten wir. Wie wir trotzdem auf die Insel kamen, erzähle ich ein andermal.

Geschichten, die glücklich machen

Holzschnitt aus einer Dekameron-Ausgabe des Jahres 1492. Sie zeigt Bruder Pucio, der seine Seligkeit durch Selbstkasteiung erlangte. Seine Ehefrau hat derweil gleich im Nebenzimmer endlich guten Sex – mit Pucios Seelsorger.

Ich habe den Eindruck, dass wir gerade alle etwas Aufheiterung brauchen können. Ich habe daher einen Entschluss gefasst: Ich sammle Geschichten, die glücklich machen, und zwar beim Lesen und am besten schon beim Erzählen. Geschichten von bestandenen Abenteuern, heitere oder erotische, fröhliche oder poetische Geschichten. Unsere Vorbilder sind zehn junge Leute, die 1348 vor der Pest aus Florenz in ein Landhaus flohen – quasi in den selbstgewählten Lockdown. Zehn Tage lang vertrieben sie sich die Langeweile und die Angst mit Geschichtenerzählen. Natürlich handelt es sich bei diesen Pestflüchtlingen um erfundene Figuren. Auch die Storys, die sie einander erzählten, sind erfunden. Giovanni Boccaccio packte um 1350 alles zusammen in ein Buch namens Dekameron und schrieb damit Weltliteratur.

Boccaccios Geschichten haben Stil und Esprit. Meist geht es um Leute, die sich mit List, manchmal auch mit hoher Tugend holen, was sie wollen oder brauchen – sei es Liebe, guten Sex oder Schutz vor der Willkür eines Herrschers. Meist wird auch jemand Zielscheibe von Spott, vorzugsweise ein einfältiger Kleriker. Bei mir auf dem Büchergestell habe ich ein Bändchen mit zehn Novellen aus dem Dekameron gefunden. Darunter jene des frommen Bruders Pucio (siehe Bild).

Erfunden oder nicht, wir könnten in unseren stillen Kämmerchen etwas ähnliches machen wie die zehn Florentiner in ihrem Landhaus, dachte ich: Ich meine, wir haben alle einen Blog und können einander das Blaue vom Himmel herunter erzählen. Ich werde alles hier sammeln. Wenn Ihr eine Geschichte habt, postet sie auf Eurem Blog, verlinkt diesen Post auf Eurem Beitrag und schickt mir hier einen Kommentar mit Eurem Link. Ich mache dann unten eine Liste mit Euren Geschichten.

Ich mache selber den Anfang mit meiner Geschichte Nacht in Italien. Ich freue mich auf viele Beiträge von Euch.

Die gute Nachricht

Ich hatte mir für den heutigen Abstimmungssonntag schon allerhand Zitate von Hannah Arendt zurechtgelegt, die der Menschheit die Vernunft weitgehend absprechen. Ich war wirklich nervös diesmal. Nachdem aber rund 62 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja zum aktualisierten Covid-19-Gesetz gesagt haben, habe ich wieder Vertrauen, dass die Demokratie in der Schweiz doch einigermassen stabil ist.

Im Nachhinein darf man meinen Pessimismus gerne belächeln. Aber ich hatte in den letzten Wochen im Büro mit derart vielen militanten Covidskeptikerinnen und -skeptikern zu tun, dass ich um ein gewisses Verständnis bitte. Dieser Urnengang fühlte sich an wie ein Waffengang. Auch, weil die Landschaft weit und breit mit Nein-Plakaten geradezu zugepflastert war. Die Gegner hatten Geld wie Heu, und das macht Angst.

Nun dümple ich zufrieden in den Sonntagabend. Ab morgen mache ich mir dann meinetwegen wieder Sorgen um die epidemiologische Lage. Nicht mehr heute Abend.

Notfall-Drill mit Telefon

Der Phonak Compilot, mein Helfer beim Telefonieren.
Aus allseits bekannten Gründen bereite ich mich mental auf ein medizinisches Worst Case-Szenario vor, das da wäre: Eine mir sehr nahestehende Person liegt im Bett, ringt um Luft und kann nicht mehr selber telefonieren (ich wage es nicht, diese Person hier beim Namen zu nennen. In dieser Hinsicht bin ich wie die weniger heldenhaften Zauberer in Harry Potter. Das Böse versuche ich von mir fernzuhalten, indem ich es nicht gänzlich in Worte fasse). Ich bin allein mit dieser Person und muss also selbst die Ambulanz herbeitelefonieren.

Das Problem ist: Ich kann nur noch mit grösster Mühe und einem Hilfsmittel telefonieren. Das Hilfsmittel heisst Phonak Compilot II und überträgt den Schall vom Telefon via Bluetooth direkt auf meine Hörgeräte. Auch mit Hilfe dieses Streamers verstehe ich meist nicht so richtig, was man mir sagt. Aber ich höre es wenigstens, wenn auf der anderen Seite jemand spricht.

Mit Herrn T. exerziere ich durch, was ich im Notfall tun müsste. Im Moment bin ich, so glaube ich jedenfalls, durchaus im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Aber ich ahne, was Panik mit mir machen könnte. Deshalb braucht es jetzt diesen Drill. Ich fange an: „Ich muss den Streamer immer in Bereitschaft haben – das heisst: Ich muss regelmässig seinen Akku aufladen. Wenn es soweit ist, muss ich den Streamer umhängen, ihn einschalten und die Nummer 144 anrufen. Es ist 144, oder?“ Herr T. nickt. Ich habe die beunruhigende Tendenz, 144 mit 142 zu verwechseln. Im Falle eines Falles könnte eine solche Verwechslung unnötig Zeit kosten, ich werde es also täglich repetieren: Die richtige Telefonnummer für medizinische Notfälle ist 144.

Wenn die Person am anderen Ende sich meldet, muss ich sagen: „Guten Tag, ich habe hier einen medizinischen Notfall. Ich bin schwerhörig, bitte sprechen Sie langsam und deutlich.“ Die Person am anderen Ende wird etwas sagen, was ich bestenfalls verstehe, aber vielleicht auch nicht. Ich werde genau beschreiben, was mit der kranken Person los ist.

Herr T. nickt.

„Und dann werde ich sagen: ‚Ich glaube, Sie müssen eine Ambulanz schicken und ihn holen.'“

Herr T. nickt und wartet, ich weiss nicht auf was. Dann sagt er: „Du musst aber unbedingt Deine Adresse angeben und sagen, bei welchem Namen die Leute von der Ambulanz klingen müssen.“

Wenn das Chaos ausbricht

Der griechische Historiker Thukydides wusste aus Erfahrung, wie Menschen sich während einer Seuche verhalten. (Quelle: phil.uni-mannheim.de)
Die Fallzahlen steigen auch in der Schweiz. Die Bundesregierung in Bern beobachtet wieder mal untätig die Lage. Dafür sind die Massen in Aufruhr. In Zürich demonstrieren Tausende gegen 3G und das Covid-19-Gesetz. Was das für Leute sind, bekomme ich aus beruflichen Gründen besser mit als mir lieb ist. Sie verstecken sich hinter einem Haufen pseudowissenschaftlichem Bullshit. Aber in Wirklichkeit sind ihre Motive ganz einfach: Die Mehrheit will für ein 3G-freies Bier ohne zu zögern die eigene Grossmutter an den Sensemann verkaufen. Die Anspruchsvolleren wollen dazu auch gleich noch einen neuen Staat. Sie sind für ihre Umsturzpläne bei Donald Trump in die Lehre gegangen, das erkennt man an der Konstruktion ihrer Lügen. Und dann gibt es noch Leute, die echte existenzielle und/oder psychische Probleme haben, über die man aber wenig weiss. Nur so viel ist bekannt: In der Innerschweiz leiden viele an einem Wahn, bei dem sie sich für Wilhelm Tell halten und Gesundheitsminister Alain Berset in Bern für den fremden Vogt. Solche Menschen haben im Massenaufruhr ihr Glück und ihre Heimat gefunden.

Bei Herrn T. und mir geht es gesetzter zu und her. Wir hatten Bekannte hier zu Kaffee und Zuger Kirschtorte, alle geimpft, und wir hielten Abstand. Als der Besuch gegangen war, blätterte ich in leicht melancholischer Stimmung in „Krankheit als Metapher“ von Susan Sontag. Es gibt dort eine kurze Passage über Epidemien: „Wie jede Extremsituation bringen gefürchtete Krankheiten das beste und das Schlimmste im Menschen zum Vorschein“, schreibt sie. „Die üblichen Erzählungen über Epidemien betonen jedoch die verheerende Wirkung der Krankheit auf den Charakter. Je weniger sich der Chronist auf die Annahme stützt, dass die Seuche eine Strafe für die Schlechtigkeit der Menschen ist, desto eher wird die Chronik den moralischen Verfall betonen, der sich bei der Ausbreitung der Krankheit manifestiert. Thukydides berichtet anschaulich, auf welche Art und Weise die attische Seuche von 430 vor Christus Unordnung und Gesetzlosigkeit säte (‚das Vergnügen eines Moments nahm den Platz der Ehre und des klaren Denkens ein‘.)“*

Als ich das im Frühjahr 2020 zum ersten Mal las, schien es wenig mit Covid-19 zu tun zu haben. Aber wie heil mir die Welt von 2020 bereits scheint! Damals hatten wir zwar einen Schock und einen Lockdown. Aber noch keine „Liberté!“ skandierenden Menschenmassen.

Zum Schluss nur noch dies: Wer will, dass in der Schweiz das klare Denken die Oberhand behält, stimmt am 28. November Ja zum Covid-19-Gesetz,

*Susan Sontag: „Illness as Metaphor and AIDS and its Metaphors“, New York, 1990, Seiten 40 und 41, aus dem Englischen übersetzt von Frau Frogg.

Böse Schwerhörige

Ein Kindertretrad, hier Likeabike
genannt, ist handlungstreibendes Element dieser Geschichte. Quelle: babyjoe.ch
Man sagt, viele Schwerhörige würden zu besonderem Misstrauen ihren Mitmenschen gegenüber neigen. Wenn sie etwas missverstünden, würden sie immer gleich das Negativste über den Sprecher oder sich selbst denken. In älteren Texten ist sogar von einem Hang zur Paranoia die Rede. Bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, dass das bei nicht so sei. Ich habe mich aus familiären Gründen schon als Teenager mit dem Phänomen Verfolgungswahn (ohne Schwerhörigkeit) auseinandersetzen müssen. Damals legte ich für mich eine Lebensmaxime fest: „Wenn Du nicht mit Sicherheit weisst, ob jemand etwas Fieses zu Dir oder über Dich gesagt hat, dann stellst Du am besten gar keine Vermutungen an.“ Bis jetzt habe ich das leidlich durchgehalten.

Am letzten Sonntag bin ich gänzlich unerwartet gescheitert.

Es passierte auf einem Spaziergang mit Herrn T. auf einem etwa zwei Meter breiten Weg am Stadtrand. Wegen meiner Instagramsucht musste ich einen kurzen Fotostop einlegen. So holte ein junger Papa mit zwei quengeligen Kindern hinter uns auf. Ich hörte ihn noch entnervt sagen: „Nein, Alma, hör jetzt auf damit!“ Dann näherte sich pfeilschnell eines der Kinder auf einem Likeabike. „Tsiite!“ sagte das Kind mit verkniffenen Lippen, und wir wichen gehorsam aus. „Tsiite!“ ist Schweizerdeutsche Kurzform für: „He, zur Seite, aber dalli!“ „Tsiite!“ sagten wir als Kinder, wenn wir jemandem auf respektlose Art mitteilen wollten, dass er oder sie uns im Wege war.

„Was für ein ungezogener Goof!*“ dachte ich.

Schon nach zehn Metern hielt die Kleine an. Es handelte sich um ein vielleicht vierjähriges Mädchen mit langem, honigblondem Haar, wahrscheinlich jene Alma, die kurz zuvor von ihrem Vater aus der Contenance gebracht hatte. Vor uns lag die Durchgangsstrasse. Das Kind wollte sie wohl nicht ohne den Papa überqueren, der mit seinem zweiten Kind im Wägeli immer noch hinter uns ging. Als wir an der Kleinen vorbeigingen, musterten wir einander. Sie hatte ein zum Erbarmen bekümmertes Gesicht, der Eklat mit ihrem Vater ging ihr wahrscheinlich nahe. Sie sah überhaupt nicht ungezogen aus. Ich wollte jetzt mehr wissen. Kaum konnte ich davon ausgehen, dass wir ausser Hörweite waren, fragte ich Herrn T.: „Du, hat die Kleine wirklich „tsiite“ gesagt?“

Herr T. schaute mich verwundert an. „Nein“, sagte er, „sie hat ganz einfach ‚grüzei‘ gesagt.“

Es brach mir fast das Herz, dass ich sie nicht zurückgegrüsst hatte.

* „Goof“, ist ein despektierliches schweizerdeutsches Wort für Kinder, „Saugoof“ die Steigerung.

Instagramsüchtig

Eines meiner „meistgelikeden“ Instagram-Bilder. Atlasfigur an der Tür des Luzerner Hotels Palace, das gerade umgebaut wird.
Falls Ihr Euch gefragt habt, warum ich so selten schreibe: Ich bin wieder mal instagramsüchtig. Das kommt bei mir in Schüben. Diesmal liegt es daran, dass wir einen goldenen Herbst gehabt haben, zwei Monate kobaltblauen Himmel und Laub in allen Farben. Ausserdem habe ich ein neues Handy und mithin eine bessere Kamera.

Ich gebe mich Instagram nicht ohne schlechtes Gewissen hin. Dieses ständige Schielen nach neuen „Likes“ hat etwas Zwanghaftes. Meine angestrengte Suche nach den besten Hashtags hat dazu geführt, dass an mehreren Orten in unserer Wohnung unordentliche Listen mit solchen herumliegen. Und dann die idiotischen Fragen, die ich mir so stelle: Soll ich den Hashtag #abandoned (den man normalerweise für verfallene, leerstehende Häuser braucht) auch für den Helden aus Sandstein im Bild links verwenden? Verstehen alle die Anspielung, wenn ich den Hashtag „#notimetodie“ setze? Sehen andere die Ähnlichkeit mit James Bond auch? Wie auch immer, das Bild schlug ein: Ich habe bis dato 258 „Likes“ dafür bekommen, zwei- bis dreimal so viel wie für meine anderen Bilder. Ich habe einen Hammer-Hashtag gefunden, aber den verrate ich nicht. Überhaupt: Was sind „Likes“ denn für eine Messgrösse?

Eine grosse Schweizer Tageszeitung warf kürzlich die Frage auf, ob man bei Facebook überhaupt noch mitmachen dürfe – und diese Frage darf ruhig für Instagram auch gelten, denn das der Laden gehört ja Facebook. Ganz abgesehen davon, dass ich dem Konzern ohne nachzudenken Informationen über mich und jeden meiner unschuldigen Spaziergänge liefere – ich mache da auch bei einem Spiel mit, das junge Frauen magersüchtig macht, auf dem auch Menschenhändler ihr Unwesen treiben, und das Hass und Hetze sät. Dabei will ich meine Follower nur auf kleine Reisen mitnehmen.

Und dann ist da noch der Umstand, dass ich mir vorgenommen hatte, wieder mehr zu schreiben. Dass ich mich so leicht davon habe abbringen lassen, bestätigt nur ein Zitat, das angeblich von Jan Philipp Reemtsma stammt: Das Ich sei eine «Turnhalle, die von Stimmungen durchweht wird». Für mein ich gilt das offensichtlich. Nun, ich bin zurück und habe in der Halle einen Turnbock für Tagebuch-Übungen aufgestellt. Meine anderen Schreibprojekte bekommen erst mal den Hashtag #abandoned.

Ein magisches Tal

Berge wie himmlische Beisszacken im Bergell: Ganz rechts wie ein Hausdach der Piz Badile (3308 m. ü. M.), links davon der Cengalo (3369 m. ü. M.), .

Im Herbst 2013 besuchte ich das Bergell zum ersten Mal und beschrieb es hier höchst ungnädig als wahres Jammertal – damals war es düster und verhangen. Während unseres Aufenthaltes auf dem Maloja Ende September haben wir es nochmals besucht, diesmal bei schönem Wetter – ein veritables Hammertal. Wir stiegen auf der Passhöhe ins Postauto, dessen Chauffeurin es geduldig die zahlreichen Serpentinen in den Talgrund hinunterlenkte. Als wir in Promontogno ankamen, lagen rund 1000 Höhenmeter hinter uns. Wir stiegen aus, und schon umfächelte uns die milde Luft des Südens.

Was mir beim letzten Mal weniger aufgefallen war, sah ich diesmal mit umso grösserer Begeisterung: Die Dörfer im Bergell haben eine eigene Architektur, eine Mischung aus Engadiner Robustheit und italienischer Liebe zu verspieltem Beiwerk (links im Bild ein Erker in Promontogno). „Man könnte im Bergell in jedem Dorf aus dem Postauto steigen und losfotografieren“, sagte mein Kumpel, der Pedestrian später. Ich kann nur sagen: Er hat recht. Herr T. und ich nahmen den Bus nach Soglio, wo wir 2013 bei düsterem Nebel genächtigt hatten. Diesmal sahen wir schon bei der Bushaltestelle die nur leicht umwölkten Bergspitzen im Süden, je nach Licht mal finstere Beisszacken, mal lichtumflorte Säulen, die hoch oben den Himmel trugen.

Wir wanderten durch den Wald, und Herr T. zeigte mir auf der gegenüberliegenden Talseite den Cengalo. Ja, er ist schön. Aber der Klimawandel hat ihn zum Monster gemacht. Weil es wärmer ist, hat sich der vereiste Nordhang aufgeweicht und ist instabil geworden. Am Mittwoch, dem 23. August 2017, um 09:30 Uhr, lösten sich dort oben 3 Millionen Kubikmeter Gestein und donnerten mit einer Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern hinunter ins Tal. Als gewaltige Schlammlawine verschütteten sie wenig später das Dorf Bondo, direkt neben Promontogno. Hier ein sehenswerter Beitrag des Schweizer Fernsehens über das Unglück, das acht Menschen das Leben kostete.

Das machte mir Eindruck, und ich blieb kurz stehen, dann wanderten wir weiter. Als wir im Bus zurück auf die Passhöhe sassen, hatte ich Kraft und Begeisterung für düsterere Tage getankt.

Salecina – woran die Liebe scheiterte

Seit zwei Tagen überlege ich, wie ich meine verfrühte Abreise aus Salecina kurz und bündig erklären kann. Mir fehlt die Zeit, jede Einzelheit des ereignisreichen und für mich sehr ungewohnten Lebens dort oben aufzuzeichnen. Schliesslich habe ich gemerkt, dass es im Grunde einfach ist. Es lag zu einem sehr beträchtlichen Teil an meinem Ohrenleiden – am Paradox der Schwerhörigkeit.

Und zwar aus folgendem Grund: Die schönsten Momente in Salecina sind die Mahlzeiten. Meistens essen die Gäste alle auf zwei grosse Tische verteilt in einem Raum mit einer gewölbten Decke. Man geniesst die Gelegenheit, mit Leuten zu plaudern, deren Bekanntschaft man sonst nie im Leben gemacht hätte. Die Gespräche waren immer angeregt und herzlich. Früher hätte ich diese Tischrunden geliebt. Die halbe Nacht lang hätte ich mit den neuen Bekannten die Wahlen in Deutschland erörtert, oder die Abenteuer der soeben absolvierten Wanderung. Für solche Abende hätte ich Salecina das dünne Bettzeug in den Zimmern verziehen. Ich hätte problemlos weggesteckt, dass ich hier ein WC mit schlimmstenfalls über zehn Leuten teilen musste, und sowieso, dass ich dieses WC auch noch selbst putzte*. Ich hätte sogar Spass daran gehabt, dass am zweiten Tag eine italienische Schulklasse einfuhr und für noch mehr Betrieb sorgte.

Aber in einem Raum, in dem mehr als zwei Leute gleichzeitig sprechen, bin ich verloren. Erst recht in einem Raum, in dem gleichzeitig auch noch alle mit ihren Essbestecken hantieren. Ich bekam von all diesen angeregten Gesprächen im Speisesaal immer nur Fragmente mit. Natürlich ergaben sich dann und wann trotzdem schöne Begegnungen. Doch insgesamt fühlte ich mich beim Warten auf diese intimeren Momente zunehmend gequält und erschöpft, und alles andere störte mich schliesslich auch.

Muss ich aus dieser Erfahrung die Kritik ableiten, dass Salecina sich zu wenig um die Inklusion von Menschen mit Behinderung kümmert? Nein, ich glaube nicht. Salecina bietet vielen Menschen Unterkunft, die sich sonst keine Ferien in den Bergen leisten könnten. Ich glaube, das ist ein Verdienst, das erst einmal von anderen Pflichten entbindet. Salecina ist ein kleiner Versuch der Utopie – einer, der schon seiner Lage wegen wohl nicht alle Träume verwirklichen kann. Aber ich diskutiere gerne darüber.

Und, trotz allem: Die drei Tage dort waren eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

* Dem Aspekt der Mitarbeit im Salecina werde ich nach Möglichkeit noch einen eigenen Beitrag widmen.