Mit Hörgerät, ohne Hörgerät

Hörgeräte sind ein Segen. Hier beschreibe ich, was sich anders anhört, wenn ich meine trage (Quelle: www.oticon.ch)

Es soll ja Leute geben, die ihre Hörgeräte nicht tragen. Zu denen gehöre ich eindeutig nicht. Ich setze sie mir am Morgen gleich nach dem Aufwachen ein. Und abends nehme ich sie erst heraus, wenn mein Kopf gleich aufs Kissen sinken wird. Deshalb weiss ich gar nicht genau, was ich ohne Hörgeräte eigentlich noch höre. Nicht viel, fürchte ich.

Manchmal sage ich mir abends selber „hallo“, wenn ich die Hörgeräte herausgenommen habe. Das höre ich nur noch, wenn ich laut und deutlich mit mir selber spreche. Ich höre meine eigene Stimme dünn und dumpf zugleich, sie sagt „ollo! ollo! ollo!“ Wenn ich mit der Hand über die Bettdecke streiche, höre ich das als dünnes Rinnsal von einem Geräusch. Aber nur an guten Tagen. An schlechten höre ich gar nichts. Manchmal muss ich nochmals aufstehen und gehe am Fernseher vorbei, der noch läuft, weil Herr T. noch fernsieht. Dann höre ich manchmal eine Stimme aus der Kiste, ein helles Greinen. Es klingt immer gleich. Stimmen unterscheiden kann ich ohne Hörgerät nicht mehr.

Hörgeräte dürfen nicht nass werden, deshalb muss ich sie zum Duschen ausziehen. Das Rauschen des Duschwassers höre ich dann. Sonst nichts. Schwierig wird es immer in der Badi. Wenn ich in den See will, muss ich mir die Hörgeräte ausziehen. Dann ist nichts als lauter Tinnitus um mich herum, manchmal ein Kind das schreit. Und wenn Herr T. sich anstrengt, können wir uns knapp verständigen. Das heisst: Im Sommer konnten wir das noch. Jetzt höre ich noch schlechter und weiss nicht, ob es noch ginge. Aber es ist ja Herbst. Man muss nicht in die Badi.

Die Hörgeräte helfen: Mit ihnen erkenne ich Stimmen und verstehe auch manchmal, was man mir sagt, wenigstens bei guten Hörbedingungen. Ich höre bei offenem Fenster das Juchzen der Kinder unten auf der Strasse. Ich höre die Tastatur meines Computers und das Klicken der Maus. Ich kann ein bisschen singen, wahrscheinlich falsch. Ohne Hörgeräte höre ich gar keine unterschiedlichen Tonhöhen mehr.

Früher hätte mich das alles entsetzt. Jetzt versuche ich, es zu ignorieren. Wenn ich doch einen panischen Moment habe, denke ich an meinen Ohrenarzt. Der sagt: „Wenn Sie noch zehn oder zwanzig Dezibel schlechter hören, dann gibt es immer noch die Möglichkeit eines Cochlea-Implantats. Nur damit Sie wissen, dass Sie nicht einfach ertauben werden.“

 

Hoffnung

Es war an einem ganz gewöhnlichen Freitag, am 24. August. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, kam Herr T. aus seinem Büro. Das tut er sonst nie. Er bleibt sonst immer im Büro sitzen, ich stelle mich in den Türrahmen und wir reden. Aber diesmal kam er eigens heraus, um mir etwas zu sagen: „Du, Lena Wechsler hat angerufen. Es ist etwas Schlimmes passiert.“

Es klang merkwürdig sachlich. Aber wenn jemand hierzulande sagt: „Es ist etwas Schlimmes passiert“, dann muss man sich auf Tote oder Schwerverletzte gefasst machen.

Lena ruft mich sonst nie an. Wenn sie es tut, dann kann es nur wegen Andreaszwei sein. Andreaszwei ist ihr Ex und mein geliebter Spaziergängerkumpel, seit vielen Jahren. Es gibt nicht viele Menschen, die mir vertrauter sind. Es ist ein merkwürdiger Moment. Ich stehe neben mir und schaue mir dabei zu, wie ich warte, bis Herr T. den Hammer niedersausen lässt: „Andreaszwei hat einen schweren Herzinfarkt gehabt. Er liegt im Kantonsspital. Er lebt, aber sie mussten ihn lange reanimieren. Sie wissen nicht, ob er überlebt – und die Chance, dass er je wieder ein normales Leben führen wird, ist sehr klein.“

Ich war müde und hungrig, und ich sagte: „Ich muss erst einmal etwas essen.“

Aber schon beim zweitletzten Bissen begannen die Tränen zu rollen. Ich rechnete nach. Ich kenne ihn seit 1994. Seit 24 Jahren. Noch am 11. August waren wir zusammen unterwegs gewesen, ein leichter Spaziergang im Eigenthal. Zu leicht für unsere Verhältnisse, auf seinen Wunsch. Eigentlich hatte ich geahnt, dass etwas nicht stimmte. Aber er sagte, er habe bloss Rückenschmerzen. „Geh zum Arzt“, sagte ich noch, bevor er bei der Kantonalbank aus dem Bus stieg. Aber wer rechnet damit, dass einer gleich einen Herzinfarkt macht? Er ist ja noch nicht mal 60.

In der ersten Woche weinte ich viel. Ich ging in die Kirche und zündete Kerzchen an und betete. „Leb!“ sagte ich in Gedanken zu ihm.

Er lebt. Vor einer Woche kam er zu sich. Alle sprachen von einem Wunder. Als ich ihn am letzten Dienstag auf der Intensivstation besuchte, war er fast schon sein altes Selbst. Er hing an einem Dutzend Drähten und Schläuchen und konnte kaum sprechen. Aber er lächelte, als ich sagte, ich wolle bald wieder mit ihm spazieren gehen.

Seither hat es Rückschläge gegeben. Er hat furchtbare Schmerzen. Aber ich sage gewiss alle zwei Stunden in Gedanken zu ihm: „Leb Andreas. Leb.“

Der Sommer, der Klimawandel

Im T-Shirt auf dem Mer de Glace – nicht einmal neben dem Gletscher ist es diesen Sommer richtig kühl. (Quelle: Froggfotos)

Wer immer noch nicht an den Klimawandel glaubt, sollte das Mer de Glace in Chamonix, Frankreich, besuchen – einen Gletscher, zu dem man mit einer Bergbahn auf 1900 Meter hochfahren kann. Er ist touristisch sehr gut erschlossen. Deshalb gibt es Marken, die zeigen, wie sehr sich das Eis in den letzten 150 Jahren zurückgezogen hat. Die Reste des einst majestätischen Eismeers unterhalb der Bergbahn bieten ein trauriges Bild.

Aber diesen Sommer braucht man nicht in die Berge zu reisen, um sich davon zu überzeugen, dass der Klimawandel stattfindet. Mittelmeerwetter ist zu uns auf die Alpennordsweite gekommen und geblieben. Zwischen den Häuserzeilen brutzelt der Asphalt, die Wiesen draussen dörren still vor sich hin. Früher war der Regen im Sommer das Verlässlichste, was es gab. Fast immer musste man sich am Morgen überlegen, ob man nun wirklich die hübschen Sandalen anziehen sollte für den ganzen Tag anziehen sollte. Gewiss würde gegen Abend ein Gewitterregen die Riemchen aufweichen

Nicht dieses Jahr. Dieses Jahr rufen sie statt Regengüssen Trinkwasserknappheit aus. Und am 1. August, unserem Nationalfeiertag, herrschte absolutes Feuerverbot. Normalerweise erhellen am Abend dieses Tages Unmengen von Feuerwerk den Himmel, Böllerschüsse allüberall, Höhenfeuer brennen an den Hängen, Lampions auf den Balkonen. Nicht dieses Jahr. Dieses Jahr fiel langsam die Dämmerung, und dann blieb es still und dunkel. Noch nie habe ich einen unfestlicheren 1. August erlebt.

Aber ändern sich deshalb die Menschen? Setzt sich langsam die Einsicht durch, dass puncto umweltbewusstem Leben jeder bei sich selber anfangen muss? Kaum. Die einen sparen vielleicht ein wenig beim Rasensprengen oder Autowaschen. Einige, weil sie müssen. Das Trinkwasser wird da und dort allmählich knapp.

Aber die öffentliche Diskussion dominiert unsere Rechtspartei SVP. Und die sagt sinngemäss: „Wenn wir neue Gesetze machen, bringt das gar nichts. Die Schweiz ist ein kleines Land. Sollen die Amerikaner und Chinesen anfangen. Die sind schuld.“ Also kann man munter weiter mit seinem SUV herumbrausen. Mit einem Billigflug nach Hongkong düsen. Sich das Mineralwasser über aus 1000 Meilen Entfernung herankarren lassen und jeden Abend ein Vollbad nehmen. Wenn wir etwas tun, bringt es ja nichts.

Vielleicht ist es die Hitze, die mich abends manchmal ganz angstvoll macht. Dann liege ich da und denke: „Die Menschheit ist wohl nicht zu retten.“ Und ich versuche mir vorzustellen, wie unser Untergang wohl vor sich gehen wird.

Stille Stadt Genf

Luftbild von Genf, in der Mitte die Rhone mit Rousseau-Insel (Quelle: img.myswitzerland.com)

Unsere Reise begann in Genf, der grossen Schweizer Stadt nahe der französischen Grenze. Ich habe sie als besonders still in Erinnerung. Vielleicht liegt es daran, dass wir an einem Sonntag ankamen und nicht viel Betrieb herrschte. Oder daran, dass wir zuerst die Altstadt aufsuchten, einen verkehrsfreien Hügel mit mächtigen, alten Steinhäusern. An meinem schwachen Gehör konnte es nicht liegen. Meine Hörgeräte sind so stark aufgedreht, dass ich Städte im Allgemeinen als besonders lärmig empfinde.

Staunend ging ich durch die Gassen. Ich bin wenig gereist in den letzten Jahren. Ein Ausflug in eine unbekannte Schweizer Stadt ist für mich wie eine Reise ans ferne Ende Europas. Es ist schon mehr als einen Monat her. Wenn Ihr mich fragt, woran ich mich noch erinnere, dann sage ich: an die vielen Menschen, die im grossen Park Plainpalais Schlange standen fürs public viewing des Weltmeisterschaftsspiels Deutschland-Mexiko. An den Schuhladen von Manolo Blahnik auf dem Weg dorthin. Er befindet sich in einem repräsentativen, gewiss mehr als hundert Jahre alten Steinhaus mit zwei kleinen Schaufenstern. Die scharlachroten und kobaltblauen Schuhe darin schienen von Prinzessinnen hinterlassen, die von bösen Monstren entführt worden waren.

Calvins Stuhl (Quelle: Wikimedia)

Ich erinnere mich auch an etwas, was wir nicht gesehen haben: An Calvins Stuhl im Genfer Münster – der Sitz jenes gestrengen Reformators, der Genf im 16. Jahrhundert unter seiner Knute hatte. Wir haben das Sitzmöbel verpasst, weil wir das Münster in der Altstadt einfach links liegen liessen – Herr T. sieht sich nicht gerne Kirchen an, und ich wusste nichts von Calvins Stuhl und habe deswegen keine Besichtigung gefordert. In meiner Vorstellung ist der Stuhl ein grosser, finsterer Holzthron, aber die Google-Suche ergibt einen geradezu zierliches Möbel.

Wenn der Cowboy vom Pferd stürzt


Cowboy Brady in „The Rider“ liebt Pferde. Aber reiten kann er nicht mehr. (Quelle: theatlantic.com)

„The Rider“ ist ein sterbenslangweiliger Film. Endlose Einstellungen mit Cowboys und Pferden. Endlose Einstellungen mit dem Gesicht des Hauptdarstellers. Merkwürdige Dialoge schlecht eingeführter Figuren (Hier geht’s zum Trailer). Im dunklen, fast leeren Kinosaal streckte mir meine Freundin Kaja verstohlen eine Notiz unter die Nase: „Dieser Film wird von der Kritik stark überschätzt.“ Ich nickte heftig. „The Rider“ hat mehrere renommierte Filmpreise gewonnen. Doch wir sind beide froh, als er vorbei ist.

Kaum bin ich zu Hause, google ich ihn dennoch. Etwas an diesem Film hat mich gepackt: Hier geht es um einen Menschen, der nicht mehr tun kann, was er am liebsten tut. Um den jungen Rodeoreiter Brady, der sich bei einem Sturz vom Pferd schwer am Kopf verletzt hat und jetzt seinen Beruf nicht mehr ausüben kann – der überhaupt nicht mehr über längere Zeit reiten kann. Was dieser junge Mann durchmacht, kenne ich genau. Als mein Gehör zu streiken begann, musste ich die Hoffnung aufgeben, je wieder meinen geliebten Beruf als schreibende Journalistin auszuüben. Ich musste mich in den hinteren Rängen der Redaktion neu zurechtfinden. Ich habe es gekonnt. Aber die Ratlosigkeit im Gesicht des jungen Reiters Brady kenne ich nur zu gut. Ich kenne seine zum Scheitern verurteilten Versuche, wieder zu reiten. Ich kenne seine Annäherungsversuche an die Grenzen des Möglichen. Und seine Enttäuschung, wenn er sie lächerlich schnell überschreitet und einen Rückschlag erlebt.

Im Grunde habe ich erwartet, dass der Film verläuft wie die üblichen Geschichten über behinderte Helden: Sie leiden ein bisschen, akzeptieren dann ihre Grenzen, entdecken neue Perspektiven und wachsen schliesslich in ein neues Leben hinein. Wäre es eine solche Geschichte gewesen, dann wäre ich voller Hoffnung nach Hause gegangen. Ich hätte gedacht: „Es gibt also doch Menschen, die es schaffen.“

Aber „The Rider“ ist nicht so. Cowboy Brady findet keine Perspektiven, nur einen ungeliebten Job im Supermarkt. In der Schlussszene besucht er seinen Freund Lane im Behindertenheim. Lane geht es noch viel schlechter. Er hat beim Sturz am Rodeo eine Hirnverletzung erlitten und kann weder gehen noch sprechen. Die Frage hängt in der Luft: Was für einen Sinn hat das Leben dieser beiden schwer Gestürzten überhaupt. Wir wissen es nicht.

Und doch bleiben zwei Dinge von dieser Schlussszene: Die Zärtlichkeit, mit der sich Brady um seinen Freund kümmert. Und die Schönheit des gescheiterten, jungen Cowboys.

Über das Bloggen

Die meisten von Euch kennen wohl den Marshmallow-Test. Er geht so: Eine Psychologin setzt ein Kind in einem leeren Zimmer vor ein Stück Marshmallow – eine Süssigkeit, die im deutschen Sprachraum offenbar auch unter dem faszinierenden Namen Mäusespeck bekannt ist. Dann sagt die Forscherin zum Kind: „Wenn Du es schaffst, diesen einen Marshmallow nicht zu essen, bis ich wiederkomme, bringe ich Dir nachher einen zweiten – und dann kannst Du beide essen.“ Kinder, die warten konnten, wurden also belohnt. Man liest immer wieder, dass Kinder, die warten konnten, auch später dem Leben ganz allgemein besser gewachsen gewesen seien: Sie hätten bessere Schulnoten, seien emotional ausgeglicherer, würden weniger Drogen nehmen und hätten einen tieferen BMI (hier ein Bericht dazu). Natürlich wirft der Test mehr Fragen auf als er beantwortet. Zum Beispiel: Ist die bessere Impulskontrolle bei geduldigen Kindern angeboren oder anerzogen? Oder ein bisschen von beidem?

Einerlei: Wenn ich schreibe, denke ich jetzt ständig an den Marshmallow-Test. Noch vor zwei Jahren arbeitete ich an einem Roman, vor einem halben Jahr an Kurzgeschichten. Jetzt habe ich wieder zu bloggen angefangen, simpel und ergreifend. Ich tue es in der beunruhigenden Ahnung, dass ich mir dabei vielleicht Grösseres versage: dass ich in einem Roman vielleicht tiefer schürfen, relevantere Dinge sagen, dass ich für eine Kurzgeschichtensammlung vielleicht mehr Anerkennung bekommen könnte. Aber ich kann nicht warten. Ich brauche meine Leser jetzt. Ich brauche die Kommentare jetzt. Ich brauche die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt. Kurz: Ich brauche meinen Mäusespeck jetzt. Ich versage beim grossen Marshmallow-Test der Schriftstellerei.

Ich fühle mich etwas liederlich. Ich frage mich: Bin ich selber schuld, dass ich die Geduld für einen Romannicht habe? Oder ist das angeboren?

Als ich dem Marshmallow-Test ein wenig nachforschte, erfuhr ich dann, was ich schon geahnt hatte: Man sollte ihn nicht allzu ernst nehme.Hier ist erklärt, warum.

Würfelzucker

Am Dienstag wollte ich in unserem Quartier-Coop eine Packung Würfelzucker kaufen. Ich stand vor dem Gestell mit dem Zucker und liess meine Augen über das Angebot schweifen. Es ist unglaublich, wie viele zuckerartige Produkte es auch in einem kleinen Coop gibt: Kristallzucker und Feinkristallzucker, Rohrzucker und Rohrzucker in Würfeln, Assugrin, Xylit sowie Stevia-Pulver und Stevia in kleinen Tabletten. Dazu Agavensirup, Ahornsirup, Melasse und Birnel. Und Feinkristallzucker in kleinen Portionenbeuteln aus Papier. Aber den wollte ich nicht, wegen der Papierverschwendung. Hundsgewöhnlichen Würfelzucker jedoch gab es keinen. Ich fragte die junge Frau, die in der Nähe ein Gestell auffüllte. „Ja, tut mir leid“, sagte sie, „Wir bekommen im Moment tatsächlich keinen geliefert. Ich weiss nicht, woran das liegt.“

Ich war befremdet. Ich meine: Zum kultivierten Alltag gehört eine Tasse Kaffee am Morgen mit einem Stück Würfelzucker. Und dazu die Zeitung.

Nun sind wir Ü50 uns gewöhnt, dass uns das Leben lieb Gewonnenes wegnimmt – ganze Warenhausketten schliessen, die CD braucht es nicht mehr, die DVD auch nicht, die Gesundheit lässt nach, Bloghosts machen dicht, neue Datenschutzregeln erschweren den Kontakt zu alten Bloggerkollegen plötzlich enorm. Auch das Ende der geliebten Zeitungslektüre am Morgen rückt von Jahr zu Jahr näher. Aber Würfelzucker? Ich hätte es als selbstverständlich erachtet, dass der Print-Journalismus vor dem Würfelzucker verschwindet.

Nachdenklich trug ich meine anderen Einkäufe nach Hause. Ist Würfelzucker unmodisch geworden, fragte ich mich. Aber ich lese doch viel. Ich hätte es doch mitbekommen, wenn der urbane Lifestyle plötzlich verlangen würde, dass man am Morgen Agavensirup in den Espresso giesst.

Ich grübelte vom Dienstagabend bis zum Donnerstagmorgen. Im Büro googelte ich sogar kurz „Würfelzucker“. Am Donnerstagabend beschloss ich, mal in der kleinen Quartier-Migros neben unserem Quartier-Coop nach Würfelzucker zu suchen.

Dort gab es ihn in Hülle und Fülle.

Was wir nicht erklären können

Als 2009 mein zweites Ohr schlagartig einen schweren Gehörnachlass durchmachte, ging ich zuerst ins Spital. Als man mir dort nicht helfen konnte, flüchtete ich für ein paar Tage zu meinen Eltern. Ich hielt es bei meinem Mann nicht mehr aus. Er hatte nicht begriffen, woher der Wind weht. Er weigerte sich, mich ins Krankenhaus zu begleiten, als sie mir Cortisonspritzen ins rechte Ohr zu jagen begannen. „Wieso sollte ich?“ sagte er. „Du kannst ja noch gehen, da schaffst Du das auch allein.“ Er ahnte nicht, wie verstört ich war. Auf dem Weg ins Spital wäre ich beinahe unter ein Auto gekommen. Danach war ich sauer auf ihn. Deshalb ging ich zu meinen Eltern, die damals rüstige Endsechziger waren. Sie nahmen mich freundlich auf, tranken Tee mit mir, und wir plauderten tagelang über Gott und die Welt. Allmählich ging es mir besser, und doch blieben auch sie mir in jener Zeit merkwürdig fremd. Ich ihnen auch. „Du verstehst ja alles, wenn wir mit dir reden“, sagten sie. Sie wollten mir nicht recht glauben, dass ich wirklich schwerhörig geworden war.

Ich versuchte es ihnen zu erklären. Ich hatte ja links schon ein Hörgerät, und wir sprachen meist in deiner stillen Stube. Natürlich verstand ich sie. Ich musste mich bloss mehr anstrengen als früher. Sie sagten nichts, aber ich ahnte: Sie hatten das Gefühl, ich sei verrückt geworden oder vielleicht eine Simulantin. Sie taten trotzdem, was gute Eltern tun: Sie behandelten mich anständig und unterstellten mir nichts. Aber sie waren mit dem Herzen nicht ganz dabei, ich merkte es.

Ich glaube, das Wesen einer Behinderung ist mit Worten meist nur schwer kommunizierbar. Ganz gleich, ob wir blind oder schwerhörig oder im Rollstuhl sind – in unserem Körper und unserer Seele werden sich immer Dinge abspielen, die ein Nicht-Behinderter nicht wirklich nachvollziehen kann. Deshalb sind uns jene Nicht-Behinderten am liebsten, die einfach zuhören und uns ernst nehmen. Die sich nicht von Vorurteilen leiten lassen oder genau zu wissen meinen, was wir brauchen.

Wenn sie sich nicht von Vorurteilen leiten lassen, lernen sie im besten Fall selber etwas dazu – so war es mit meinem Mann, der mir in den letzten Jahren eine echte Stütze geworden ist.

Seither habe ich mein Gehör ein paarmal verloren und wiederbekommen und wieder verloren. Vor ein paar Jahren hörte meine Mutter dann plötzlich schlechter – es stellte sich heraus, dass auch sie eine Meniere-Patientin war, auch wenn es sie später und weit weniger heftig erwischte als mich.

Wenig später sagte sie zu mir: „Seit ich auf dem einen Ohr so schlecht höre und dieses Tinnitus habe, weiss ich was du damals durchgemacht hast. Das ist ja schrecklich.“ Das hat mich so berührt, dass ich beinahe zu weinen begonnen hätte.

Die bittere Wahrheit

Meine letzten Beiträge haben es ja bereits erahnen lassen: Mein Gehör hat sich nochmals verschlechtert. Vor drei Wochen ging ich zur Hörgeräte-Akustikerin. Sie machte ein Audiogramm – und tatsächlich: Der Hörverlust betrug 60 Prozent auf dem linken Ohr. Sieben Jahre lang ist das linke Ohr mein besseres Ohr gewesen, der Hörverlust hatte lediglich 40 Prozent betragen, das reichte zum Telefonieren. Aber Telefonieren ist schwierig geworden. Auch mit neu angepasstem Hörgeräten und den tollen Headsets im Büro. Rechts höre ich zwar Lärm recht gut, aber so etwas wie Sprachverständnis habe ich nur noch an guten Tagen.

Die bittere Wahrheit auf einem Audiogramm zu sehen, stresste mich dermassen, dass ich links einen weiteren Hörsturz hatte. Als ich eine Woche später zum Ohrenarzt ging, mass er schon 70 Prozent Hörverlust auf dem linken Ohr. Er verschrieb Cortison, Betahistin und Stugeron. Es hat genützt, aber nur ein bisschen.

Deshalb habe ich hier so lange nichts mehr geschrieben. Ich war geschockt. Das ist alles. Aber ich werde das in den Griff bekommen. Versprochen.

Wie Schwerhörige einkaufen

Vor einer Woche konnte ich im Buchladen noch halbfertige Gespräche führen. Seither hat sich mein Gehör nochmals verschlechtert. Das ist an sich normal bei einer Menière-Erkrankung. Manchmal kann es schnell bergab gehen. Unangenehm ist es dennoch: Gestern habe ich im Blumenladen die zugegebenermassen etwas schüchterne, junge Frau an der Kasse gar nicht mehr gehört. Ich sah nur, wie sie inmitten von penetrantem Umgebungslärm die Lippen bewegte. Das hat mich so erschreckt, dass ich ganz durch den Wind war. Der Samstagseinkauf wurde zu einem einzigen Spiessrutenlauf. Dabei weiss ich eigentlich längst, wie man als Schwerhörige an der Ladenkasse besser zurechtkommt. Zeit, dass ich mir die Regeln wieder in Erinnerung rufe. Man verkraftet sogar den Irrsinn besser, wann man sich mittendrin am Betonpfeiler eines Regelwerks festhalten kann. Hier sind sie:

– Wenn möglich die Self-Checkout-Kasse benützen
– Wenn das nicht möglich ist: Ruhe bewahren. Die meisten Verkaufsgespräche über den Ladentisch sind stark normiert. Im Warenhaus oder Einkaufszentrum zum Beispiel wird die Verkäuferin zuerst fragen: „Möchten Sie eine Tüte?“ Dann: „Haben Sie unsere Super-Profit-Bonus-Kundenkarte?“ Dann wird sie den Preis eintippen und nennen. Dann wird sie etwas sagen wie: „Danke und einen schönen Tag noch.“ Auch als Anfängerin im Lippenlesen kann man nachprüfen, ob sie vielleicht doch etwas anderes sagt. Offensiv nachfragen bringt wenig, wenn ich schon beim ersten Mal gar nichts gehört habe. Am einfachsten sind übrigens die Verkaufsgespräche im Nespresso-Laden. Sie sind so streng durchnormiert wie die Verpackungen des Kaffees, den sie verkaufen. Für Schlappohren geradezu ideal.
– Wichtig: Preise schon auf dem Etikett beim Gestell ablesen. Oder dann auf der Anzeige der Kasse. Nichts ist peinlicher, als venn man sich auf die Stimme des Verkäufers verlässt. Es passieren dann Szenen wie diese: Verkäufer: „2.90 bitte.“ Ich: Reiche Fr. 2.90. Verkäufer: dreht die Münzen in der Hand, bewegt dabei die Lippen. Runzelt die Stirn. Zeigt dann auf das Etikett am Produkt. Dort steht Fr. 5.90.
– Klar, der Spielraum für Witzeleien, für das allgemein Menschliche fällt weg. Aber das ist Schicksal. Ausserdem bietet die Situation genug Anlass für Komik. Also. Den Humor bewahren.