Belauschte Frauengespräche

„Schwermut“ ist ein bildungsbürgerlicher Begriff. Er lässt an Werther denken, an Hamlet, vielleicht an Ophelia.

Doch wenn ich das Wort lese, denke ich als erstes an die Frauen, die ich ich als kleines Mädchen in der ländlichen Innerschweiz belauscht habe. An die Kundinnen am Ladentisch meiner Grossmutter; an die Tanten, Cousinen und Schwägerinnen meines Vaters; wie sie in grosser Zahl an Hochzeiten und Beerdigungen strömten. Es waren die siebziger Jahre. Man war katholisch. Die Frauen trugen feste Schuhe und hatten raue Haut an den Händen. Keine sah je wirklich jung aus. Aber was konnten sie Klatsch herumbieten! Und manchmal gab es auch ernste Geschichten.

„D‘ Frou Amrein vo de Steibachmetzg? Deren isch doch de Bueb gschtorbe. Do isch si schwärmüetig worde. Und deren ere Maa isch eso bös gse! Am Schloss isch si is Wasser ggange.“* Ich muss mehrere solche Geschichten gehört haben. „Schwermut“ und „ins Wasser gehen“ waren für mich immer untrennbar verknüpft – vielleicht gibt es auch hierzulande eine untergegangene Erinnerung an Ophelia.

Die Flucht von zu Hause, der Gang in die grünlichen Fluten schienen in diesen Geschichten wie ein wilder Befreiungsschlag. Oder so kam es mir als Kind vor. Man redete über solche Frauen – es waren immer Frauen – mit wehmütigem Respekt. Man nahm einfach an, dass manche Menschen nicht hart genug sind für die Schicksalsschläge, die sie bekommen.

Natürlich trafen solche Verhängnisse immer die anderen. Doch nicht unsere Familie! Klar, auch in unserer Familie kam es vor, dass eine mit ihrem Schmerz nicht mehr zurechtkam. Aber das war tabu. „Si hed einisch met öpperem müesse go rede“**, erzählte mir meine Mutter kürzlich verschämt über eine vor Jahren verstorbene Verwandte. Das hiess: Sie ging ein paarmal Psychiater.

Das Wort „Depressionen“ kannte man. Aber Depressionen waren etwas für Stadtfrauen, etwas Kompliziertes. Man brauchte es – wenn überhaupt – nur in der Mehrzahl. So verpackte man das Übel in kleine Portionen. Das legte aber nahe, dass es nicht zwingend war. Dass man etwas hätte tun können oder müssen. Dass die Frau mit den Depressionen eine Last für ihre Umgebung war.

Lieber breitete man die Gnade der Schwermut über Frau Amrein von der Steinbachmetzgerei als die Schmach der Depressionen.

Man kann solche Geschichten später kritisch sehen. Oder vergessen. Prägend sind sie trotzdem. Frau Amrein hätte ich ihre Schwermut jederzeit zugestanden. Anderen nicht. Werther zum Beispiel habe ich immer für einen verwöhnten Schnösel gehalten.

Das hier ist mein Beitrag zum Projekt *txt auf neonwilderness. Das Stichwort lautet „Schwermut“.

* Frau Amrein von der Steinbachmetzgerei? Ihr kleiner Sohn starb doch. Da wurde sie schwermütig. Ihr Mann war ja auch so böse. Schliesslich hat sie sich das Leben genommen, indem sie sich ertränkte.“
** Sie musste mit jemandem sprechen.

50 Jahre – die Bilanz

Wenn man 50 ist, zieht man Bilanz. Denn wir werden zwar heute mit der Illusion gefüttert, man könne sein Leben lang alles lernen und alles werden. Doch wir 50-Jährigen wissen: Wir haben auf unserer Lebenswanderung an mehreren Orten den point of no return überschritten – umkehren wird sehr, sehr mühsam. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch Kinder haben werde, tendiert gegen null. Atomphysikerin werde ich wohl auch nicht mehr.

Dennoch erfüllte mich an meinem 50. Geburtstag so etwas wie Zufriedenheit. „Tatsächlich, ich habe überlebt!“ dachte ich. Ich war sogar ein bisschen stolz – was natürlich ein Witz ist. Ich meine: Von allen meinen Bekannten meiner Generation sind lediglich vier vor ihrem 50. Geburtstag über den Jordan gegangen. Und dass wir anderen noch hier sind, verdanken wir nicht in erster Linie einer Leistung, auf die wir stolz sein könnten. Sondern schlicht dem unsinnigen Glück, dass wir im richtigen Jahrhundert geboren worden sind.

Ich bin sogar ein bisschen stolz darauf, dass ich ich geworden bin. Obwohl ich gleichzeitig das niederschmetternde Gefühl habe, mein ganzes Leben sei eine Chronik des unablässigen Scheiterns. Nun gut – das war schon früh programmiert. Ich war ein brilliantes Kind. Mit fünf lernte ich lesen, mit sieben schrieb ich Geschichten. Das Wissen kam zu mir mit einem Fingerschnippen. Das weckt hohe Erwartungen. Gleichzeitig sollte ich einfach ein braves Mädchen sein.

Das ist ein schwieriger Spagat, das kann ich Euch sagen. Im Grunde war es immer egal, was ich tat – ich war entweder zu brav oder zu brilliant. Und so scheiterte ich täglich, kaum war meine Grundschulzeit beendet. Ich wurde eine mittelmässige Gymnasiastin, weil ich ein braves Mädchen war. Zu brav. Als ich es merkte, begann ich zu rebellieren – aber das war auch falsch. Im Berufsleben habe ich mich nur mit knapper Not gehalten – ich war mal ehrgeizig, mal brav, mal rebellisch, alles oft im falschen Moment. Meine Liebesbeziehungen waren stets gefährdet, zwei davon viele Jahre lang.

Nicht, dass mich das Scheitern an sich mit Stolz erfüllt. Im Gegenteil: Ich bringe zum Scheitern problemlos die passenden Gefühle auf: Zaudern, Schuldgefühle und tägliche rituelle Selbstohrfeigungen. Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der im Leben noch mehr gezaudert hat als ich: meinen lieben Freund Chäppeli. Der hat sogar die meisten Feste jeweils wieder verlassen, bevor er richtig angekommen war – und es nachher furchtbar bereut.

Gut, feiern habe ich immer einigermassen gekonnt. Aber ich werde nie aufhören, Chäppeli ein bisschen dafür zu beneiden, dass er es spät noch zu einem sicheren Job und einer vierköpfigen Familie gebracht hat (wobei er den Verlust seiner Freiheit jedesmal bitter beklagt, wenn ich ihn sehe).

Was das Scheitern bei der Arbeit betrifft, so hat meine Krankheit eine Rolle gespielt. Aber welche genau? Und wann? Und wie sehr? Wissen tue ich das relativ genau. Aber fühlen tue ich etwas anderes: Ich habe mit ihr gelebt, und ich weiss nicht, wie es ohne sie wäre. Irgendwie empfinde ich auch das einfach als Scheitern.

Und die die Mutterschaft? Ich vermisse sie nicht sehr. Ich habe sie ja auch buchstäblich nicht im Blut. Ich bin rhesus-negativ. Selbst im kinderreichen 19. Jahrhundert hätte ich wahrscheinlich nur eines, mit grossem Glück zwei überlebende Kinder gehabt (Mathematiker unter Euch bitte nötigenfalls widersprechen). Die anderen wären alle bei der Geburt an einer qualvollen Immunreaktion auf das Blut ihrer Mutter verstorben. Das wäre eine Chronik des Scheiterns geworden! Und niemand hätte gewusst, warum. Vielleicht hat die Natur mich gnädigerweise mit einer psychischen Verfassung ausgestattet, die mir die Kinderlosigkeit erleichtert.

Ja, es ist so: Ich habe einfach Glück gehabt, dass ich im 20. Jahrhundert geboren wurde. Und doch: Ich erlaube mir ein Quäntchen Stolz. Ich schaue zurück und sehe: Ich habe mir einen Weg durchs Gelände gehauen, wo eigentlich gar keiner hätte sein sollen.

Abenteuer-Ferien zu dritt

Der Kulturflaneur – hier im Maggiatal – war einer meiner beiden Reisebgleiter im Tessin. Der andere war unsichtbar – aber schwer zu ignorieren.

Der Herr Kulturflaneur zelebriert ja unsere Ferien im Tessin – hier. Und er hat recht: Jemand sollte sie zelebrieren. Das verdienen sie. Doch um ehrlich zu sein: Wir hatten einen Begleiter dabei, den der Herr Kulturflaneur nicht sehen konnte – der mir aber ziemlich zu schaffen machte. Ich habe über das Thema fremdgebloggt: Hier.

Meine Strasse


Das Restaurant Libelle an der Maihofstrasse 61 in Luzern

Der pedestrian* und ich standen neulich zusammen vor diesem Restaurant. Es ist erst seit ein paar Monaten hier, ein soziales Projekt und schon gut besucht, ja, geradezu trendig. Er erinnerte mich daran, dass im selben Lokal noch vor einem Jahr ein Matratzenladen war. „Wenn in einem Haus am Stadtrand Matratzen verkauft werden, dann ist der Tiefpunkt erreicht“, sagte er. Er meinte den Tiefpunkt des städtischen Lebens. Matratzenläden sind meistens an Ausfallstrassen – und an Ausfallstrassen will kein Mensch verweilen.

Wir bewunderten beide das neue Lokal gebührend – es zeigt doch, dass die Maihofstrasse zu neuem Leben erwacht.

Dann griffen wir zu unseren Kameras und machten uns an die Arbeit. Wir waren hier für unser gemeinsames Spaziergänger-Projekt. Aufgabe: In einer Dreiviertelstunde die Maihofstrasse fotografieren, zwischen der „Libelle“ und der Tankstelle an der Stadtgrenze, ungefähr 300 Meter. Danach machen wir auf dem Internet etwas draus – jeder auf seine Art. Was der pedestrian gemacht hat, ist hier zu sehen.

Vom Maihofquartier könnte ich stundenlang erzählen. Ich wohne in der Gegend. Ich habe den Niedergang der Strasse durch tägliche Anschauung erlebt. Noch bis Anfangs der nuller Jahre hatte der Maihof eine Beiz, eine Post, ein Quartierlädeli und sogar eine Drogerie. Dann schloss die Post. Dann die Drogerie, dann das Lädeli. Nur die Beiz, das Maihöfli, blieb.


Seiteneingang des Restaurants Maihöfli, Maihofstrasse 70

Es war bereits in den neunziger Jahren ein Gourmet-Tempel geworden. Seither kann man hier in gemütlichem Ambiente für ein exorbitant gutes Essen exorbitant viel Geld ausgeben. Herr T. und ich essen dort, wenn wir etwas zu feiern haben. Es liegt direkt gegenüber der „Libelle“ – wir haben jetzt fast schon eine Ausgehmeile im Quartier.

Weiter stadtauswärts dominieren ältere Wohnhäuser. Aber dicht an der Stadtgrenze steht die Nummer 95, ein erst drei, vier Jahre altes Gebäude. Es steht mit für den Aufbruch an der Maihofstrasse. Als es neu war, schien es mir aussergewöhnlich ambitioniert für diese Gegend.


Maihofstrasse 95

Es beherbergt ein Fitness-Zentrum, eine englischsprachige Schule, einen Hörgeräte- und einen Küchenladen.


Selbstporträt mit Kochtöpfen an der Maihofstrasse 95c

Nach Besichtigung der Nummer 95 wurde ich regelbrüchig. Ich zog von der Strasse weg, hinauf zur Maihofmatte. Hier kann man die Kehrseite der Neubelebung besichtigen. Seit 1948 steht hier eine Wohnsiedlung der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL) – nie saniert, die Wohnungen spottbillig.


Maihofmatte

Aber jetzt ist hier der Dornröschenschlaf zu Ende: Ab 2016 wird gebaut, meldete die Neue Luzerner Zeitung kürzlich. Danach dürften die Mietzinse in für viele der jetzigen Bewohner exorbitante Höhen steigen.

* Dank an den pedestrian für die Inspiration und die Arbeit an den Bildern!