Schweizerdeutsch 50: Gegen den Widerstand der Materie kämpfen

chnorze (V)

Seit Montag haben wir im Geschäft neue Laptops und lauter neue Programme. Für uns alle fallen sämtliche Gewissheiten weg, die man bei der täglichen Arbeit so hat. Liefern müssen wir trotzdem. Ich zum Beispiel kam am Morgen ins Büro und startete den neuen Laptop. Kein Internet. Ich chnorzte mit den Tasten, rief um Hilfe, jemand kam und chnorzte mit Tasten und Kabeln. Dann hatte ich Internet und schickte dem Chef eine Nachricht, ich sei nun bereit. Er wollte mir telefonisch das Nötigste zeigen. Telefonisch! Mein Bluetooth-Hilfsmittel zum Telefonieren war aber noch nicht gekoppelt! Ich chnorzte mit Knöpfen und der Maus, dann chnorzte jemand mit mir. Dann konnte ich endlich den Chef anrufen. Aber wie mache ich jetzt meinen Bildschirm für ihn sichtbar? Irgendwann ging auch das und so chnorzten mein Chef und ich an meinen ersten Arbeitsschritten. Ich chnorzte dann den ganzen Tag, am Dienstag auch und auch gestern.

Gestern Nachmittag klagte mir eine junge Kollegin in einer Message, dass sie den Zugang zu einem bestimmten Programm immer noch nicht habe. Ich antwortete: «Sei geduldig. Wir chnorzen alle.»

So hat das Verb «chnorze» seine Bedeutung geändert. Früher chnorzten wir bei der Handarbeit, etwa wenn der Faden nicht durchs Nadelöhr und die Nadel nicht durch den dicken Saum ging. Oder wir chnorzten im Garten, wenn im Herbst die Wurzel der grossen Tomatenstaude partout nicht aus dem Boden gerissen werden will. «S’Gchnorz» war sichtbar und machte mitunter auch die Hände schwielig. Jetzt chnorzen wir virtuell, dabei haben wir uns vielleicht erhofft, dass wir nie wieder «müend chnorze».

Aber ohne Kampf gegen den Widerstand der Materie geht es wohl nicht, und deshalb haben wir hierzulande für das Verb «chnorze»  zahlreiche Synonyme, zum Beispiel: «morxe», «chnuuschte» und «figuretle».

 

 

Schweizerdeutsch 39: Die Unplanbarkeit der Dinge

Bis dee schlüüft no mängi Muus ines anders Loch!

Standarddeutsch: Bis es soweit ist, schlüpft noch manch eine Maus in ein anderes Loch.

Sinngemäss: Über gewisse Dinge sollte man sich nicht zu früh Sorgen machen.

Am Dienstagnachmittag vor Ostern kommt unser Seitendisponent bei mir vorbei. „Wie viel Platz brauchst Du in den Ausgaben vom Gründonnerstag, vom Karsamstag und vom vom nächsten Dienstag?“ fragt er. Er ist etwas nervös. Vor Feiertagen sind wir bei der Tageszeitung immer etwas nervös. Alle müssen dann ihren Stoff in weniger Ausgaben als sonst unterbringen. Und jetzt will er tatsächlich alle Seitenumfänge bis zum kommenden Dienstag planen!

Dabei weiss ich noch überhaupt nicht, wie viel Platz ich in der Ausgabe vom nächsten Dienstag brauche! Die Mails mit meinem Stoff kommen unangekündigt, täglich, stündlich. Ich lächle ihn an, denn ich weiss, dass er morgen und am Donnerstag auch noch arbeitet: „Äh, ke Schtress, bis dee schlüüft no mängi Muus ines anders Loch!“ Seit ich mich hier mit Schweizer Redensarten auseinandersetze, kommen solche Sätze aus meinem Mund, bevor ich sie gedacht habe. Meine Mutter redete so zu uns Kindern, wenn wir uns viel zu früh über etwas ängstigten. Ich hütete mich stets, darüber nachzudenken, warum es früher bei der Planung eine Rolle spielte, in welchen Löchern die Mäuse sassen.

Aber der Seitendisponent kann weder mit meinem Lächeln noch mit Mauslöchern etwas anfangen. Er sagt: „Ach, ich trage Dir einfach mal die Normmenge ein!“

Am Karfreitag sehe ich dann endlich, wie die Mäuse sitzen  – und dass jetzt nicht genügend Löcher für sie da sind. Aber da hat der Seitendisponent frei.