Unter den Pflastersteinen der Sand

Luzern vor 20 Millionen Jahren (Quelle: Gletschergarten)

Etwa vor einem Jahr lungerte ich morgens um vier Uhr in den Vorhöfen des Schlafes herum und wurde nicht eingelassen. Zum Zeitvertreib las ich einen Essay von Lauren Elkin, einer Amerikanerin, die lange in Paris gelebt hat und dort nach Herzenslust flanierte. „Sous le pavé la plage“ las ich da – „unter den Pflastersteinen das Meer“. Es ging um die Proteste von 1968, aber mein Hirn dachte im Halbschlaf: „Ja, wenn ich sterbe, werde ich zu Sand.“ Das war ein paar Monate, bevor ich eine Krebsdiagnose bekam.

Der Krebs gilt mittlerweile als besiegt. Aber er hat die Art, wie ich über das Jenseits denke, stark verändert. Geradezu verärgert bin ich von der Vorstellung, vor das so genannte Jüngste Gericht treten und mich für meine Lebensführung  verantworten zu müssen. Ich meine, was soll denn das überhaupt für ein Gericht sein?! Muss ich es mir wie das Kriminalgericht des Kantons Luzern vorstellen? Bekomme ich da auch eine Anwältin? Und die Paragraphen, nach denen der Richter urteilt? Sie stehen wahrscheinlich in der Bibel – aber die Auslegung und das Strafmass? Himmel? Hölle? Fegefeuer? Ich will ja nicht hochmütig sein (strafbar!), aber das kommt mir alles etwas vage vor.

Wer eine Chemotherapie macht, hat viel Zeit zum Grübeln – da geht man oft selbst streng mit sich ins Gericht. Lieber möchte ich eines Tages den ganzen Mist einfach hinter mir lassen und wie im Tiefschlaf in den Sand sinken. Dabei stellte ich mir immer vor, ich würde ein Sandkorn am Strand auf dem Bild oben – ein Bild, das ich schon als Kind im Luzerner Gletschergarten gesehen habe. Vielleicht, weil es für mich Heimat und exotisches Paradies zugleich ist.

Ich habe das alles in den letzten Wochen wieder vergessen. Aber eben habe ich  hier einen Beitrag von Hopkins gelesen. Da war plötzlich alles wieder da.

Ab jetzt könnte es aufwärts gehen

Gestern musste ich zum Bluttest in die Onkologie. Die letzte Dosis Chemo hatte ich zehn Tage zuvor bekommen, der Bluttest sieht erwartbar mies aus, zwei Drittel der Blutwerte sind im Keller. Besonders tief ist der Wert bei den Leukozyten. Ich habe noch 0.6 Giga/l (normal wäre so ab 2.6). Die Ärztin sagte: „Ja, das macht Sie jetzt etwas anfällig auf Infektionen. Melden Sie sich bitte sofort, falls Sie Fieber haben. Da müssen wir Ihnen dann notfalls eine Transfusion machen.“ Aber sie sagte auch: „Der Tiefpunkt ist jetzt erreicht. So innert drei Wochen sollten sich die meisten Blutwerte normalisieren, und dann werden Sie sich besser fühlen.“

Gestern Abend hatte ich danach zum ersten Mal sowas wie ein Wendepunkt-Gefühl. Ich lag dabei ermattet, wie ich es im Moment bin, auf unserem Sofa, genehmigte mir ein Glas Rotwein und schaute mir den georgischen Tanzfilm And Then We Danced an. Der Hauptdarsteller Levan Gelbakhiani, ist zum Niederknien.

Herr T. war nicht da. Er hatte mit unserem Nachbarn, dem Buddha, ein kleines Konzert organisiert. Der Buddha konnte dann zwar nicht kommen, er hat Covid-19. Herr T. hätte das Festchen wohl absagen können. Warum er es nicht tat, wird sein Geheimnis bleiben. Als er zurückkam, sah er richtig glücklich aus, das sah ich auch aus der Distanz von zwei Metern und bei offenen Fenstern. „Frau Buddha kam dann auch“, berichtete er. „Ich weiss ja nicht, wie die beiden das machen, dass sie einander nicht anstecken.“

Bitte versteht mich nicht falsch. Ich will hier nicht über meinen Ehemann lästern, er ist mir vier Monate lang sehr hilfsbereit zur Seite gestanden. Er muss auch mal aus der sauren Routine hier ausbrechen können. Aber heute können wir ja wieder erst am Abend lüften, weil es immer noch so heiss ist – und ich bin jetzt erst mal mit einer FFP2-Maske in unserer Wohnung unterwegs.

Wutanfall am Infusionsständer

Bei der zweiten Dosis Aperol Spritz intravenös gab ich versehentlich dem Infusionsständer einen Schubs, dass es klirrte. Ich bat den netten Pfleger um Entschuldigung. „Ach, solange sie das Ding nicht wütend von sich schleudern und alle Schläuche herausreissen, ist das doch kein Problem!“ sagt er. Ich schaue ihn ungläubig an. Warum sollte ich denn hier eine solche Show abziehen?! Ich meine, sie wollen einen doch heilen auf der Onkologie, nicht quälen. Auch wenn es annähernd auf dasselbe herauskommt, das vergisst man doch nicht!

„Ja, das staunen Sie, aber das ist alles schon vorgekommen“, sagt der Pfleger. Aha. Wir murmeln etwas über Krebs als lebensveränderndes Ereignis, und dass damit nicht jeder einfach so klarkomme. Später gehe ich nach Hause und vergesse das alles. Bis ich am dritten Tag danach wieder mal am Tiefpunkt ankomme. Ich meine, das ganze Salben, Spülen und Medikamenteschlucken zur Linderung der Nebenwirkungen ist ja allein ein 50-Prozent-Job. Dazu erträgt man seinen eigenen Geruch nicht mehr, diese Mischung aus Pharma, Schweiss und Todesangst. Und dann hat man Zeit, alles im Internet zu recherchieren, was einen so plagt. Wenn man gewisse Symptome in die Suchmaske eingibt, diagnostiziert Dr. Google dann auch mal eine Leberzirrhose. 20 Tage lang kämpft man sich aus diesem Loch heraus, sieht wieder Sonnenschein und grüne Wiesen – um am 21. Tag wieder einen Nachmittag am Infusionsständer zu verbringen. Plötzlich verstand ich, dass man darob ins Infusionsständerherumschleudern verfallen kann.

Was mich an jenem Tag gerettet hat? Ich fand einen Krimiklassiker im Büchergestell, Eric Ambler’s „Maske des Dimitrios“. Während der Held immer tiefer in den Bannkreis gewissenloser Verbrecher gerät, bleibt die Sprache des Buches stets über der Sache – knapp, pragmatisch und oft durchtränkt von einer wunderbaren Ironie. Zudem gibt es darin hübschen Lokalkolorit aus Istanbul, Izmir, Sofia und Paris. Ein bisschen wie wie ein alter James Bond, nur ohne das Geknalle. Die Leberzirrhose vertrieb Herr T. innert weniger Tage mit seiner ausgezeichneten Küche. Ich goss die Blumen auf unserem Balkon. Ich traf meine Freundinnen. Und wenig später arbeitete ich wieder, layoutete Seiten und parierte die Empfindlichkeiten merkwürdiger Kunden. Ich muss gestehen, dass ich etwas weniger Geduld mit diesen Empfindlichkeiten habe als sonst. Aber Seiten layouten ist etwas Wunderbares. Das Gesetz des Lebens ist stark in mir.

Jedenfalls bis nächsten Mittwoch. Dann kommt wieder so ein Nachmittag am Infusionsständer.

Zwiegespräch mit Grossmutter

Auf diesem Friedhof ruht (oder ruhte) meine Grossmutter Walholz.

Kurz nachdem ich im März meine Krebsdiagnose bekommen hatte, machte ich einen Spaziergang in einem Dorf in den Bergen. Meine Grossmutter Walholz hatte dort den grössten Teil ihres Lebens verbracht und starb dort 2010. Ihre Asche liegt im Gemeinschaftsgrab am Dorfrand. Oder lag dort. Ihr Name ist jetzt nicht mehr auf dem Gemeinschaftsgrab, und was mit ihrer Asche passiert ist… keine Ahnung.

Ich machte mit Herrn T. den Spaziergang, den ich als Kind oft mit der Familie gemacht habe: Von ihrer Bäckerei über die Passstrasse zum alten Hotel, vorbei am Altersheim, durch die Wiesen zum Friedhof. Um uns lagen der Horizont in Stein gemeisselt und die Häuser unverändert seit den siebziger Jahren. „Grossmutter, sprich mit mir“, sagte ich. „Die Ärztinnen wollen mich retten, aber ich weiss nicht, ob das einen Sinn hat.“

Ihr werdet mich für verrückt halten. Aber was hätte ich tun sollen als mit meiner Grossmutter zu reden? Ich meine: Die meisten Lebenden kann man mit solchen Problemen nicht belasten. Die Büchergestelle sind zwar voll von Lebens-Ratgebern, aber wie man sterben soll, darüber schweigen sie alle betreten. Und, ehrlich gesagt: Ich habe mehr als einmal erstaunliche Erfahrungen gemacht, wenn ich mit Toten gesprochen habe.

Meine Grossmutter schwieg lange. Aber als ich zur Friedhofsmauer kam, sagte sie: „Gar keine Frage: Du musst leben.“

Natürlich hörte ich weder die Stimme meiner Grossmutter noch sah ich sie in ein Bettlaken gehüllt vor mir. Die Antwort lag vielleicht mehr im Wesen dieser Landschaft, dieser Steine, der unverrückbaren Welt dieses Dorfes.

„Aber Grossmutter, Du weisst, dass ich eigentlich nichts Besonderes mehr zu tun habe, oder? Herr T. käme notfalls alleine zurecht, und mein Bruder könnte meinen Eltern ebenso gut auf den letzten Weg helfen wie ich. Vielleicht besser“, sage ich.

„Das ist dummes Zeug. Du musst weitermachen, solange Du kannst. Es ist das Gesetz des Lebens“, sagte meine Grossmutter streng. Ich blickte in die Berge.

„Aber Du weisst, dass gerade eine Klimakatastrophe stattfindet? Und dass die Welt daher auf jede und jeden verzichten kann, die auch noch CO2 verpufft? Du weisst, dass in der Ukraine ein Krieg stattfindet, und dass uns Putin vielleicht bald eine Atombombe auf den Kopf fallen lässt?“ fragte ich.

„Das wissen wir noch nicht“, sagte meine Grossmutter. „Jetzt warte erst mal ab.“

Der beste Zeitpunkt für einen Kahlkopf

Jada Pinkett Smith, deren Kahlkopf einen Hollywood-Skandal auslöste. Quelle: wingsdailynews.com)

Am 25. Mai um 11.18 Uhr postete ich hier meinen letzten Beitrag. Dort stand: „Noch habe ich meine Haare“. Ziemlich genau fünf Stunden später, um 16.15 Uhr, sass ich wieder vor meinem Laptop, fuhr mir beiläufig über den Kopf und hielt danach ein zartes, aber eindeutig zu dichtes Gespinst von weissen und dunklen Fäden in der Hand. Seither nehmen die Dinge ihren Lauf. Ich erspare Euch die Details.

Ich war darauf vorbereitet. Merkwürdigerweise ist der Schmerz in meiner Seele sehr viel erträglicher als jener unter der Kopfhaut. Als würden meine Haarwurzeln vor Entrüstung über dieses ganze Drama brüllen, sobald eine Hand oder ein Kissen meinen Kopf berührt. Also spreche ich ihnen gut zu. „Hey, ihr Lieben, nehmt Urlaub und wartet, bis Eure Stunde wieder kommt“, sage ich, „Es gab in der Weltgeschichte für eine Frau nie eine bessere Zeit, kahlköpfig zu sein! Bald werde ich aussehen wie Jada Pinkett Smith, die die feminine Kahlköpfigkeit ja gewissermassen salonfähig gemacht hat – wenn auch vielleicht nicht ganz freiwillig. Naja, vielleicht werde ich nicht ganz so sexy sein wie sie. Dafür werde ich auch nicht Gegenstand eines ganzen, dämlichen Medienspektakels vor versammelter Weltöffentlichkeit werden (Hier die ganze Story, falls jemand sie verpasst haben sollte).“

Dann atmete ich tief durch und fällte einen kühnen Entscheid: Heute Abend werde ich die Tondeuse nehmen, die ich normalerweise über das Haupt meines Mannes führe. Und dann werde ich mir die Reste meiner Haarpracht abrasieren.

Aperol Spritz intravenös

Chemotherapie sieht irgendwie ganz entspannt aus: Man sitzt in einem Lehnstuhl und von oben werden einem verschiedene Flüssigkeiten aus Beuteln in die Venen geträufelt. Ich bekomme Epirubicin und Cyclophosphamid und, nein, ich habe beide Medikamente nicht gegoogelt. Ich google nur das Nötigste, das ist eine Art Selbstschutz vor zu viel Krankheit. Eine der Flüssigkeiten ist orange. „Die Farbe von Aperol Spritz“, sagte Herr T., der neben mir auf der Fensterbank sitzt und zuschaut. Aperol Spritz trinken wir jeweils freitags, ein fröhliches Ritual zum Wochenabschluss. Im Moment geht das nicht, im besten Fall genehmigen wir uns ein Cüpli.

Herr T. hilft, wo er kann, meist ohne zu motzen. Er kommt mit mir mit ins Spital, wenn es nötig ist – fast immer. Er hilft mir, die Ärztinnen und Ärzte zu verstehen. Aber ich beginne mich zu fragen, ob ein Mann eine Frau lieben kann, die ihren Aperol Spritz schon am Mittwoch und intravenös verabreicht bekommt.

Ich bin viel zu Hause und arbeite im Homeoffice. Meinem Chef, der mir das verdammte Schneckenhaus aufgesetzt hat, bin ich jetzt dankbar. Es läuft recht gut hier. Bei der Arbeit muss ich meine Kräfte vorsichtig einteilen. Meist fühle ich mich tiptop, aber manchmal kommt die Müdigkeit wie eine Wand. Wenn schwierige Kunden sich melden oder ein mühsamer Vorgesetzter, wird mir kurz übel. Der grösste Teil meiner Energie geht in die Büroarbeit, deshalb schreibe ich hier so wenig. Noch habe ich meine Haare, es fallen mir nur auffallend viele Augenbrauen aus. Am Nachmittag kommen oft Freunde vorbei, und wir haben Spass.