Lagebericht aus der Omikronwand

Der Fotograf Jean-Pierre Pedrazzini (1927 bis 1956), dessen Bilder wir gerade an uns vorbeiziehen lassen.
Da sitzen wir und haben Ferien, Herr T. und ich. Eigentlich wären wir jetzt am Filmfestival Solothurn. Dort würden wir mit Hunderten anderen Menschen im Kino sitzen, Schulter an Schulter, geschützt nur durch Impfung und Maske. Wir haben in der Schweiz laut corona-in-zahlen.de gerade eine Inzidenz von 2665 Fällen im 7-Tage-Schnitt (in Deutschland sind es 894, in Österreich 1840). Und das ohne Dunkelziffer – die Tests sind knapp.

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in Solothurn anstecken?“ fragte Herr T. Frau Frogg sagte forsch: „Ungefähr 100 Prozent, oder?“ So stornierten wir unser Hotelzimmer im „Kreuz“. Ich will kein Long Covid, und ich will kein Spitalbett besetzen, solange ich anders kann. Herr T. streamt uns zu Hause Schweizer Filme. Wir sitzen auf unserem Sofa wie hinter der Omikronwand versteckte Guerillakämpfer, zu zweit gegen das Virus und unsere Regierung, die uns durchseuchen will und es nicht so nennt.

Ich bin vom vielen Filmeschauen etwas geistesabwesend geworden. Die Tage haben ihre Struktur verloren, ich lasse die Bilder wie im Traum an mir vorbeiziehen. „Pédra, ein Reporter ohne Grenzen“ mit Bildern des Tessiner Fotografen Jean-Pierre Pedrazzini, ein Journalisten-Star der fünfziger Jahre, er fotografierte Sofia Loren und Prinzessin Margaret in einem Boot in Asien. Später bereiste er die Sowjetunion, dazu gibt’s Footage von ukrainischen Bauern bei der Heuernte, ein archaisches Ritual. Darüber schieben sich Bilder aus meinem Kopfkino, von Schweizer Heuernten in den achtziger Jahren und von der russischen Stadt Tula, wo ich einmal gewesen bin. Eine Stadt, deren Namen ich vorher nicht gekannt hatte, eine grosse Stadt voller Menschen, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte. Pédra starb 1956, erschossen beim Aufstand in Ungarn.

Der Film wirkt seltsam unfertig, hört einfach auf nach dem Tod Pédras, als hätte der Fotograf nicht eine Frau hinterlassen, der er von unterwegs die sehnsüchtigsten Liebesbriefe geschrieben hatte. Ich stehe auf, strecke mich, bekomme Fernweh. Am Nachmittag werden wir spazierengehen.

Ätzende Kritik an „Nomadland“

Frances McDormand bekam für ihre Rolle in „Nomadland“ einen Oscar als beste Schauspielerin (Quelle: variety.com)
„Nomadland“ war einer der grossen Oscar-Renner des Jahres 2021. Neben Frances McDormand bekam auch Regisseurin Chloé Zhao eine Auszeichnung. Es geht im Film um ältere Leute in den USA, denen das Geld nicht mehr zum Wohnen und sowieso nicht für den Ruhestand reicht. Sie streifen mit Campern durchs Land, von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. Kaja und ich waren uns einig: Man muss ihn gesehen haben – und begaben uns gestern Abend ins Open Air Kino.

Auf dem mitternächtlichen Spaziergang zurück in die Stadt dann unser übliches Spielchen. „Hat er Dir gefallen?“ fragt sie. Ich: „Ja, ganz gut. Die Würde und Unerschrockenheit dieser vom Leben verarschten Leute… .“

Kaja lässt mich kaum ausreden, sie muss ihrem Ärger Luft machen. „Ich mochte schon den letzten Film von Chloé Zhao überhaupt nicht, ‚The Rider‘, erinnerst Du Dich?!“ schimpft sie, „Diese endlosen Einstellungen von traumhaft schönen Landschaften! Das romantisiert doch die missliche Lage dieser Menschen! Und von wegen Würde und Unerschrockenheit! Bestimmt sind diese Leute oft unglücklich und entnervt! Ich meine: Wenn Du so lebst, dann verlierst Du wahrscheinlich zehn oder fünfzehn Jahre Lebenserwartung, einfach, weil es so stressig ist. Und diese Leute arbeiten bei Amazon! Da müsste man doch genauer erfahren, was das für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse sind!“

Man muss es Kaja lassen, sie hat recht. Und gleichzeitig beharre ich auf meiner Sichtweise: Ich finde es tröstlich, vielleicht auch für die Betroffenen selbst, dass der Film auch eine bejahende Wahrnehmung dieses Lebensstils zulässt. Schicksal oder Flucht in eine prekäre Art von Autonomie? Der Streifen lässt vieles offen, aber er hat auch entlarvende Szenen. Zum Beispiel da, wo die Heldin Fern ihre Schwester besucht, deren Mann im Immobilienbusiness reich geworden ist. Was für eine Heuchelei! Ich finde, man kann Kajas und meine Sichtweisen mal einfach so nebeneinander stehenlassen.

Trotzdem, ich habe jetzt ein bisschen Material zum Film gesammelt. Ich finde es wissenswert, dass er auf einem Buch der Autorin Jessica Bruder basiert (hier mehr darüber). Dort gibt es Informationen zu den Workampers, die im Film nicht explizit erwähnt sind.

Und zu Amazon: Der Versandgigant heuert in den USA jährlich in den drei Monaten vor Weihnachten um die 1400 Camper-Nomaden an, eine beschönigend Camperforce genannte Truppe. Diese temporären Angestellten bekommen einen Abstellplatz für ihren Wagen und arbeiten zu einem tiefen Stundenlohn in Zwölfstundenschichten. Und, im Zusammenhang mit Amazon auch von Interesse: Im Amazon-Hauptsitz Seattle stiegen die Mieten wegen Amazon ins Unermessliche – und damit wuchs auch die Obdachlosigkeit. Die Stadt Seattle wollte diesem Elend ein Ende bereiten und die Unternehmenssteuer erhöhen, um mehr Häuser zu bauen. Da drohten die Amazon-Chef*innen, den Firmensitz zu verlegen – und bauten statt dessen Unterkünfte für ihre Angestellten. Mit mässigen Erfolg, wie man hier nachlesen kann. Letzteres weiss ich schon seit einer Weile und kaufe deshalb nicht mehr bei Amazon ein.