„Mein Bruder ist in Gefahr“, schreibt Afshaneh in einem Whatsapp, „Er möchte heute Abend Afghanistan verlassen. Ich weiss nicht, ob es möglich ist oder nicht. Wo, keine Ahnung. Meine Schwester und ihre Familie sind auch im Versteck. Da meine Schwester in einer amerikanischen Firma gearbeitet hat, ist sie wirklich in Gefahr.“ Das war am Samstag. Afshaneh war eine Deutsch-Schülerin von mir, bis zum ersten Lockdown. Eine Afghanin. Ich habe sie ins Herz geschlossen, oder vielleicht eher sie mich – sie ist eine sehr sehr warmherzige Person und eine der tüchtigsten Frauen, die ich kenne.
Ich sehe die Bilder flüchtender Menschen und bin fassunglos.
Früher haben mich solche Bilder sehr viel weniger berührt. Ich meine, ich verstand im Kopf, was da passierte. Aber ich war eine Newsfrau. Es hätte niemandem etwas gebracht, wenn ich beim Anblick in Todesangst flüchtender Menschen in Tränen ausgebrochen wäre. Doch nicht nur ich war so. Ich glaube, die meisten von uns waren so (ausser, vielleicht, während eines kurzen Zeitfensters im Herbst 2015). Die Menschen auf solchen Bildern waren die Anderen und erlebten Dinge, die wir uns nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten. Wir alle lebten in einem andauernden, goldenen Spätnachmittagsschein, fühlten uns unverwundbar und wussten es nicht. Dann kam die Pandemie und mit ihr diese masslose Wut mitten in unserer Gesellschaft. Dann der Sturm auf das Kapitol. Dann das Hochwasser. Vielleicht verstehe ich deshalb gerade besser, wie es sich anfühlt, wenn die Dinge so mörderisch aus dem Ruder laufen. Oder meine es jedenfalls.
Und vielleicht liegt es daran, dass ich einfach dasitze und denke: „Grosser Gott, das sind Leute wie Afshaneh! Das könnte Afshanehs Bruder und sein Baby sein!“
Wenn jemand weiss, wie man helfen kann, bitte melden.