Der Mississippi-Mythos

Ungefähr so sieht der Mississippi in meiner Erinnerung aus (Quelle: www.nature.org)

Allen herzlichen Dank für die Kommentare zum Mississippi-Beitrag von gestern! Nicht nur Christiane Rösinger und ich sind der Mississippi-Magie verfallen, so viel ist nun klar! Ja, Mississippi ist ein wohlklingendes Wort – deshalb und aus vielen anderen Gründen wurde der Ol‘ Man River wohl so oft besungen, ist einer der ganz grossen Mythen der USA. Er ist der alte Mann, der immer weiterfliesst, von der leidvollen Maloche der Schwarzen an seinem Ufer völlig unbeeindruckt. Ein Symbol für die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den Menschen, für Dauerhaftigkeit und ewige Veränderung zugleich.

Auch per Whatsapp habe ich eine Rückmeldung mit Lieblingssong bekommen: „The River“ von Bruce Springsteen. Auch ich hätte „The River“ als meinen zweitliebsten Mississippi-Song bezeichnet. Ironischerweise ist der titelgebende Fluss aber wohl nicht der Mississippi, sondern der Conemaugh River in Johnstown, Pennsylvania. Doch egal: Auch der Conemaugh River mündet in einen Fluss, der im Mississippi mündet. Auch hier: Der Fluss als Ort, der bleibt, der einen sein ganzes, unerfülltes Leben lang an die Träume erinnert, die man einst hatte.

Mein meistgeliebter Mississippi-Song ist aber „When the Levee Breaks“. Von Led Zeppelin zur verstörenden Rock-Apokalypse gemacht (hier der Link zum Song), handelt es sich eigentlich um einen Blues-Klassiker aus den 1920er-Jahren (hier die Version von Memphis Minnie von 1929). Er erinnert an die grosse Flut im Mississippi-Delta im Jahre 1927. „Die ganze Nacht sass ich auf dem Deich und habe gestöhnt. Wenn der Deich bricht, haben wir kein Zuhause mehr.“ Man denkt in diesen Tagen an Österreich, an Italien, an Polen.

All diese Songs höre ich heute leider nur noch als sinnlosen Geräuschbrei. Aber ich erinnere mich an einen Tag Anfang Juli 2005, als Herr T. und ich von New Orleans nach Chicago flogen. Herr T. liess mich am Fenster sitzen, und so sah ich unter mir den Mississippi wie eine silbrig-braune, riesige Schlange, die sich durch ein riesiges, rötliches Amerika wand. Das ist meine eigene Teilhabe am grossen Mississippi-Mythos, die mir bleibt.

Aber je länger ich darüber nachdenke, desto besser verstehe ich, dass Stefanie Sargnagel simple Teilhabe am Mississippi-Mythos zu billig ist. Dass sie sich nicht erheben lassen und dabei übersehen will, dass im Grunde alles ganz anders ist. Dass die USA ein ziemlich kaputtes Land sind.

Hörtest mit Polizeisirene

Vielleicht bekomme ich bald ein Cochlea-Implantant, auch CI genannt. Was das ist, könnt ihr hier nachlesen. Man ist für ein solches Ding qualifiziert, wenn man so schlecht hört, dass auch Hörgeräte nicht mehr richtig helfen. Ich kenne vier Personen, die ein CI haben. Drei von ihnen sagen: „Du, das ist wie Wunder! Aber du wirst viel trainieren müssen.“

Ich hatte schon eine CI-Abklärung, im Herbst 2020. Damals lautete das Verdikt der CI-Spezialistin: „Nun ja, Sie sind eine Wackelkandidatin. Warten Sie doch mal ab.“ Seither hat mein rechtes Ohr den Geist fast ganz aufgegeben, das Linke schwächelt je nach Tagesform. Jetzt sitze ich wieder mal in einem dieser mit Schaumstoff ausgekleideten Räume, in denen Hörtests gemacht werden. Rechts vis à vis von mir die Audiologin mit allerhand Geräten. Genau gegenüber hängt ein Lautsprecher an der Wand.

Ich lächle die Audiologin an und warne sie: „Das wird anstrengend, auch für Sie!“ Dann erzähle ich ihr die Anekdote vom letzten Mal. Die Audiologin von damals sagte nach einer halben Stunde zu mir: „Das ist anstrengend, nicht wahr?!“ Ich so: „Ja, weil es sooo leise ist!“ Darauf sie: „Ja, für mich ist es auch anstrengend, weil es sooo laut ist!“

Die jetzige Audiologin sagt nachsichtig: „Naja, für sowas sind wir ja da.“

Es folgen die üblichen Tests mit Piepen aus dem Kopfhörer und so weiter. Dann kommen aus dem Lautsprecher Wörter. Links höre ich sie mit Hörgerät meistens und verstehe sie oft sogar. Rechts: Nichts, auch mit Hörgerät. Schliesslich jault es aus dem Lautsprecher gegenüber so heftig, dass er fast von der Wand springt. Wenn ich es mit dem linken Ohr höre, klingt es wie die Sirene eines amerikanischen Polizeiautos. Rechts: nichts. Aber ich weiss, dass es jault, denn die Audiologin hält sich ihr dem Lautsprecher zugewandtes Ohr zu.

Carmen an der Abwaschmaschine

Sprechen wir also über die Kaffee-Ecke! An einem Vormittag letzte Woche fand ich dort eine zierliche Gestalt mit hell gesträhnter Mähne vor. Sie beugte sich mit dem Rücken zu mir über die Abwaschmaschine. Ach, der weiblich gelesene Mensch II, dachte ich. Aber manchmal besiegt mein spontaneres Ich meine Ressentiments. Es sagte freundlich: „Oh, hallo Carmen, Du bist also die tapfere Seele, die diese Abwaschmaschine ausräumt!“ Ich wusste, dass das Geschirr in der Maschine zwar sauber war – aber das Ding so voll, dass ich bei meinem vorherigen Besuch nicht genügend Zeit gehabt hatte, es auszuräumen. Dabei stapelten sich neu verschmutzte Tassen schon in der Spüle. „Kann ich Dir helfen?“ fragte ich.

Sie lehnte ab. Aber dann hatten wir eine nette Konversation über das viele Geschirr überall. Das ist schon wegen meiner Schwerhörigkeit nicht selbstverständlich. Und dann hatte ich ja auch noch Ressentiments, und die reichten bis zum Frauenstreiktag 2024 zurück. Damals, am 14. Juni, hatte ich als Frau und potenzielle Teilnehmerin am feministischen Streik mich in unserer Zeitung als „weiblich gelesener Mensch“ bezeichnen lassen müssen. Zuoberst im Frontkommentar! Ich war so wütend, dass ich an jenem Tag nicht einmal den Frontkommentar zu Ende las, geschweige denn den Rest der Zeitung. Ich beschwerte mich sogar bei der Autorin des Kommentars.

Ich meine: Die Abschaffung des generischen Maskulinums ist eine 40 Jahre alte feministische Forderung. Doch bei unserer Zeitung war dessen Gebrauch bis 2021 Vorschrift. In den zehn Jahren vor der Pandemie mogelte ich mich um diese Regel herum (warum, siehe hier). Ich war mir aber stets bewusst, dass unsere Hausregeln die Existenz des weiblichen Geschlechts in der Sprache eigentlich nur in Ausnahmefällen vorsah. Und nun werden wir Frauen schon wieder überfahren, erst noch von so genannten Feminist*innen! Sorry, aber da finde ich sehr wohl, dass man uns Frauen „etwas wegnimmt“!

An jenem Tag also begegneten mir in der Kaffee-Ecke Carmen Zimmerhäckel und ihre Kollegin, Marina Hartkiesel, beide junge Redaktorinnen. Seither heissen die beiden bei mir der weiblich gelesene Mensch II und der weiblich gelesene Mensch I. Denn an jenem Tag sprach ich sie an, vielleicht zum ersten Mal ohne äussere Notwendigkeit. Ich nahm all meinen Mut zusammennehmen und fragte: „Sagt mal, fühlt ihr Euch angesprochen, wenn man Euch als weiblich gelesene Menschen bezeichnet?“

Sie sahen mich an, als wäre ich vom Mars und von oben bis unten grün. Dann sahen sie einander an, lächelten, liessen beim Nicken ihr Frisuren wippen und sagten: „Ja.“

Rennes: Wieder Französisch können

Am vierten Tag warten wir in Rennes auf den TGV für die Weiterreise. Er hat eine halbe Stunde Verspätung. Herr T. geht ein Sandwich kaufen, ich passe auf das Gepäck auf und lasse den Blick schweifen. Bis jetzt habe ich das mit der Verständigung meist Herrn T. überlassen. Oft verstehe ich gehörbedingt die Leute eh nicht, wenn sie eine Antwort auf eine Frage nuscheln. Aber jetzt lese ich auf einem Netflix-Werbeplakat den Titel „L’envers du sport“ und übersetze spontan: „Die Hölle des Sports“, in Erinnerung an ein Zitat aus einem Stück von Jean-Paul Sartre, … aber nein, das kann nicht sein, das Zitat heisst nicht „l’envers c’est les autres“, sondern „l’enfer, c’est les autres“, die Hölle sind die anderen.

Mensch! Dann: Wenn aber „l’enfer“ die Hölle heisst, muss „l’envers“ etwas anderes heissen. „Die Kehrseite“ vielleicht? Die Kehrseite des Sports, das klingt doch gut. Ich kann also noch Französisch, denke ich und plötzlich wird mir klar: Ich kann in diesem sprachlosen Zustand nicht weitermachen. Als wir die Chance haben, mündliche Auskunft über die bänglich erwartete Zugsabfahrt zu bekommen, gehe ich hin und frage den Mann mit der Uniform selbst. Und weil ich so stockend gesprochen habe, antwortete er auch sehr deutlich. Dann ist das Französisch plötzlich wieder da in meinem Hirn, wie angeknipst.

Und seit gestern weiss ich sogar: Die Plakate warben für eine neue Staffel der Netflix-Serie „Untold“. Ob sie auch einen deutschen Namen hat, weiss ich aber nicht.

Lippenlesen bei Dr. Aeschlimann

Hörende schwärmen gerne von der Magie des Lippenlesens. Ich sage ihnen dann jeweils leicht ungehalten, ich könne gar nicht lippenlesen, lippenlesen sei eine Zumutung. Klar, Frühertaubte können es oft unglaublich gut. Aber für uns Spätertaubte fällt schon ins Gewicht, dass sich am Mund selbst nur etwa 30 Prozent der im Mund produzierten Laute ablesen (oder eher erraten) lassen. Klar, ich verstehe Leute besser, wenn ich ihren Mund sehe. Aber meiner Meinung nach hat das einfach damit zu tun, dass dann die Schallwellen aus diesem Mund auch ohne Umwege in meine Hörgeräte gelangen.

Nun musste ich diese Woche zu Dr. Aeschlimann, dem Endokrinologen, der in zehn Tagen meine Schilddrüse behandeln wird – eine harmlose Sache, hat man mir versichert. Damit ich schon mal weiss, was auf mich zukommt, simulierten wir kurz die OP-Situation. Das wird alles ohne Narkose vonstatten gehen. Ich werde mich auf einen Schragen legen müssen, und Herr Aeschlimann wird sich von hinten über meinen Kopf beugen. Ich lag also da und sah, wie sie sein Gesicht von oben in mein Gesichtsfeld schob, verkehrtherum, und er redete. Mit verkehrten Lippen! Was für ein verwirrender Anblick! Ich bekam Panik, diese Art von Panik, die ich in letzter Zeit bekomme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Dinge auditiv aus dem Ruder laufen. Ich sagte spontan: „Zunderobsi* lippenlesen ist aber ziemlich schwierig.“

Dr. Aeschlimann ist ein umsichtiger Arzt. Er vergisst nur selten, dass ich nicht gut höre. Er sagte: „Ja, das ist mir eben auch durch den Kopf gegangen.“ Er wird dran denken, wenn ich da auf dem Schragen liege. Mich aber beschäftigt seither die Frage, ob ich tatsächlich intensiver Lippen lese als ich immer behaupte.

*schweizerdeutsch: verkehrtherum

The Sound of Metal

Ruben ist eben ertaubt und hilflos – aber nur am Anfang. Da muss seine Freundin Lou noch für ihn telefonieren. (Quelle: guardian.co.uk)

The Sound of Metal ist ein feinfühliger Film über einen Menschen, der sein Gehör verliert. Ruben Stone (Riz Ahmed)  ist Drummer und gerade auf Tour, als er Gespräche plötzlich nur noch als fernes Glucksen hört. Wie befremdlich das für Betroffene tatsächlich klingt, ist im Film sehr gut dargestellt. (Jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte – ich bin selbst hochgradig schwerhörig und bekomme auch bei der besten Vertonung nie ganz mit, wie ein Film tönt). Der Film wechselt ab zwischen der in Filmen normalen Vertonung und der Darstellung von Rubens Hörerlebnis, auch als bei Ruben dann alles weg ist. Stille.

Was in einem Menschen in einem solchen Moment vor sich geht, ist überwältigend, aber schwierig sichtbar zu machen. Ich selbst habe nach den ersten, schweren Hörstürzen in meinem guten Ohr wochenlang Tränenströme vergossen, aber das hätte kaum bildschirmtauglich ausgesehen. Ruben hat einen oder zwei Wutanfälle und guckt sonst meist mit riesigen Augen verwirrt bis panisch um sich. Das sieht glaubwürdig aus. Seine Partnerin und Bandkollegin Lou (Olivia Cooke) muss ihm erst mal helfen, seine dringendsten Probleme zu lösen. Dann kommt er in eine Institution auf dem Land, wo er in einem Crash-Kurs in Gebärdensprache lernt und mit seinem neuen Ich ins Reine kommen kann. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, in sein altes Leben zurückzukehren.

Das Werk ist mehrfach preisgekrönt. Ich glaube daher, dass es auch Menschen etwas gibt, die sich herzlich wenig für Gehörprobleme interessieren. Erstens ist die Musik am Anfang abgefahren (soweit ich das beurteilen kann). Zweitens ist es ein Film über etwas, was jedem Menschen passieren kann: dass er etwas verliert, was ihm Leib und Seele zusammenhält. Drittens ist die Geschichte  aus Rubens Perspektive erzählt, und eins ist Ruben nie: ein armer Behinderter, einer von den anderen, einer, zu dem man auf Distanz gehen muss. In seiner neuen Umgebung findet er sich schnell zurecht. Er hat einen Plan, und er findet Mittel und Wege, ihn ins Werk zu setzen.

Dennoch habe ich Fragen an den Film. Erstens wird bei Rubens Eintritt in die Institution klar, dass er vier Jahr zuvor heroinsüchtig gewesen ist. Warum ist das relevant? Weil das Heroin mit ein Grund für die Ertaubung sein könnte? Weil der Film einen Protagonisten braucht, der schon vorher in einer prekären Verfassung war? Suchtprobleme als Folge von Schwerhörigkeit sind nichts Ungewöhnliches. Aber so wie sie hier daherkommen, als unerklärte, alte Geschichte, überzeugen sie mich dramaturgisch nicht. Zweitens frage ich mich, warum der Film genau an der Stelle endet, wo er eigentlich anfangen sollte: Als Ruben merkt, dass der Weg zurück in die Welt der Hörenden auch mit bester Technologie sehr schwierig wird.

Übrigens: Danke, Herr Hopkins

I Got Life, Mother!

Seit Anfang Woche arbeite ich wieder im Büro. Das ist schwieriger als ich gedacht habe. Ich fühle mich wie abgeschnitten von den anderen, die ich zum Teil monatelang nicht gesehen habe. Ein Neuanfang, auf den niemand gewartet hat.

Aber gestern Mittag ging ich mit dem Herrn Grossstadtrat zu Mittag essen. Wir speisten im Bistro an der Tagblattstrasse. Er ist ein langjähriger Kunde, und mit den Jahren sind unsere Treffen ungeschäftlicher und unsere Gespräche entspannter geworden.  Hinter uns sassen zwei pensionierte Herren Stadträte, die ich früher interviewt habe, und ihre ebenfalls pensionierten Chefbeamten. Niemand kann so viel Heiterkeit verbreiten wie Politiker, die ihre Arbeit getan haben und sich endlich in Ruhe ein Gläschen gönnen dürfen. Es ist sogar für die Leute am Nebentisch ansteckend.

Später traten der Herr Grossstadtrat und ich auf die Strasse, die Bäume am Strassenrand waren gelb, der Himmel strahlte. Als wir uns verabschiedeten, parkierte gerade eine junge Frau ihr Fahrrad beim Veloständer nebenan. Es war die Frau SP-Regierungsratskandidatin, nach der sich der Herr Grossstadtrat verstohlen umblickte.

Ich blickte in den Himmel und fühlte mich wie eben geboren. In meinem Kopf erschallte plötzlich ein Song, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe. Aber ich hörte ihn klar, jede Modulation in der Stimme des Sängers, und ich konnte erstaunlicherweise weite Strecken des Textes auswendig: „I got life, mother; I got laughs, sister; I got freedom, brother; I got good times, man.

I got crazy ways, daughter; I got million dollar charm, cousin; I got headaches and toothaches; And bad times too like you!

I got my hair; I got my head; I got my brains; … I got my ass; I got my arms; I got my hands; I got my fingers; I got my legs; I got my feet; I got my toes; I got my liver; I got my blood;  got my guts; got my muscles I got life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)“
Hier und hier alles darüber.

Wenn ein Tisch dagewesen wäre, hätte ich glatt darauf zu tanzen begonnen.

 

Nacht in Italien

Dies ist die erste Story der Sammlung Geschichten, die glücklich machen. Es freut mich, wenn ihr auch eine Story beisteuert.

Frau Frogg mit 19 am Bahnhof von Lucca, allerdings bei Tag.
Im Oktober 1984 gab es noch keine Handys. Wenn man etwas abmachte, galt es. Ich hatte mich an einem Freitagmorgen um 7.30 Uhr mit meinem Kumpel Fred in Livorno verabredet. Wir wollten zusammen nach Korsika. Fred hatte gesagt: „Ich komme spät am Vorabend in Livorno an. Du findest mich unter der Eisenbahnbrücke 100 Meter hinter dem Bahnhof. Dort übernachte ich. Sei pünktlich. Das Schiff geht um 8 Uhr.“ Fred kam direkt aus der Schweiz. Ich wollte mit dem Zug von Lucca anreisen, wo ich mit meiner Klasse auf Abiturreise gewesen war. Eine Zugfahrt von etwas mehr als einer Stunde. Ich war 19.

Womit ich nicht gerechnet hatte: Während wir in Lucca waren, brach ein Eisenbahnerstreik aus. „Scioppero!“ Gelegentlich fuhren Züge, sehr oft auch nicht. Ob es am frühen Morgen eine Verbindung nach Livorno geben würde, wusste ich nicht. Doch die Nacht unter der Eisenbahnbrücke in einer fremden Stadt verbringen – nein danke! Nach Korsika aber wollte ich.

Wenn ich etwas unbedingt gewollt habe, habe ich es mir stets mit schierer Sturheit geholt. An jenem Tag stand ich um vier Uhr früh am Bahnhof von Lucca. Dort war bereits ein Menschengrüppchen im blassen Schein von ein paar wenigen Lampen auf dem Perron 1 versammelt. Der Zug auf dem Gleis war unbeleuchtet. Ich fragte ein wenig herum, ein paar Worte Italienisch konnte ich. Niemand wusste etwas.

Dann kam ein Mann auf mich zu, vielleicht vierzig Jahre alt. Ich solle mitkommen, sagte er. Er führte mich einem Gleis entlang, hinaus ins Dunkle. Mir wurde sehr mulmig. Aber dann sah ich weiter vorne einen beleuchteten Zug und mehr Menschen. „Dieser Zug geht nach Varese. Dort steigen wir um. Ich muss auch nach Lucca“, sagte der Mann. Ich misstraute ihm, aber ich hatte mich auf das Abenteuer eingelassen. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihm in den Zug zu steigen. Die anderen stiegen auch ein. Wir waren wenigstens nicht allein im Abteil. Irgendwann zuckelte der Zug los.

Der Mann sagte, er sei Seemann, und von der Bekleidung her kam das ungefähr hin. Mein Italienisch war schnell erschöpft, aber wir stellten fest, dass wir beide die Literatur liebten. Da begann er Gedichte zu rezitieren. „Piove“, sagte er irgendwann und immer wieder, „piove“ und „piove“. Draussen zog die Dunkelheit vorbei. Drinnen rauschte der Regen ins Abteil. Er hatte eine Stimme wie Sand. Noch heute kann ich diesen Gesang hören, diese wohlgeformte Sprache, dieses immer wiederkehrende „piove, piove“.

Später habe ich recherchiert und vermute, dass es Gabriele d’Annunzios La pioggia nel pineto war. Der Pedant würde sagen, dass Gabriele d’Annunzio politisch nicht über jeden Zweifel erhaben war. Ich aber erlebte an jenem Morgen die entrückende Kraft der Sprache und wurde gerettet.

Wir müssen lange unterwegs gewesen sein. Der Zug traf um 7.25 Uhr in Livorno ein. Ich verabschiedete mich dankbar und machte mich auf die Suche nach Fred. Seine Eisenbahnbrücke fand ich, aber nicht ihn. Zehn wertvolle Minuten gingen verloren. „Nun, dann gehe ich jetzt in die Bar am Bahnhof, trinke einen Kaffee, und dann schauen wir weiter“, dachte ich.

Kaum hatte ich das Bahnhofsrestaurant betreten, sah ich Fred. Er kläffte mich als erstes an, weil ich mittlerweile verspätet war. Am hinteren Ende des Tresens sass mein Seemann vor einem Gläschen Eierlikör. Bevor wir eilig die Bar verliessen, winkte ich ihm nochmals zu. Aber er tat, als erkenne er mich nicht.

Das Schiff nach Korsika verpassten wir. Wie wir trotzdem auf die Insel kamen, erzähle ich ein andermal.