Der Journalist

Zwischen 2014 und ungefähr 2017 habe ich versucht, einen Roman über den Niedergang des Zeitungsbranche zu schreiben. Ich hielt das für eine gute Sache, die Zeitungen stehen ja exemplarisch für ganze von der Digitalisierung weggefegte Geschäftszweige. Ich habe die Geschichte nie fertiggeschrieben – dazu war ich viel zu verliebt in meine Protagonisten, und so wurde der Stoff uferlos. Aber selbstverständlich musste ich den Roman von Artur Kilian Vogel lesen. Denn Vogel erzählt die Geschichte von Pirmin Strittmatter, einem Chefredaktor, dessen Zeitung wegfusioniert wird. Mal schauen, wie Vogel das macht, dachte ich.

Da sitzt Strittmatter also am Tag vor dem Erscheinen der letzten Zeitung und beobachtet vom Chefsessel aus das grosse Lichterlöschen auf seiner Redaktion. Seine nun entlassenen Leute kommen vorbei, um sich zu verabschieden: der ehrgeizige Katz, der auf einer Verwaltungsstelle seine lukrative Rettung gefunden hat. Der hölzerne Herbrand, Chef der Lokalredaktion, den Strittmatter nie gemocht hat. Und die talentierte und attraktive Patty, der er gerne seinen Chefposten vermacht hätte. Er beschreibt dies alles so anschaulich, dass es mir vorkam, als wäre Vogel bei jener Zeitungsfusion in den neunziger Jahren dabeigewesen, die auch ich erlebt habe. Das war er mit Sicherheit nicht. Aber Vogel war selbst Journalist, sogar Chefredaktor bei beim Berner Bund, der heute nur noch als Schatten seiner selbst existiert. Vogel skizziert seine Figuren und die ökonomischen Verhältnisse sachlich und mit einer packenden, ungekünstelten Sprache. Viel besser als ich selbst es gekonnt hätte.

Strittmatter trinkt Wein und lässt sein eigenes Leben Revue passieren, besonders seine gescheiterte Liebe mit der fernen Sidonie (mit angetrunkenem Selbstmitleid) und seine Journalisten-Karriere (mit nostalgischer Selbstironie). Da gibt es zahlreiche lebhafte Skizzen eines Métiers, und manchmal dachte ich: Ja, genauso ist es gewesen. So war die Welt wie wir Print-Journalistinnen und -Journalisten sie gesehen haben.

An einer einzigen Stelle protestierte ich innerlich. Strittmatter denkt auf Seite 144: „Wahrscheinlich werden Polizisten mit den Jahren zynisch; anders wäre gar nicht zu ertragen, was sie zu sehen bekommen. Bei Journalisten ist es ähnlich.“ Das ist ein unter Journalisten verbreiteter Gemeinplatz, den ich früher auch gerne gebraucht habe. Aber dann begann ich einer meiner Deutschschülerinnen bei ihrer Ausbildung in der Altenpflege zu helfen. Damals bekam ich eine Ahnung davon, wie es ist, wenn man täglich mit Menschen zu tun hat und das schwer zu Ertragendes zusammen mit ihnen aushalten muss: Inkontinenz, Dekubitus, Depression, Tod. Altenpflegerinnen und -pfleger haben jedes Recht, zynisch zu sein. Journalistinnen und Journalisten meiner Generation sind dagegen papierene Geschöpfe. Unser Gelächter ergibt sich aus der schwindelerregenden Flut von Agenturmeldungen und Medienmitteilungen, die täglich auf uns einprasseln; ein ständiges Aufeinandertreffen von reiner Idiotie und dem Tod von Tausenden, aber alles aus sicherer Distanz. Wir behalten unseren Zynismus besser für uns.

Nun, Strittmatter ist ein anderes Kaliber, er kennt den Tod nicht nur aus Agenturmeldungen. Als Reporter hat er den Krieg im Nahen Osten gesehen und andere Katastrophen auf fernen Erdteilen – ungefähr die Hälfte des Buches ist seinen Erlebnissen dort gewidmet. Es sind nicht zuletzt die Erinnerung an diese Katastrophen, die verhindern, dass der 63-Jährige sich über seine vorzeitige Pensionierung auch ein wenig freuen kann. Ich muss gestehen: Ich verzeihe es Strittmatter nicht ganz, dass er seinen Selbstmitleid nicht überwindet. Aber Vogel bin ich dankbar, dass er einen gut informierten Blick auf unser sterbendes Métier geworfen hat. Vielleicht kann ich selbst den Stoff nun endlich zur Ruhe legen.