Seltsame Begegnung im verlorenen Paradies

Heute führte mich ein ein Spaziergang an die Drachenfliegenstrasse. 18 Jahre lang hatten Herr T. und ich dort gewohnt, bevor wir im Juni 2019 wegzogen. Es war unser Paradies, aber jetzt gehe ich nur noch selten dort vorbei. Wir sind glücklich an unserer neuen Adresse. Wenn es doch tue, sehe ich manchmal nach, ob die früheren Nachbarn noch dort wohnen. Oder ob es Anzeichen gibt, dass die Bauherrin endlich die Abbruchpläne ins Werk setzen kann, wegen denen wir weggezogen sind.

Das Projekt war jahrelang blockiert. 2022 zogen ukrainische Familien in die auch abbruchbereiten Häuser auf der anderen Strassenseite. Auf unserer Seite dagegen blieben einige Alteingesessene noch lange. Heute jedoch: Die Bäume am Strassenrand: abgesägt. Alle Wohnungen auf unserer Seite: leer. Verwunschene Gärten und geheime Pfade: planiert. Es riecht nach niedergemähtem Bärlauch. An den Hausecken: Lose Haufen aus Wohntrümmern und abgesägten Ästen. Ich irre umher, die Gespenster der Vergangenheit überwältigen mich.

Hier. An dieser Ecke habe ich einmal ein paar Worte mit Herrn Rüedi gewechselt, der gerade sein Gartenbeet pützelte. Seine Frau sah mich vom Liegestuhl aus böse an. Glaubte sie wirklich, ich wolle mit ihrem Ehemann schäkern? Wenige Jahre danach fuhr Herr Rüedi eines Morgens mit dem Velo aus und kam nicht zurück – ein tödlicher Herzinfarkt riss ihn unterwegs vom Rad. Das weiss ich, weil ich mich später, zunächst widerwillig, mit Frau Rüedi anfreundete. Sie hiess mit Vornamen Katharina, er hatte Karl geheissen, und einmal hat sie mir ihre hinreissende Liebesgeschichte erzählt (hier und hier und hier). Katharina ist auch weggezogen, aber ich finde sie unter ihrer neuen Adresse nicht mehr. Ob sie zu ihrem Karl heimgegangen ist?

Eine alte Frau mit einer sorgfältig toupierten, mahagonifarbenen Frisur tappt mir am Gehstock entgegen. „Verrückt, nicht?“ sage ich, als wir uns begegnen. Sie lächelt. Sie hat dritte Zähne und ein leeres Gesicht und bleibt stumm. Schwerhörig? Dement?

Ich gehe weiter, und hier! Hier hatte ein korpulenter, älterer Herr sein Gärtchen. Er grüsste nur mürrisch, kultivierte ungewöhnliches Gemüse, Catalogna vielleicht, und bewässerte es mit blauen PET-Wasserflaschen aus Italien. Jetzt: nur noch Dreck und Trümmer, ein paar Buben spielen im Unrat. Und hier: Hier hatte Mahika ihr Beet mit Himbeerstauden. Direkt vor dem Zimmer ihrer Tochter Sita im Erdgeschoss. Das Zimmer, ach Gott, es hatte Schimmel an den Wänden und Sita ständig Bronchitis, und so zogen die beiden weg. Sita sehe ich manchmal in der Stadt und Mahika …, ich sollte sie besuchen, aber sie wohnt so weit weg. Ich schaue kurz zum Fenster von Sitas einstigem Zimmer. Die Scheibe ist kaputt.

Da kommt wieder die Frau mit dem mahagonifarbenen Haar. Ich versuche es noch einmal. „Haben sie auch hier gewohnt?“ frage ich. Sie lächelt wieder ihr leeres Lächeln. Dann sagt sie: „Russia.“ Hä!?` „Sie sind Russin?“ Sie nickt.

Was macht eine Russin hier? Ukrainerin, ja. Aber eine Russin? Misstrauen, Neugier und Freundlichkeit streiten kurz in mir, es gewinnen Neugier und Freundlichkeit. Ich recke meinen Zeigefinger Richtung andere Strassenseite, wo die Häuser noch bewohnt sind. Sie nickt. Ich kann es mir nur so erklären: Sie ist eine geflüchtete Ukrainern russischer Herkunft, die dort drüben wohnt. Ich versuche, mit ihr zu sprechen, in allen Sprachen, die ich kann. Ich hätte hundert Fragen. Sie schüttelt nur den Kopf. Russisch kann ich nicht, verdammt!

Auf dem Nachhauseweg schwelge ich in meiner Traurigkeit, aber dann fällt mir ein: Die russische Frau hat tausendmal mehr verloren als ich. Und sie hat vielleicht noch nicht einmal ein neues Zuhause gefunden.

Vier Lieblingsbücher des Jahres 2022

In normalen Jahren kreise ich mit meinen Lesegewohnheiten um die westlichen Obsessionen von Selbstwerdung, Rasse, Gender und Klasse.  Doch 2022 war kein normales Jahr. 2022 fühlten sich diese Themen plötzlich seltsam irrelevant an, irgendwie lauwarm. Auf Twitter tat ich etwas, was ich mir nie im Leben hätte vorstellen können: Ich folgte Strategie-Experten. Auch bei der Wahl meiner Bücher liess ich mich vom Krieg in der Ukraine leiten.

Ich gehöre zwar nicht zu jenen, für die Romane aus der Ukraine plötzlich zur Mode wurden – spätestens ab Oktober wollte ich aber wenigstens etwas fundierter verstehen, was dort vor sich geht. Und so beginnt meine Bestenliste mit einem 395 Seiten starken Geschichtsbuch. Ich stehe auf Seite 259 und beisse mir daran zuweilen fast die Zähne aus. Aber es ist extrem lohnende Lektüre. Weil es den eisernen Vorhang aufreisst, der vielen von uns noch immer den Blick auf Osteuropa verstellt. Weil es schlüssig zeigt, dass die Bestrebungen der Ukrainer nach Unabhängigkeit bis mindestens ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Weil es zwar staubtrocken ist, zuweilen aber auch deftige Geschichten erzählt, manchmal lustig, oft grausam. Zum Beispiel, wie die Heilige Olga von Kiew um 945 ihre Widersacher in der Sauna zu Tode schmoren liess.

Vor Oktober war ich dieses Jahr weitgehend mit meinem Krebs beschäftigt. Um die verstörende Diagnose irgendwie einzuordnen, bohrte mich wie besessen durch die Klassiker der Krankheit – von Dostojewski über Thomas Mann bis Audre Lorde. Was mir aber auf ganz besondere Weise half, war „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Die Geschichte von zwei Jugendlichen, die mit einem alten Lada ausbüxen, hat direkt nichts mit Krebs zu tun. Ihre Entstehungsgeschichte indes schon. Autor Wolfgang Herrndorf vollendete es, nachdem er die Diagnose Hirntumor erhalten hatte. „Ich werde noch ein Buch schreiben“, sagte er sich, „egal wie lange ich noch habe.“ Nachzulesen in seinem Krebsjournal „Arbeit und Struktur“ (Seite 107), auch ein bemerkenswertes Buch. „Tschick“ wird oft an Schulen gelesen, und die zum Lesen Verdonnerten finden es dann gekünstelt. Ich fand es melancholisch und heiter und sehr liebenswürdig. Beim Lesen habe ich einmal abends so laut gelacht, dass Herr T. erschrocken ins Zimmer kam und fragte, ob alles in Ordnung sei.

Es waren meine Buchclub-Freundinnen, die meine Aufmerksamkeit wieder gen Westen richteten und mich auf mein absolutes Lieblingsbuch 2022 stossen liessen. „Shuggie Bain“ ist so vieles aufs Mal, dass ich gar nicht weiss, wo ich anfangen soll – unglaublich traurig, unglaublich lustig, unglaublich eklig, brutal und weise. Die perfekte Lektüre gegen Selbstmitleid – denn wer glaubt, sein Leben sei krass schwierig, wird es sich beim Lesen dieser Geschichte vielleicht nochmals überlegen. Der Protagonist, klein Shuggie, wächst in den 1980er-Jahren in den Arbeitervierteln von Glasgow auf, seine Mutter ist Alkoholikerin und er selbst entspricht so gar nicht den brutalen Männlichkeitsvorstellungen, die unter seinen Schulkameraden vorherrschen. Autor Stuart weiss, wovon er spricht – die Geschichte, obwohl fiktiv, hat starke autobiografische Züge. Wer kann, sollte es auf Englisch lesen – die Dialoge, die in schottischem Dialekt gesprochen sind, klingen wie  dreckigster Rock ’n‘ Roll.

Ein riesiges Schloss mit unzähligen Zimmern. Der erste Stock wird regelmässig von den Gezeiten überflutet. Mitten drin ein sympathischer Ich-Erzähler, der dort ganz allein und total verloren ist und doch alles mit liebender Neugier und analytischem Verstand erforscht. Und der geheimnisvolle Andere, der gelegentlich auftaucht und vielleicht ein Helfer ist, vielleicht aber auch eine tödliche Bedrohung – „Piranesi“ ist ein rätselhaftes Buch, auch ein tröstliches, halb literarischer Fantasy-Roman, halb Thriller. Es dreht sich um die Frage, was uns in extremer Isolation zurechtkommen lässt – eine Frage, die mich ein Leben lang beschäftigt hat, mit zunehmender Schwerhörigkeit wieder mehr und anders als noch in meinen jungen Jahren.

Sind das hier Lesetipps? Oder ist es diesmal einfach ein in Bücher gepackter, persönlicher Jahresrückblick? Beides, denke ich. Und verabschiede mich erst mal bis zum nächsten Jahr. Rutscht gut, Freundinnen und Freunde! Und bis 2023.

Was von Dostojewski zu Putin führt

Oksana Sabuschko, die „streitbare“ Intellektuelle, die meine Dostojewksi-Lektüre veränderte.

Ihr erinnert Euch: Mein Freund, Slawist Chäppeli, sagte während eines Spaziergangs, Dostojewki solle man jetzt nicht mehr lesen. Das war eine in zurückhaltendem Ton gemachte Äusserung, und später widerrief er sie auch schriftlich: „Ich möchte nur klarstellen: Nie würde ich sagen, dass man heute den Roman nicht mehr lesen könne oder solle.“ Gleichzeitig schickte er mir zwei Links, um zu erklären, wie er überhaupt auf diese Aussage gekommen sei.

Der  erste führte zu einer Polemik der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko, „eine der streitbarsten Intellektuellen der Ukraine“, wie die NZZ schreibt, die den Essay auf Deutsch veröffentlicht hat. Er ist zuallererst eine Anklage gegen den Westen, der das Entstehen eines neuen Totalitarismus in Russland gut zwanzig Jahre lang sträflich übersehen habe. Dann schimpft sie auf jene westlichen Intellektuellen, die nun versuchen würden, das Böse zu verstehen, zu rationalisieren, sich in Putins Hirn hineinzudenken und so in Dialog mit dem Serienmörder zu treten. Das sei der Situation nicht im mindesten angemessen. Der Westen habe sich vom Kreml jahrzehntelang an der Nase herumführen lassen.

Aber was hat die russische Literatur, noch dazu jene des 19. Jahrhunderts, mit Putin zu tun? Sabuschkos Antwort: „Man“ habe die russische Literatur ja immer „für europäisch und humanistisch“ gehalten. Dabei habe sie 200 Jahre lang ein Weltbild genährt, „in dem man den Verbrecher nicht verurteilt, sondern bedauert und Mitleid mit ihm hat.“

Und dann kommt die Abrechnung mit Dostojewski, „mit seinem Kult der Emotion und der gleichzeitig offen zu Schau getragenen Verachtung der Vernunft.“ Dostojewski stehe ausserhalb der europäischen Literatur, das habe schon Milan Kundera gesehen, jener berühmte Tscheche, der das Wüten der Sowjets im eigenen Land erlebte. Aber im Westen habe man ihn niedergeschrien, als er das sagte. Sie schreibt sogar, die Invasion vom 24. Februar sei „reines Dostojewskitum“ gewesen, die Explosion „reiner destillierter Bösartigkeit, eines lange unterdrückten historischen Neids und Hasses, verstärkt durch das Gefühl absoluter Straflosigkeit.“

Die Entgegnung des russischen Exil-Schriftstellers Michail Shishkin im zweiten Link wirkt dagegen reichlich blass, ihr müsst sie selbst lesen.

Ich konnte diese Aussagen von Sabuschko zunächst überhaupt nicht akzeptieren, ich gestehe: Ich verstand kaum, was sie mir sagen wollte. Ich meine, ich verstand und verstehe den Hass der Ukrainer auf die Russen – aber noch schwankte ich an manchen Tagen selbst Richtung mildem Putin-Verstehertum. Wahrscheinlich, weil ich mich einfach zu sehr vor der Alternative fürchtete: dass Sabuschko recht haben könnte, zumindest mit ihrer Darstellung von Putins Russland. Wenn man den Mann verstünde, dachte ich, könnte man mit ihm verhandeln und gut ist. Aber an anderen Tagen sah ich klar, dass das nicht geht. Und ahnte, was das für uns alle bedeutet – und wie sehr uns der grinsende Teufel im Kreml zum Narren gehalten hat.

Die Ereignisse der vergangenen Woche haben Sabuschko, was die Politik betrifft, leider Gottes mehr als Recht gegeben. Das heisst: Ich fürchte mich jetzt immer noch, aber ich weiss wenigstens besser, wo ich dabei stehe. Und nach und nach veränderte das auch meine Lektüre von „Der Idiot“. Doch dazu dann später mehr.

 

 

Das Zimmer mit dem Samowar

Die Frauenklinik ist ein Bau aus den Neunzigerjahren mit kühlem Design und sterilen Materialien. Sicherlich könnte man das ganze, dreistöckige Haus in einem Tag von Grund auf desinfizieren. Nur das Wartezimmer der Mammografie ist anders. Hier ruht man auf Sitzpolstern aus Wolle, es ist ein Wohlfühlzimmer wie auch Psychotherapeutinnen sie haben. Ein Zimmer, in dem Ängste in weichen Materialien ihre Schärfe verlieren. Auf einem Tischchen steht ein Samowar mit Teegläsern. Das lässt an warmherziges Beisammensein denken, aber mir ruft es meine verlorenen Freunde in Russland in Erinnerung. Ich habe viele Jahre keinen Kontakt mit ihnen gehabt. Ich weiss nicht, wo sie jetzt stehen. Ich möchte sie per E-Mail fragen und weiss nicht, wie ich anfangen soll.

Ängste habe ich sonst keine. Das hier ist eine reine Routine-Untersuchung, bei mir ist alles in Ordnung. Ich lasse mich abholen, in die Röntgenmaschine spannen und verrenke mich geduldig. Dann will ich weggehen und mich wieder anziehen, da ruft die Röntgenassistentin mich zurück. Sie spannt meine Brüste nochmals in die Maschine, diesmal tut es etwas weh.

„Machen Sie das immer?“ frage ich.

„Nur, wenn wir eine kleine Verdickung feststellen“, sagt sie. Ich bin nicht sicher, was eine „kleine Verdickung“ ist, aber ihr Ton ist derart beschwichtigend, dass mir sofort klar ist: Ich sollte alarmiert sein.

Im nächsten Zimmer macht eine Ärztin einen Ultraschall. Auch sie spricht von „einer Verdickung“, aber was es genau ist…, „das werden wir herausfinden“, sagt sie. „Jetzt gehen Sie mal nach draussen und machen einen Termin für eine Stanzbiopsie aus. Die werden wir analysieren, dann wissen wir es.“ Eine Stanzbiopsie. Die Sprache der Medizin! Beinahe beginne ich zu lachen. Ich bin doch kein Stück Leder!

Versteht mich bitte richtig, ich will niemanden kritisieren, diese Frauen machen ihren Job, sind freundlich und wollen mein Bestes, und wahrscheinlich rechnen sie damit, dass ich mich aufrege, damit könnten sie umgehen. Aber ich rege mich nicht auf, ich meine: Nicht weit von hier ist Krieg, und darüber rege ich mich so sehr auf, ich weiss gar nicht, wo ich noch Platz habe für Aufregung über eine „Verdickung“ in der Brust.

Später am Abend spüre ich dann „die Verdickung“ oder meine jedenfalls, sie zu spüren. Sie fühlt sich an wie das, was meine Mutter gehabt hat. Man nannte es damals „einen Knoten“, und es war Krebs. Das war vor 30 Jahren, dieses Jahr wird sie 80 und ist bei guter Gesundheit.

Die Stanzbiopsie ist gleich am nächsten Tag, aber dann muss ich vier Tage warten.

Als mein Handy klingelt, sitze ich im Büro, auf meinem Schirm flimmern Bilderfluten aus der Ukraine und meine Kunden dreschen verbal aufeinander ein – hier die Putin-Versteher, da alle anderen, die Trennung verläuft wie meistens, ziemlich genau am linken Rand der SVP. In Europa ist Krieg, aber Einigkeit in der Schweiz? Vergiss es. Mein Handy klingelt sonst nie, deshalb weiss ich, dass es die Ärztin ist und frage mich, ob ich jetzt lieber im Samowar-Zimmer mit ihr sprechen möchte. Wahrscheinlich nicht. Ich will es einfach wissen.

Ihre Stimme dringt durch den Tinnitus: „Sie haben Brustkrebs“, sagt sie, und dann nochmals, sie weiss, dass ich schlecht höre. „Sie haben Brustkrebs.“

Ich stehe da und sage: „Ja, ich habe sie gehört. Ich habe verstanden.“

Klappe halten

Hiermit künde ich an, dass ich nun mal eine Weile die Klappe halten werde. Ich meine: Es gibt im Moment rein gar nichts zu sagen. Soll ich etwa Entsetzen über das bekunden, was Putin mit der ukrainischen Bevölkerung macht? Natürlich bin entsetzt, aber diese Entsetzensbekundungen sind doch längst zum Feigenblatt der Putin-Versteher geworden. Sobald sich diese feinen Damen und Herren ihre Entsetzensbekundung gut sichtbar montiert haben, entblössen sie sich rundum mit „Ja, aber…“-Sätzen. Also: Ich trage lieber Kleider und bin einfach froh, dass die Schweiz jetzt unbürokratisch Flüchtlinge aufnehmen will.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas über den Krieg schreiben? Närrisch, wir haben ja alle keine Ahnung.

In den sozialen Medien oder hier irgendwas anderes schreiben? Idiotisch.

Demonstrieren? Das mag uns guttun. Aber Putin lacht.