Glücklich

Er lächelte, ich auch.

Am vergangenen Samstag, 14.15 Uhr, packte ich meine Kamera ein und eilte an die Strassenfasnacht. Ich liess mich von der Menschenmenge treiben und knipste. Und lächelte. Und knipste. Schaltete die Hörgeräte aus und hörte nur noch ferne Rhythmen, keinerlei Lärm. Nach einer Stunde wusste ich: Ich bin genau jetzt der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich muss gar nichts. Ich muss keinen Mann suchen, der sich mir an den Hals wirft wie als ich 16 war. Ich muss nicht meine Kreativität unter Beweis stellen wie mit 22. Ich muss die Fasnacht nicht zu meinem Beruf machen und tagelang konfettibedruckte Seiten zutexten wie mit 35. Ich kann genau das tun, was ich an der Fasnacht am liebsten tue. Ich kann zuschauen und diese leicht surrealen Momente geniessen, in denen der Alltag dem Ausnahmezustand weicht – oder umgekehrt.

„Verkauf bitte meine Bitcoins, und zwar sofort.“

Bei der Brücke steht ein unten als Clown verkleideter Mann – und spricht oben so dringlich ins Handy, als würde er zu seinem Gesprächspartner sagen: „Bitte verkauf meine Bitcoins, und zwar sofort!“ Oder da sind diese beiden kleinen, drahtigen Frauen im kleidsamen Matrosenkostüm. Ihnen winken zwei aufwändig und wunderschön herausgeputzte Piraten in mittleren Jahren zu – „hallo, winkt doch zurück, wir sind schliesslich auch in der Hochseeschifffahrt tätig!“ Ich konnte sehen, wie die beiden Frauen nicht sicher waren, ob sie belästigt wurden, oder ob es einfach Spass war. Sie entschieden sich nach kurzem Zögern für „einfach Spass“ und winkten zurück. Ich schaute und hatte keine einzige Sorge auf der Welt. Und als mir nach einer Stunde das Gedränge unangenehm wurde, konnte ich einfach nach Hause gehen und ein Buch lesen – und das war dann auch schön.

Die 1A-Sehenswürdigkeit von Luzern

Die Kapellbrücke mit Wasserturm (Quelle: Wikipedia).

Unsere Stadt ist mit rund 83000 Einwohnern eher klein, und so gelangt man schnell zu ihrer Hauptsehenswürdigkeit: der Kapellbrücke mit Wasserturm (hier und hier sämtliche Facts über das Bauwerk). Die Leute kommen in Scharen und aus aller Welt, um sie zu sehen. In Luzern ist der Tourismus der wohl wichtigste Wirtschaftszweig und wird mit einem aufwändigen Marketing gepflegt. 2019, im Jahr vor der Pandemie, hatten wir hier 7,3 Millionen Tages- und 1,4 Millionen Übernachtungsgäste. Vor der Pandemie war bei uns auch dann und wann von Overtourism die Rede.

Der Tourismus bringt Geld und Menschen aus Asien, aus Amerika, aus aller Welt in die Stadt. Das hat auch sein Gutes, und so nehme zumindest ich ihn mit einem Achselzucken. Schon als Teenager habe ich jedoch Karikaturen von beleibten US-Touristen gezeichnet und als junger Mensch strebte ich danach, keine Massentouristin zu sein, egal, wo ich hinging. Als mein 18-jähriger Gottenbub mich im Sommer gegen Ende der Fahrt im London Eye allen Ernstes fragte: „Haben wir jetzt alle wichtigen Sehenswürdigkeiten gesehen?“, war ich schockiert. Ich habe als junger Mensch fremden Städten immer etwas anderes gesucht als das, was schon alle anderen mit ihren Augen abtasteten.

Wohl deshalb hat die Kapellbrücke mich lebenslang eher gelangweilt. „Schon wieder diese Brücke auf einem Plakat, Flyer, Logo und, ach, schon wieder dieses langweilige Blau rundum!“ Für mich ist sie einfach ein Verkehrsweg. Dass sie seit bald 700 Jahren dasteht – geschenkt. Weil sie die Reuss schräg überquert, ist sie die kürzeste Verbindung vom Büro nach Hause. Da nerven manche Gäste schon, wenn sie weltvergessen Gruppenbilder knipsen, dabei die Brücke in ihrer ganzen Breite besetzen und gar nicht merken, dass da, bitte sehr, eine Einheimische passieren möchte.

Das alles änderte sich während der Pandemie. Als ich am Montagmorgen, 16. März 2020, in das hölzerne Gewölbe über dem Fluss trat, fand ich es zum ersten Mal überhaupt um 9 Uhr morgens leer vor. Einfach leer. Später an jenem Tag begann der erste Lockdown.

Die Kapellbrücke zu Beginn des ersten Lockdowns an einem gewöhnlichen Montagmorgen.

Von da an war unsere Altstadt ein paar Monate lang gespenstisch still. Im Juli und August wurde sie dann von Schweizer Tagesreisenden gestürmt. Und dann hatten wir einen Winter lang Zeit, unsere alte Stadt mit neuen Augen zu sehen. Haben wir das auch getan? Ja, dann und wann, ich jedenfalls.

Und doch: Monate später, vielleicht im Herbst 2021, entdeckte ich bei der Brücke ein asiatisches Grüppchen vielleicht drei, vier Leute, und ich sagte zu Herrn T.: „Oh, guck mal, es kommen wieder Touristen!“ Ich habe mich richtig gefreut.

Die Kirche mit dem frechen Turm

Die evangelisch-reformierte Lukaskirche als Neubau mit bescheiden gewordenem Turm, 1935.

Man könnte eine dreistündige Stadtführung durch die berühmtesten Kirchen der Stadt Luzern machen: die hochehrwürdige Hofkirche, die 1178 ganz am Anfang der hiesigen Stadtwerdung stand. Die Franziskanerkirche, die seit dem 13. Jahrhundert die Nordwestpforte zur Innenstadt ist. Die Jesuitenkirche, erbaut 1677, mit einer geradezu orgiastischen Innenausstattung – ein seltsamer Widerspruch zur asketischen Welthaltung ihrer Erbauer. Alle drei Gotteshäuser haben eines gemeinsam: Sie sind katholisch. Das ist wenig erstaunlich, denn die Reformation fand in Luzern gar nicht statt. Erst mit der Industrialisierung kamen Reformierte hierher.

Der ersten grossen evangelisch-reformierten Kirche der Stadt schenken wir hier auf dem Weg in die Altstadt unsere Aufmerksamkeit: der Lukaskirche. Sie wurde 1935 eingeweiht. Und sie erzählt eine Geschichte, die heute noch zu uns spricht: eine Geschichte von Zuwanderung, Diskriminierung und Verbohrtheit. Die Reformierten waren in der Zentralschweiz bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unbeliebt. Noch im Jahrhundert davor, 1847, hatte man einen Bürgerkrieg gegen die fortschrittlicheren, reformierten Kantone verloren. Und nun wollten Reformierte hier eine Kirche bauen, noch dazu nach einem kühnen, modernen Entwurf! Mit einem Turm, der höher gewesen wäre als jene aller umliegenden katholischen Gotteshäuser! Und mit einem kraftvollen Glockenspiel! Eine Frechheit! Es gab Einsprachen. Es wurde verhandelt. Schliesslich gaben die Kirchenbauer nach und machten den Turm ein Stockwerk kürzer.

Die Geschichte zeigt auch, wie lachhaft solche Ressentiments später aussehen können. Denn ob katholisch oder reformiert: Beide Religionsgemeinschaften sind heute kaum noch relevant. Beide pflegen gerne die Ökumene, um etwas mehr Leute in ihre Häuser zu bringen. Die katholische Kirche wird zudem gerade von einem Missbrauchsskandal durchgeschüttelt, der sogar ehemals sehr treue Schäfchen in Scharen davonlaufen lässt. Auch die evangelisch-reformierte Landeskirche schrumpft. Gewachsen sind nur die Bäume, die links und rechts des Portals der Lukaskirche stehen und den Ort heute still und in sich versunken wirken lassen.

Das Portal der Lukaskirche im Vögeligärtli an einem Samstag im November 2023.

Quelle für diesen Beitrag ist unter anderem das Buch „Hirschmatt Neustadt Luzern“ von Stefan Ragaz, Hrsg. Quartierverein Hirschmatt-Neustadt Luzern, 2022

Erinnerungen an meine Stadt: Das Kino Capitol

Ein historisches Bild des Kinos Capitol, ungefähr aus dem Jahre 1976. Die Leuchtreklame ist nicht mehr am gleichen Ort, sonst sieht heute vieles gleich aus. Nur hält der Mann im Vordergrund mit Sicherheit keinen Starbucks-Becher, sondern wahrscheinlich eine Zigarettenpackung. (Quelle: zentralplus.ch)

Am östlichen Ende des Cervelat-Palasts steht das Kino Capitol. Es ist das mittlerweile letzte Kino innerhalb der Stadtgrenzen für die Blockbuster aus Hollywood. Alle anderen Luzerner Multiplexe stehen heute in der Agglomeration, wohl wegen der Parkplätze. Das Kino Capitol aber steht an seinem Ort, seit ich mich erinnern kann. Es hat meine Vorstellung, wie ein Kino auszusehen hat, entscheidend geprägt. Aktuell im Programm unter anderem: „Napoleon“ und „Gran Turismo“.

Ich gehe davon aus, dass unsere Familien-Erinnerung an das Kino Capitol mehr als 80 Jahre zurückreicht. Denn meine Grosseltern Walholz selig haben es sehr wahrscheinlich in den frühen Jahren des Zweiten Weltkriegs ein paarmal aufgesucht. Sie lebten im nahen Bergkanton, in dem auch die Pilgerstätte unseres Nationalheiligen Bruder Klaus liegt. Das Paar war damals erst verlobt, und meine fromme Urgrossmutter liess ihre Tochter ungern am Sonntagnachmittag mit dem lebenslustigen Eugen losziehen. „Da haben wir dem Mueti jeweils einfach gesagt, wir würden zum Bruder Klaus pilgern. Und dann fuhren wir mit dem Velo nach Luzern ins Kino“, erzählte meine Grossmutter einmal. Auch wenn sie nicht erwähnte, welche Lichtspielhäuser sie damals aufsuchten – das „Capitol“ muss einfach dabei gewesen sein, es wurde 1932 eröffnet und war für lange Zeit ziemlich sicher der grösste Freizeitpalast der Stadt.

Mein erster Besuch im gleichen Etablissement war lebensprägend. Als ich sieben war, gab es dort Nachmittagsvorstellungen für Schulklassen. Dann wurden aufs Mal mehrere hundert Schulkinder in das enge Foyer getrieben wie Schafe in einen zu kleinen Stall. Ich erinnere mich heute noch an den Lärm und das Gedränge und meine Panik, und damals hörte ich noch gut. Jedes Kind hatte ein Plastiktäschchen mit einem Zweifränkler oder Fünfliber* dabei. Als ich an die Kasse kam, konnte ich das Täschchen nicht schnell genug finden, oder ich zückte die falsche Münze. Jedenfalls keifte mich das Fräulein an der Kasse an. Der Vorfall liess jenen Verdacht weiter spriessen, der schon seit meinen ersten, wenig beglückenden Turnstunden in mir keimte: Ich war weniger geschickt als die anderen, weniger gruppentauglich und vielleicht überhaupt nicht ganz normal. Ich habe dieses Bild von mir ein Leben lang kultiviert, manchmal mehr, manchmal weniger, war immer etwas schüchtern und neigte zu den Rändern des grossen Geschehens.

Trotzdem oder gerade deswegen ging ich jahrelang oft zwei- bis dreimal die Woche ins Kino. Ich gehörte eher zur Arthouse-Szene, aber ich verschmähte das „Capitol“ nicht. Wenn ich die Kassenreihe links im Foyer sehe, fällt mir heute noch mein Kindheitserlebnis ein. Zuletzt war ich dort mit meiner Patentochter Carina, in einer Pandemie-Pause 2020 oder 2021. Ich erinnere mich nicht an den Film, sehr wohl aber an den erstaunlichen Popcorn-Appetit der 15- oder 16-jährigen Carina.

Ja, die Pandemie. Leider ist sie nicht spurlos am Kino Capitol vorbeigegangen, ausserdem spürt der alte Filmpalast die Konkurrenz der Multiplex-Kästen in der Agglo. Und dann gibt es grosse Baupläne für das Areal. Laut aktuellen Berichten schliesst das Lichtspielhaus 2027.

*Fünffranken-Münze

 

 

 

Spaziergang in meiner Stadt – der Wurstpalast

Die Lesung am vergangenen Dienstag in der Loge war eine freudige Sache. 30 oder 40 Leute waren da, die Stimmung bestens, die Beiträge der sechs Lesenden alle auf ihre Art inspirierend. Jetzt sollte ich überlegen: Wie mache ich, wie machen wir weiter? Aber das Eisen zu schmieden, wenn es heiss ist, ist nie meine Stärke gewesen. Lieber lasse ich mein dichterisches Werk liegen, mache ein Spaziergängli und widme mich einem neuen Blog-Projekt: einer Tour in meiner Stadt Luzern.

Ganz von ungefähr kommt die Idee nicht. Unsere englischen Freunde, die Hooligans, haben sich über die Neujahrstage zu einem Besuch angemeldet. Die beiden haben uns im Sommer eine derart eindrückliche Führung durch die Stadt Lincoln kredenzt, dass ich ihnen alles mitgeben möchte, was ich über meine eigene Stadt weiss, persönliche Anekdoten und unsere grosse Tourismusfolklore inklusive. Ich lasse Euch daran teilhaben, weil ich beim Bloggen gut denken kann. Und weil ich hier ausprobieren möchte, was gefällt.

Die Tour beginnt wenige Meter von unserer Haustür entfernt. Dort steht ein markantes Gebäude, das oft „der Cervelat-Palast“ genannt wird.

Der Cervelat-Palast, vom Bundesplatz aus gesehen, im November 2023.

Die Cervelat ist gewissermassen unsere Schweizer Nationalwurst. Für kulinarisch Interessierte weiss Wikipedia viel mehr über die preisgünstige Siedewurst als ich. Als ich ein Kind war, assen wir Cervelats oft roh oder aus der Bratpfanne. Und die Wurst gehörte obligatorisch an den Stecken, den wir auf der Schulreise übers Brätelfeuer im Wald hielten. Warum sie dem Haus am Bundesplatz seinen Spitznamen gegeben hat, darüber sind schon allerlei Überlegungen angestellt worden. Vielleicht liegt es an den vielen Rundungen. Es kann aber auch sein, dass die Mieten für die Verhältnisse der fünfziger Jahre so hoch waren, dass die Mieterschaft häufig Cervelats ass.

Ich überlege noch, ob ich den englischen Freunden zwecks Anreicherung der Anekdote mal Cervelat zubereiten sollte. Als augenzwinkerndes Budget-Menü nach dem Galadiner am 1. Januar vielleicht? Mit Kartoffelsalat könnte das hinkommen.

Das Wichtigste am Cervelat-Palast ist auf dem Bild oben nicht zu sehen: das Kino Capitol. Ihm wird mein nächstes Beitrag gewidmet sein.

 

In eigener Sache

Falls jemand von Euch am kommenden Dienstag, 14. November, in Luzern sein sollte: Ich lese am Abend in der Loge Luzern an der Moosmattstrasse 25 drei kurze Texte. Die Veranstaltung heisst „Anlesen“ und bietet literarischen Neulingen einen recht intimen Rahmen, ihre Texte und literarischen Experimente präsentieren könnten. Wir werden zu sechst sein, ich kenne nur eine der ebenfalls lesenden Personen, Astrid von Rotz. Wir beide werden Text zum Thema Schwerhörigkeit vorlesen. Was die anderen machen? Da bin ich auch neugierig. Mehr Infos hier;

Loge – Deine Literaturbühne (logeluzern.ch)

 

Fliegen beim Lesen

Hier werde ich über einen Roman schreiben, den nur die allerwenigsten von Euch lesen werden – weil er in einer Sprache geschrieben ist, die die nur wenige von Euch beherrschen: Luzerndeutsch. Ich tue es trotzdem, weil die Lektüre für mich geradezu berauschend war (wenn auch vielleicht nicht so, wie sich die Hauptfigur der Geschichte Berauschtheit vorstellt, aber dazu komme ich noch). Der Roman heisst „Provenzhauptschtadt“, der Autor Béla Rothenbühler. Und der Text beginnt so:

„Ech wörd ned met Schwalben aafo, wenn ke Schwalben ome gsi wärid. Aber: De ganz huere Hemel voll Schwalbe. Schwalbebüüch ond Schwalbeschwänz, wo äifach so omesäglid, voll äis metem Wend, Termik total im Körpergfüel.“ (S. 8)

Heisst auf Hochdeutsch: „Ich würde nicht mit Schwalben anfangen, wenn keine Schwalben dagewesen wären. Aber: Der ganze verdammte Himmel voller Schwalben. Schwalbenbäuche und Schwalbenschwänze, die einfach so herumsegeln, voll eins mit dem Wind, Thermik total im Körpergefühl.“ Als ich das las, fühlte ich mich selbst wie eine Schwalbe, die vom kargen Boden des Hochdeutschen ins Element ihrer Muttersprache gewirbelt wird. Ich hörte den Erzähler geradezu labern, sehe ihn gestikulieren in einer Beiz, mit seinen Kollegen. Ich kann das Bier riechen. Mein Leben lang habe ich eine Sprache gesucht, die manche meiner Geschichten erst richtig zum Fliegen bringen könnte. Das wäre diese Sprache.

Ich muss einräumen, dass es dazu auch andere Meinungen gibt. Arno Renggli, der Rezensent der „Luzerner Zeitung“, beurteilte den Dialekt als „echtes Hindernis“ beim Lesen. Nun ja, vielleicht fehlte ihm auch einfach die Bereitschaft, sich der Thermik dieser Sprache anzuvertrauen. Hat man als Muttersprachler diesen Moment des Zögerns hinter sich, ist es ganz einfach. Renggli benannte auch gleich den kommerziellen Haken am Projekt „Luzerndeutscher Roman“: „Eine gute Story ist eine gute Story, was braucht es da das Handicap des Dialekts, das des Autors Absatzchancen ja auch noch geografisch einschränkt?“ (Ausgabe vom 15. Februar 2021). Da hat er freilich recht: Der Markt für Luzerndeutsche Literatur ist wohl winzig.

Aber erzählt „Provenzhauptschtadt“ auch eine gute Story? Nun ja, nicht so richtig. Eigentlich scheitert sie schon an ihrem Titel. Dieser behauptet, dass sich das Buch mit der Provinzialität im Allgemeinen und der Luzernischen Provinzialität im Speziellen auseinandersetzt. Aber der Ich-Erzähler bleibt bei jeder Gelegenheit, sich in dieses Thema zu vertiefen, vollkommen vage. Er bleibt überhaupt bei jedem Thema vollkommen vage. Er behauptet zwar, „Fermepsücholog“ zu sein – also Firmenpsychologe. Da müsste er doch auch ein wenig an Menschen interessiert sein, vielleicht wenigstens an seinen WG-Kollegen, mit denen er nächtelang bechert. Ist er aber nicht. Nicht einmal die Frau, in die er verliebt ist, interessiert ihn so richtig. Vielleicht liegt es daran, dass gerade Sommer ist und Fussball-WM und alle immer ein bisschen betrunken oder bekifft. Oder will die Geschichte uns sagen, dass Provinzmenschen im Allgemeinen vage denken und beziehungsunfähig sind? Das wäre nun ein Vorurteil, dem ich Deutsch und deutlich widersprechen muss.

Der Roman beginnt sommerlich melancholisch und endet mit einem üblen Kater. Er wird wohl keine neue Literaturtradition begründen, und auch ich werde in meinem Blog weiterhin auf dem Boden des Hochdeutschen bleiben, schon wegen Euch Leserinnen und Lesern. Von meinem stillen Kämmerchen aus aber werde ich wohl ab und zu die Schwalben fliegen lassen und ein bisschen mit dieser Sprache experimentieren.

Béla Rothenbühler: „Provenzhauptschtadt“, Verlag Der gesunde Menschenversand, Luzern, 2021

Heimweg

Nachtrag zu meinem gestrigen Beitrag: Bis am Abend blieb ungewiss, ob die Feuerwehr die Seebrücke schliessen würde oder nicht. Die Pegelstände waren hart an der Grenze. Ich beschloss, lieber gleich über die St. Karlibrücke zu gehen. Der Weg führt durch Quartierstrassen, die vom Hochwasser unberührt sind – als ob nichts wäre. In den Gärten wuchert es dort in allen Farben. Wunderschön.

Für heute sind weitere Regengüsse angesagt. Am Sonntag soll dann endlich die Sonne wieder richtig scheinen.

Wasserstandsmeldung

Schwanenplatz
Schwanenplatz Luzern, heute morgen, 9.10 Uhr

Hier wartete ich auf dem Weg zur Arbeit auf den Bus. Das Bild zeigt die Bootsvermietung, die nun den zweiten touristenlosen Sommer erlebt. Ja, der Wasserpegel ist wieder gestiegen. Gestern leckte der See hier nur am Randstein. Jetzt umarmt er innig zwei Meter des Trottoirs.

Ein melancholischer Anblick – aber harmlos im Vergleich zu dem, was in der Eifel passiert ist. Ich denke an jene, die dort den ganzen Horror ausser Kontrolle geratener Wasserfluten erlebt haben.

Dann kommt mein Bus.

Was ich kurz nach neun Uhr noch gar nicht wusste: Seit 8.46 Uhr sind die Fussgängerbrücken im Stadtzentrum gesperrt: Kapellbrücke, Rathaussteg, Reussbrücke, Spreuerbrücke (Quelle: luzernerzeitung.ch). Es tröpfelt wieder. Nicht auszuschliessen, dass die Seebrücke auch gesperrt wird. Dann gibt es ein Verkehrschaos. Und ich werde mir überlegen müssen, wie ich nach der Arbeit nach Hause komme. Geöffnet sind dann noch die Geissmattbrücke und die St. Karlibrücke reussabwärts. „Die Geissmattbrücke geht immer“, sagt mein Mann, sagt auch der Pedestrian. Aber etwas mulmig ist mir trotzdem.

Spaziergang im Starkregen


Heute Morgen, 9.30 Uhr, Unter der Egg in Luzern. Normalerweise kann man auf den quer gelegten Baumstämmen sitzen und gemütlich die Beine Richtung Reuss strecken, ohne nasse Füsse zu bekommen. Weiter oben: Sandsäcke, in Plastik verpackt.

Wasser trommelt auf meinen Schirm, Tropfen fallen mir auf die Hände und Beine. Pitschpatsch. Pitschpatsch. Ich gehe heute zu Fuss zur Arbeit, ich will den Wasserpegel an der Reuss sehen. 40 Minuten bis ins Büro. Pitschpatsch. Ich mag Regenspaziergänge, aber das hier ist mehr als Regen. Die Tropfen fühlen sich dickflüssig an, sie tippen mich an wie wütende Finger. Es regnet seit Wochen. Nicht ununterbrochen, manchmal scheint einen Tag lang die Sonne. Doch schon in der Nacht danach beginnt der Himmel wieder, ein Meer über uns auszuleeren.

Nachrichten von drohenden Überschwemmungen beobachte ich mit einer Mischung aus Sorge und Sensationslust. Wir leben hier in einem Regenloch. Mit meinen 56 Jährchen kann ich mich an Dutzende Unwetter erinnern, auch an Katastrophen: 2005 wurde die Kleine Emme über Nacht ein wütender Strom. Ihre braunen Fluten rissen Strassen mit und überschwemmten ganze Vorortsquartiere. Das war das Jahrhunderthochwasser. 2015 tötete ein zum Sturzbach gewordenes Rinnsal im Dorf Dierikon eine Frau in einem Keller. Trotz all dem wecken solche Ausnahmezustände oft auch Heiterkeit. Sie heben die ungeschriebene Regel auf, dass man in der Stadt nicht mit Fremden spricht. Plötzlich entdeckt man den Galgenhumor Unbekannter.

Aber jetzt ist kaum jemand unterwegs, obwohl Markttag ist. Am Reussufer liegen Sandsäcke, bedeckt von grünlichem Plastik. Bald wird der Fluss über die Ufer treten. Ich mache ein paar Bilder und schaue, dass ich weiterkomme. Pitschpatsch. Im Geschäft angekommen, klebt mir das Haar an der Stirn, und meine graue Hose ist schwarz vor Nässe bis zu den Knien.

In den Ferien im Juni haben wir zugeschaut, wie der Hagel eine weisse Decke auf die Strassen von Les Bois im Jura legte. Wenig später gab es auch in Luzern ein Hagel-Grossereignis. «Die hohe Zerstörung, welche das Gewitter anrichtete, war selbst für Experten unvorstellbar», schrieb die Gebäudeversicherung. Sie verzeichnete 12000 Schadenfälle und 150 bis 200 Millionen Franken Schaden. Ganze Häuserzeilen sind unbewohnbar, weil der Hagel die Dächer zerstörte. Die Rede ist vom «grössten Elementarereignis seit 16 Jahren». Beim Jahrhunderthochwasser von 2005 beliefen sich die Schäden im Kanton Luzern auf rund 590 Millionen Franken (Luzerner Zeitung vom 6. Juli).

Um 16 Uhr gehe ich nach Hause, auf dem gleichen Weg. Es regnet sanft. Auf der Brücke stehen Männer und fotografieren den Pegelstand. Er ist höher als am Morgen. Vor dem Theater Feuerwehrautos. Die Wetterprognose für die nächsten Tage: Regen, Regen, Regen.