Schweizerdeutsch 53: Wenn die Nebel sich lichten

  1. Es tuet uf

Standarddeutsch: «Es macht auf». Sinngemäss: Der Nebel – oder die Wolken – lichten sich. «Es» ist dieser formlose Raum um und über uns, in dem unser Wetter stattfindet. Wie in «es regnet» oder «es schneit»).

Das ganze schweizerische Mittelland liegt in diesen Tagen am Grund einer dicken Nebelsuppe. Wie so oft im Herbst und Winter. Es ist die Zeit, in der wir uns unserem täglichen Kleinklein widmen, hektisch, konzentriert, verbohrt, von früh morgens bis spät abends. Was sollen wir auch ins Weite schauen? Es gibt dort doch gar nichts zu sehen! Immerhin: Vor einer Woche hatte ich einen fast freien Nachmittag. Ich machte mich auf nach einem Ort namens Vogelsang. Zuerst kam ich zur Bank unter der riesigen, gelbbelaubten Eiche und dem Wegkreuz beim Seehof. Ich setzte mich hin. Es war 15.30 Uhr. Jemand hatte die Jesusfigur über mir frisch angemalt. Sie hängt da, reglos und hellrosa. Da lichtete sich der Nebel, die Sonne beschien das Eichenlaub und die Jesusfigur. Eine halbe Stunde später war ich im Vogelsang. Dort sah ich diesen einen, sündhaften Apfel.

Schweizerdeutsch 49: Wenn vertraute Sprache plötzlich rassistisch ist

E Tonkle (N, m)

Standarddeutsch: „Ein Dunkler“, eine Personenbeschreibung. In meiner Familie verwies sie immer auf die Haarfarbe einer Person, denn praktisch alle Menschen, die wir kannten, waren ohnehin weiss. In jungen Jahren war ich selbst mit meinen dunklen Haaren trotz Schneewittchenteint „e Tonkli“. Man konnte das auch auf der Strasse sagen, es wurde verstanden.

Aber die Welt verändert sich und mit ihr die Sprache. Vor wenigen Jahren hatte ich einen Kollegen, nennen wir ihn Riza. Er hat dunkle Hautfarbe und ist fast immer liebenswürdig und humorvoll. Damals ass ich an an guten Tagen noch in der Cafeteria mit den Kollegen, Riza war jeweils auch am Tisch. Ich wollte einer neuen Kollegin erklären, wie unser  Kollege Albin aussah, ein immer seltener auf der Redaktion auftauchender Kollege mit langen Haaren und bleichem Gesicht. „E Tonkle“, sagte ich.

Riza war gerade in einer anderen Konversation beschäftigt, aber nun schoss er herum und starrte mich ungläubig an: „Was sagst Du da?! E Tonkle?!“ Er teilte mir unmissverständlich mit, dass das eine abwertende Bezeichnung für Schwarze sei.

Nun hätte ich in Protesthaltung verfallen können, weil Riza mich vor versammelten Kollegen zurechtgewiesen hatte – obwohl ich nicht die geringste Absicht gehabt hatte, etwas Böses zu sagen. Ich könnte wehklagen, weil ein mir vertrautes Wort nun nicht mehr verwendbar ist. Ich könnte quängeln und darauf beharren, das Wort immer noch im alten Sinn zu verwenden. Aber, hey, es sind junge Menschen herangewachsen in diesem Land, ihnen gehört die Zukunft (worum ich sie nicht nur beneide), und einige von ihnen sind Schwarz. Würde ich ihnen Steine in den Weg legen, dann wäre ich eine wehleidige, grauhaarige, alte Schachtel: „E Graui“ vielleicht sogar: „e Gröiel“ – ein Gräuel.

Schweizerdeutsch 48: Ein Feiertag

Maria obsi (Eigenname und Adverb)

Jugendslang der späten achtziger Jahre für den Standarddeutsch als Mariä Himmelfahrt bezeichneten katholischen Feiertag am 15. August.

Wir haben im Kanton Luzern ja diese Feiertage, deren Sinn niemand mehr kennt: Fronleichnam, Mariä Empfängnis, Mariä Himmelfahrt. Sie sollen wohl zur inneren Einkehr und Besinnung rufen. Aber als ich jung war, besann ich mich nur auf sie, wenn ich an ihrem Vorabend um 17 Uhr unerwartet vor verschlossenen Lebensmittelladentüren stand. Dann musste ich in den Tankstellenshop oder ins Bahnhofshopping rennen, um überhaupt etwas zu essen im Haus zu haben. Oder im Restaurant einkehren, wenn denn ein offenes zu finden war. Frei hatte ich nie. Entweder arbeitete ich in einem reformierten Kanton, da existieren diese Feiertage nicht. Oder ich musste die Zeitung vom nächsten Tag machen, der ja jeweils wieder ein Werktag ist. In meiner Jugendclique nannten wir Mariä Himmelfahrt «Maria obsi», wobei «obsi» so viel wie «nach oben» bedeutet,  und es ist bezeichnend, dass das kein richtiges Deutsch ist, auch kein richtiges Schweizerdeutsch.

Am Vorabend des diesjährigen 15. August sass ich bei meinem Vater im Talgrund und sagte: «Morgen ist wieder so ein Feiertag, welcher nur?! Ah, Maria Himmelfahrt!» Er schaut mich an mit dieser steinernen Miene, die er jetzt hat, wenn ihm irgendetwas aus der Vergangenheit einfällt. Er sagt: «Wir nannten ihn Maria Flüguf!» – Maria Fliegauf! Ich überlege mir kurz, ob ich jetzt an flatternde Hühner denken soll. Dann entscheide ich mich für ein inneres Bild von einer weiss gekleideten Frau, die senkrecht wie eine Kerze dem blauen Himmel entgegenschwebt und stelle mir vor, wie schön es wäre, so nach oben zu sinken.

Schweizerdeutsch 45: Einen gangbaren Weg finden

De Rank fende

Standarddeutsch: Die Kurve kriegen, sinngemäss: in einer schwierigen Lebenslage oder mit einer mühsamen Person einen gangbaren Weg finden.

Franz Kurzmeyer 1991 (Quelle: Wikipedia).

Gestern Abend sahen wir „Von vielen Franz genannt“, über den liberalen Politiker Franz Kurzmeyer, der von 1984 bis 1996 Luzerner Stadtpräsident war. Letztes Jahr starb er mit 88 Jahren. Bei vielen älteren Semestern (auch mir) gehört er quasi zur Lebensgeschichte (ich habe im Film auch einen schattenhaften Drei-Sekunden-Auftritt in einem Nachrichtenbeitrag von 1995). Sie nennen Kurzmeyer im Streifen oft „Stadtvater“. Aber beleibt, wie er eben auch war, wirkte er manchmal wie die vor Lebensfreude fast überquellende Verkörperung der Stadt: Majestät, Naturgewalt und Saftwurzel.

Es waren die 80er-Jahre, auch Luzern hatte Wohnungsnot und eine offene Drogenszene. Aber Franz setzte nicht auf die Polizei, sondern liess sein soziales Gewissen walten. „Es ged so vell Lüüt, wo de Rank em Läbe ned fendid“, sagt er immer wieder in alten Interviews – Menschen eben, die im Leben nicht zurechtkommen. Man müsse auch ihnen etwas anbieten. Er brachte es fertig, dass solche Leute wenigstens nicht obdachlos wurden, sondern in besetzten Häusern Notmietverträge bekamen.

Der Film ist himmeltraurig (so viele alte Bekannte, die darin vorkommen, sind schon tot – besonders bei den Journalisten hat der Sensemann viel zu früh und viel zu reichlich geerntet). Aber er macht auch glücklich. Vielleicht auch deshalb, weil es – jedenfalls im Rückblick – in jenen Jahren so viel einfacher schien „de Rank z’fende“. Die Stadt war klein, man kannte einander. Wenn man ein Problem hatte, griff man zum Telefonhörer und musste sich nicht mit einem Chatbot herumschlagen, alles hatte seine Ordnung und die Stadtpräsidenten waren liberal, seit über hundert Jahren. Erst am Ende von Kurzmeyers Amtszeit fand seine Partei den Rank nicht mehr, sie wollte einen rechten Hardliner als Nachfolger für ihn. Das Volk aber wollte einen zweiten Franz, so kam es zum Rennen Studer gegen Studer. Der linksliberale Urs W. siegte, musste dafür aber aus der Partei austreten.

Flanieren und in den Armen von Werther landen

Vorstadt-Aphrodite in der Moosmatt.

Im Schaufenster des Coiffeurs d’Oro, an der Ecke zur Voltastrasse, sehe ich eine klassizistische Aphroditestatue sich räkeln. Da zieht mir ein Textfragment durch den Kopf wie eine Songzeile „… un confiseur: Aux armes de Werther“. Es ist Samstagmittag an der Moosmattstrasse. Hier, in der früheren Vorstadt von Luzern, sind rund um eine Kreuzung in letzter Zeit 100 oder 200 Einkaufsmeter mit Cachet entstanden. Die Ladenlokale wurden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erbaut, es gibt sogar noch einen Schuhmacher, gleich daneben die Blumensaison, an der Nummer 24 das Restaurant Moosmatt und, schräg vis à vis, das Schaufenster mit den gediegenen Polster- und Vorhangstoffen von Monig Z’Rotz.

Weil das alles so einen feierlich bourgeoisen Touch hat vielleicht, muss ich an jene Confiserie in Paris denken, die „In den Armen von Werther“ hiess. Der Name stammt aus einer Aufzählung von Ladengeschäften im Passagen-Werk* von Walter Benjamin. Durch dieses Buch flaniere ich gerade bezaubert (der Pedestrian hat mir geraten, es flanierend zu erforschen, vielleicht die einzige Art, in diesem umfangreichen Werk überhaupt vom Fleck zu kommen). Mit den Passagen sind die mit Glaskonstruktionen überdeckten Einkaufsarkaden des 19. Jahrhunderts in Paris gemeint. Benjamin erforschte sie, entdeckte in ihnen die Trugbilder des kapitalistischen Warenmarktes und später wurden die Fragmente seiner Überlegungen zu einem traumartigen Text gefügt und veröffentlicht.

Wer aber würde in den Armen von Werther liegen wollen, noch dazu bei einem Confiseur? Zu Hause stelle ich Nachforschungen an, und siehe da, es handelt sich tatsächlich um eine Songzeile – aus einer nach dem unglücklich liebenden Deutschen benannten Oper von Jules Massenet (hier mehr).

  • *Walter Benjamin: Das Passagen-Werk ; Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, edition Suhrkamp 1200, S. 84

Spazieren: Der Hauch der Erinnerung im Strassendorf

Neulich hörte ich auf, über die schwierige Sache mit dem Club der Flaneure und der Schwerhörigkeit nachzudenken. Ich stieg in Ebikon aus einem Bus und spazierte einfach los. Ebikon ist ein Strassendorf mit zahlreichen berotlichterten Übergängen, deshalb auch Amplikon genannt. An den Hängen stehen Neu- und Altbauten kreuz und quer wie wild parkierte SUVs an einem Grümpeltournier. Ich marschierte los und flüsterte: „Oh Agglo, offenbare Deine Geheimnisse!“ Aber der Ort blieb öd und verlassen.

Bis ich an die Strassenecke kam, an der einst Herr und Frau Nitroglyzerin  – kurz: Nitro – gewohnt hatten, in einem von der Bauwut vergessenen Bauernhaus. Hier pflegten die beiden in den neunziger Jahren einen Salon abzuhalten. Herr T. und ich waren oft dort. Es kamen allerhand Intellektuelle, zum Teil von weit her. Wir diskutierten über Paul Virilio, über Utopien und über die Genderfrage. Wir assen und rauchten und tranken und lachten, bis tief in die Nacht.

In den nuller Jahren mussten Herr und Frau Nitro dann doch ausziehen, das alte Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie zog in einen anderen Vorort, er verliess die Gegend ganz. Jetzt stehen dort gesichtslose Wohnblocks. Mir aber hauchte mit einem Mal aus dem Keller des Betonklotzes, der genau an der Stelle des alten Holzhauses steht, der dionysische Geist von damals entgegen. Er warf mich beinahe um. Ob dieser Geist abends auch in die Wohnungen der Menschen steigt, die in den neuen Häusern wohnen? Beschleicht sie nachts manchmal geistige Unruhe und eine seltsame schöpferische Gefrässigkeit? Hören sie ferne Stimmen über Paul Virilio reden? Riechen sie gar Wein? Oder – Gott bewahre! – Zigarettenrauch?

Ist die Erinnerung mächtiger, wenn man schwerhörig ist? Ich weiss es nicht.

Schweizerdeutsch 36: Zipperlein

Was emmer echli lödeled, lod ned.

Standarddeutsch: „Was immer ein wenig klapprig ist, geht nicht kaputt.“ Oder, sinngemäss: „Unkraut vergeht nicht!“ Ältere Leute brauchten diesen Aphorismus früher, wenn sie Zipperlein hatten und unsere Sorge um sie beschwichtigen wollten.

Was „lödele“ heisst, habe ich hier erklärt. Das Verb „lo“ brauchen wird, wenn ein Gebrauchsgegenstand kaputtgeht, zum Beispiel: Der Tragriemen meiner Tasche „hed glo“ – er ist abgerissen.

Ich möchte unbedingt auf den nicht ganz reinen Binnenreim „lödeled – lod“ hinweisen, der hier – vielleicht allzu zweckoptimistisch – einen Gegensatz zwischen klappern und kaputtgehen behauptet.

Schwerhörigkeit: Gefahren im Strassenverkehr 1

Es ist Aschermittwoch. Ich war vor 8 Uhr in einer Gasse im alten Teil der Stadt Luzern unterwegs. Der Lärm war beträchtlich, die Aufräumarbeiten nach dem gestrigen Massenbesäufnis in vollem Gang. Vor der Franziskanerkirche ging ich auf der linken Strassenseite. Die Stelle vor dem Portal ist eng, es gibt keinen Gehsteig, deshalb marschierte ich nahe an der Häuserzeile. Beim Restaurant an der engsten Stelle hatte jemand eben die Frontscheibe mit Seifenwasser abgespült, Schaum und Nässe lagen 70 Zentimeter breit auf der Strasse. Ob da jemand hingekotzt hatte? Ohne Kontrollblick nach hinten (ich glaubte mich in der Fussgängerzone) machte ich einen leichten Ausfallschritt nach rechts. Da zog ein grosser Kehrichtlastwagen wenige Zentimeter an meiner rechten Schulter vorbei.

Meine schwerhörige Bekannte Ursula hat einmal gesagt: „An so einer Stelle werden sie mich eines Tages unter einem Auto hervorziehen.“

Schweizerdeutsch 23: Auf dem Bauernhof

Zobig (N, m oder n)

Standarddeutsch wörtlich: „Zu Abend“, eine Zwischenmahlzeit.

Erläuterung: Wir Städter essen kaum noch Zobig, die Leute auf dem Land schon, meist so um 16 oder 17 Uhr. Auf dem Bauernhof wird nach dem Zobig noch gemolken, erst dann gibt es Znacht. Als ich ein Kind war, waren wir manchmal bei meinem Onkel auf der Winterweid zum Zobig. Dort war mein Vater aufgewachsen.

Es kamen alle, die dort wohnten, bei der Ernte geholfen hatten oder sonst gerade in der Gegend waren : „de Vatter“ (Grossvater), „de Onku Wiisu“ (Grossonkel Alois, der Knecht), Onkel Jakob, Tante Lisebeth oder Tante Theres, in den siebziger Jahren nach und nach drei kleine Cousinen und ein kleiner Cousin und wir vier aus der Stadt. Oft rumpelte auch noch Onkel Kari mit seinem alten Chlapf durch die Einfahrt, manchmal waren Handwerker da oder weitere Verwandte. Es konnte laut und fröhlich werden.

Die Leute kamen vom Heuen oder aus dem Stall, durch die Haustür direkt in die grosse Küche. Ein langer Tisch füllte den Raum, hinten links war „de Füürhärd“, die eiserne Feuerstelle, die zugleich Kochherd und Heizung war. Es gab Most, Brot und Käse aus der nahen „Chääsi“, „und weissen Kaffee“, erinnert sich mein Vater, also Kaffee mit Rahm von der eigenen Milch. „Anke“, also Butter, gab’s auch. „Aber damit waren sie sparsam“, sagt mein Vater heute. Und: „Überhaupt: Alles andere wäre Luxus gewesen.“

An der Decke hingen klebrige Fliegenfänger wie Zapfenlocken, Fliegen hatte es trotzdem, und unter dem Tisch tummelten sich Katzen jeden Alters, mehr oder weniger gesund. Ich liebte die Katzen.

Danke Edith, Du hast mit Deiner Frage nach dem Zobig eine Flut von Erinnerungen ausgelöst! Falls jemand Fragen hat: gerne!

Schweizerdeutsch 12: Neujahrswunsch

 

Luzerner Altstadt, im Jahre 2024

Es guets Nöis

Oder, auf Hochdeutsch und diesmal: Ich wünsche allen, die ab und zu hier landen, ein heiteres, sorgloses Jahr 2025.