Achtung: Wer denkt, „verrockt“ sei Schweizerdeutsch für „verrückt“, sitzt einem falschen Freund auf; „verrockt“ heisst bei uns stets „wütend“. Wollen wir dagegen mitteilen, dass jemand nicht alle Tassen im Schrank hat, sagen wir: „är schpennt“.
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Immer wieder bin ich versucht, meine Schweizerdeutsch-Lektiönli mit dem Irrsinn in den USA in Verbindung zu bringen. Aber dann ist mir meine Muttersprache dafür doch zu liebevoll, zu harmlos oder zu schade. Diesmal jedoch bin ich schtärnsverrockt über den orangen Koloss in Washington und seinen Adlaten, J. D. Vance. Wenn die beiden nicht mehr Freunde der Ukraine sein wollen, sollen sie es bitte einfach sagen und nicht Wolodimir Selenski im Weissen Haus vor der Weltöffentlichkeit abkanzeln. „Wer settigi Frönde hed, brucht keni Fende“, pflegte mein Freund, Carlito in solchen Lebenslagen zu sagen: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.
Seit ein paar Stunden wissen wir es: Donald Trump will den Russen die Ostukraine einfach so überlassen. Mit der EU (und der Ukraine!) hat er darüber gar nicht erst gesprochen. Er hat ausserdem gesagt: Was in der Ukraine weiter passiert, soll künftig Sache Europas sein. Amerika will sich da nicht mehr einmischen. Demnächst werden sich die Herren Trump und Putin treffen, die Position der USA liegt auf dem Tisch. Europa ist ihm egal, die Demokratie sowieso.
Dass Trump ständig Anstalten macht, den USA Kanada, Mexiko, Grönland und den Panamakanal einzuverleiben, ist ein weiteres Indiz dafür, dass er zumindest versucht, eine neue Weltordnung zu schaffen. Grönland soll wohl als Pufferzone gegenüber Russland dienen. Die Partnerschaft mit der EU scheint Trump egal. Unsere 80 Jahre alte Nachkriegsordnung, in der wir es doch recht gemütlich hatten, zerfällt vor unseren Augen. Bald könnten wir einem hoch aggressiven Russland allein gegenüberstehen.
Für die kleine Schweiz heisst das jetzt: Neutralität wäre schön und recht. Aber es ist ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert. Wir sollten mit unseren europäischen Nachbarn zusammenstehen, um uns gegen Putin verteidigen zu können. Und eine angstvolle Bitte an Euch Deutsche: Wenn ihr in zehn Tagen wählt, dann vergesst nicht: Die Lage ist sehr viel ernster als uns allen lieb sein kann. Ihr braucht eine Regierung, die – zusammen mit der EU – einer solchen Herausforderung gewachsen ist.
Auf Standarddeutsch: „Zum Streiten braucht’s immer zwei.“
Erläuterungen: Mein kleiner Bruder und ich waren als Kinder ein streitsüchtiges Gespann. Wenn wir schliesslich sogar über die Frage zankten, wer angefangen hatte, pflegte meine Mutter den obigen Satz zu sagen. Daran habe ich lange Jahre geglaubt und bei jedem Streit versucht, beide Seiten zu sehen. Heute frage ich mich oft schon im Kleinen: Stimmt der Satz wirklich? Oder ist der Angreifer einfach ein Rüpel, der reinhaut, weil er es eben kann?
Wenn es um die globale Gemengelage geht, dann kann ich im Moment nur Herfried Münklers „Welt in Aufruhr“ empfehlen: Münkler ist sachlich. Er geht von der Position aus, dass kriegführende Staatsoberhäupter einen Plan haben und ihre eigenen Motive verstehen. Auch wenn mein Bruder, auf dessen politisches Urteil ich mich mittlerweile gerne stütze, sagt: „Donald Trump hat keinen Plan. Er hat keine Ahnung, was er tut.“
Fondue-Öfchen, meist Rechaud genannt. Bei Gebrauch nimmt man den gelben Deckel unten ab, giesst Sprit in die Öffnung und zündet ihn an. Dann stellt man den Käse oben drauf und hält ihn so warm. (Bild: Galaxus.ch)
„Das esch ned mis Reschoo.“
Heisst auf Hochdeutsch: „Das ist nicht mein Rechaud.“ Wobei mit „Rechaud“ vermutlich ein Fondue-Öfeli gemeint ist. Die Redensart ahmt im Spott eine ungebildete Person nach, die eigentlich sagen will: „Das gehört nicht in mein Ressort.“ Oder: „Davon verstehe ich nichts.“ Oder, selbstironisch: „Fremdwörter sind Glückssache.“
Erläuterungen 1: Neulich schrieb ich in einem Whatsapp an eine Freundin das Wort „Misogynie“ mit zwei „Y“, also: „Mysogynie“. Als ich den Fehler bemerkte, war es mir erst furchtbar peinlich. Dann hörte ich Geiste das Gelächter meiner leider im letzten Sommer verstorbenen Freundin Reni. Sie war etwas älter als die anderen in unserer Jugendclique. Irgendetwas hatte ihrem Selbstvertrauen schon schwer zugesetzt, als sie zu uns stiess. Sie beschränkte sich im Leben auf kleine Ressorts und sagte zu allem anderen oft: „Das esch ned mis Reschoo.“ Und dann lachte sie, ein Weltgelächter. Ich vermisse sie!
Erläuterungen 2: Wir leben gerade in einer Zeit, in der ein US-Medienunternehmer auch noch ein ganzes US-Ministerium zu seinen Rechauds zählen darf. Und jetzt masst er sich an, auch noch die europäische Politik zu seinem Rechaud zu erklären und giesst ungeheuerlich viel Sprit hinein. Ich fürchte, er setzt noch die ganze Stube in Brand!
Wenn Gespräche auf Donald Trump kommen, fühlte ich mich in letzter Zeit merkwürdig an die Pandemie erinnert. Ich höre Sätze, die klingen wie damals, als viele sagten: „Ach, das ist nur eine Grippe, das hatten wir doch auch schon!“ Der schmerzliche Unterschied ist: Damals kamen solche Sätze von Leuten, von deren Urteil ich eh wenig hielt. Jetzt kommen sie zum Teil von Freunden, vor deren Meinung ich jahrzehntelang grossen Respekt hatte. Sie sagen: „Donald Trump? Ach Gott, früher war es doch auch schlimm! Da hatten wir den Kalten Krieg und dann den Neoliberalismus.“ Hä?! Oder: „Ach, Du hast doch zu viel doomgescrollt!“ Nein, mein Lieber, ich habe nicht zu viel doomgescrollt. Ich habe mir einen erheblichen Wissenvorsprung verschafft, während Du Krimis geguckt hast!
Dennoch bin ich nicht ganz sicher, ob nicht doch ich in diesen Diskussionen die Querdenkerin bin. Ich war jedenfalls fast so unglücklich über die Schweizer Berichterstattung zu den US-Wahlen wie seinerzeit die Covidskeptiker bei ihrem Thema. Ich fand unsere Medien verharmlosend, weichgespült oder dann schockierend weit rechts. Das alles wäre einfacher zu ertragen gewesen, wenn ich knapp hätte artikulieren können, was ich an all dem so unerträglich finde.
Letzten Samstag las ich dann in der Republik die Samstagskolumne von Daniel Binswanger zur kommenden Trump-Ära, hier der Link. Sein Fazit: „Die US-Demokratie führt gerade mit krudestmöglicher Deutlichkeit vor Augen, dass auf die politischen Mechanismen zur Herstellung von sozialem Ausgleich und minimalster gesellschaftlicher Solidarität überhaupt kein Verlass mehr ist.“ Er findet Worte für genau das, was mich seit Wochen umtreibt. Ich atme erleichtert auf und witzle: „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor mir der Binswanger sagt, wie man es in Worte fasst?!“ Der Polit-Kolumnist der „Republik“ sagt übrigens auch, was das für Europa bedeutet und ob wir in der Schweiz noch Hoffnung haben können. Sehr zur Lektüre empfohlen.
Seit Wochen verfolge ich das Wahlgetöse in Amerika. Es fühlt sich an, wie sich in meinen Teenagerjahren Liebesbeziehungen anfühlten, die desaströs zu enden drohten. Man sass beim Telefon und fieberte: Wann ruft er endlich an?! Diesmal starrte ich ins Handy und fieberte: Wie stehen die Umfragen?! Wie sieht es aus für Kamala?! Genau wie damals ist das alles eine Etüde in Machtlosigkeit. Ein paar möglicherweise miserabel informierte Wechselwählerinnen und -wähler in Pennsylvania, Michigan oder Wisconsin werden über das Schicksal der amerikanischen Demokratie entscheiden, möglicherweise auch über die Zukunft von uns in Europa. „Machen Sie sich keine Sorgen, auch mit Trump kommt alles gut“, wiederholen die Schweizer Medien nun seit Wochen. Hallo?! Den 6. Januar 2021 schon vergessen?!
Seit Wochen scrolle ich abends stundenlang durch X. „Doomscrollen“ ist dafür das falsche Wort. Ich suhle mich nicht in Untergangsbotschaften. Im Gegenteil: Ich richte mich am unverwüstlichen Optimismus von Tausenden von demokratischen Wahlhelferinnen und -helfern drüben auf. Sie sind wunderbar! Hoffentlich behalten sie recht!
Und nun laufen die Wahlen und wir haben noch nicht mal erste Resultate! Ich will jetzt Resultate, verdammtnochmal!
Eben sagt Donald Trump in Florida, er würde eine Wahlniederlage diesmal akzeptieren. Wenn die Wahlen fair wären. Wenn. Und überhaupt: Wer glaubt Donald Trump auch nur ein einziges Wort? Mich muss er jedenfalls nicht anrufen, auch wenn er gewinnt.
Nachdem ich meinen letzten Post abgesetzt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich meine: Es war der 7. Oktober, die Welt gedachte der Anschläge der Hamas in Israel 2022 und ich hatte kein Wort darüber verloren. Als wäre es mir egal. Aber es ist mir nicht egal. Ich möchte weinen, wenn ich an die Opfer denke. Was sind das für Bestien, die unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten töten oder als Geiseln verschleppen?
Ich bin nur nicht sicher, was ich schreiben soll. Obwohl die Lage im Nahen Osten ein Thema ist, seit ich mich erinnern kann. Zu Hause lief bei uns den ganzen Tag Schweizer Radio, stündlich die Nachrichten. Täglich hörte ich schon als Fünfjährige am Radio das Wort „Telawiif“ und wusste lange nicht, was es bedeutete. Erst mit der Zeit lernte ich, dass aus Tel Aviv die News über die Lage im Nahen Osten kamen. Tel Aviv, das hiess Kämpfe, Todesopfer, hastige Beschwichtigungsreisen von US-Aussenministern und UNO-Generalsekretären.
Beiläufig lernte ich das Wesentliche über Auschwitz. Mir zerstörte dieses Wissen jeden Ansatz eines kindlichen Gottvertrauens. Wenn Gott Auschwitz zugelassen hatte, dann war Gott böse, oder es gibt ihn nicht. Ich wuchs in einer katholischen Gegend auf, es gibt hier einen tief sitzenden Antisemitismus, der auch Israel trifft. Vor allem Israel. Damit wollte ich nie etwas zu tun haben. Wohin es führt, wenn man pauschal gegen bestimmte Gruppen von Menschen ist, hatten wir ja gesehen. Die Israelis haben ein Recht auf ihren Staat. Aber ich sah mich gerne auf der Seite der Unterdrückten, Benachteiligten. Im Nahost-Konflikt sollte ich alle paar Jahre die Seiten wechseln.
In der Schule lernten wir: Nach dem Horror von Auschwitz gab die UNO den Zionisten ein paar Territorien für einen eigenen Staat in Palästina. Die arabischen Staaten rundum bekämpften die Israelis, aber diesen gelang es, ihre Territorien auszudehnen. Die Palästinenser kamen unter die Räder. Ich begab mich auf die Seite der Palästinenser. Als Teenager besass ich sogar eines dieser rotweiss gemusterten Tücher.
1986 flog ich nach Tel Aviv. Ich war 21. Mein damaliger Freund studierte in Jerusalem Theologie. Ich hatte einen Wecker und ein Büchlein von Noam Chomsky im Gepäck, einem harten Kritiker der US-Politik im Nahen Osten (auch noch viele Jahre später, siehe hier). Als ich ankam, schenkte mein Freund mir eine Kerze. Drei Wochen später wollten wir in Haifa mit dem Schiff ausreisen. Die Zollbeamten sahen die Kerze, den Wecker und das Büchlein von Noam Chomsky. Sie nahmen meinen Koffer mit und blieben so lange weg, dass wir das Schiff erst im allerletzten Moment und mit zittrigen Knien besteigen konnten. War es eine Machtdemonstration oder hatten sie wirklich Angst?
Ich war vage pro-palästinensisch, bis ein Kollege aus Tel Aviv bei uns im Büro zu Besuch war. Er war nach der Pensionierung ausgewandert. Das war nach 9/11. In Israel hatten Palästinenserinnen und Palästinenser begonnen, Sprengstoffgürtel an ihren Leib zu kleben und sich in Jerusalem oder Haifa in die Luft zu jagen. Mein Kollege erzählte, wie er in Tel Aviv jedes Mal voller Angst aus dem Bus floh, wenn ein arabisch aussehender Mensch mit einer dicken Jacke einstieg. Ich dachte: Die Palästinenser tun aber auch alles, um ein friedliches Zusammenleben in der Region zu verunmöglichen. Selbstsabotage. Wie war Friede möglich, wenn der gute Wille auf beiden Seiten so zweifelhaft schien? „Es ist kompliziert“, sagte ich einmal. „Wenn ich noch lange darüber nachdenke, werde ich wahnsinnig.“
Nach dem 7. Oktober 2022 war ich fest auf der Seite der Israelis. Dann kam die Rache im Gaza-Streifen. Jetzt die Eskalation im Südlibanon. Und allmählich fürchte ich, dass es vollkommen sinnlos ist, auf einer Seite zu stehen. Man kann nur das Beste hoffen für jene, die jetzt unschuldig unter die Räder kommen.
Ich habe oft über Herrn T.’s Grossvater nachgedacht. Sie nannten ihn Fred Feuerstein, und er starb, lange bevor ich meinen Mann kennenlernte. Fred war ein Deutscher in der Schweiz, der 1942 mit Ehefrau und Tochter nach Grossdeutschland auswanderte. Was mag ihn dazu bewogen haben? War er ein begeisterter Nazi oder ein Opportunist mit selektiver Wahrnehmung? War er auf der Flucht vor Schweizer Gläubigern oder einfach glücklich über die Traumstelle im Tirol? Was dachte er über die Menschen, die in Zügen nach Osten aus Deutschland verschwanden? Wie kann man so in die Irre gehen wie Fred Feuerstein in die Irre ging?
Kaum war er in Österreich, wurde er eingezogen. Er landete als Fahrer im besetzten Frankreich. Von dort aus schrieb er Briefe an Frau und Tochter. Sie geben kaum Antworten auf meine Fragen. Aber sie erzählen – trotz gelegentlicher Interventionen der Reichszensurstelle in Berlin – viel über sein Leben als Wehrmachtsoldat in der Bretagne. Wir wollten in Frankreich seinen Spuren folgen, verloren aber den Elan dafür. Ironischerweise führte mich jedoch der Zufall genau in seine Fussstapfen, als ich mich in Plouharnel verirrte. Denn in diesem Dorf am Meer war Fred am Schluss stationiert. Daran erinnerte ich mich aber erst wieder, als Herr T. mir ein Geschenk machte, alle meine alten Blogbeiträge über seinen Grossvater sammelte und in seinen Blog stellte. Hier nachzulesen.
Die 900-jährige Kirche St. Jacques steht mitten im Städtchen Perros-Guirec, ein kaum beachtetes, kleines Bijou. Rechts neben dem Portal der übliche Gedenkstein mit den Namen der im Ersten und Zweiten Weltkrieg verstorbenen Soldaten aus der Gegend. Früher glaubten wir, sie gingen uns nichts mehr an, diese Steine, die Kriege in Europa seien vorbei. Aber diesmal begann ich die eingravierten Namen zu zählen – es waren allein im Ersten Weltkrieg gegen 180, in einem Städtchen, das 1911 lediglich 3500 Einwohner zählte. Vielleicht gab mir das so zu denken, weil ich kurz zuvor bei Geert Mak ein eindrückliches Kapitel über den Ersten Weltkrieg gelesen hatte. Vielleicht, weil ich oft meinem 19-jährigen Gottenbub über die Armee, Putins Krieg und die Nato diskutiere.
Später streiften wir über Land und fanden das verträumte Kirchlein St. Quay Peros, mit einem Soldatenfriedhof, mitten in einem Dörfchen. Auch hier etwa 20 Namen auf dem Gedenkstein. Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es hier sicher Familien mit neun bis zwölf Kindern. Aber hat man auch nur eines mit leichtem Herzen für’s Vaterland hergegeben? Auf den Steinen stehen Namen wie Désiré, Amédé, oder Aimée (ein Mädchen?). Ich sehe die Schatten dieser nie alt gewordenen Kinder durch das Dorf huschen, mit schalkhaften oder forschen oder unendlich verletzlichen Gesichtern, wie die Kleinen unserer Nachbarn im Hof.
Herr T mag es überhaupt nicht, wenn ich da so stehe. Er war selbst in der Armee – gegen seinen Willen. Er sagt, er finde jede Art von Militarismus daneben. Aber ich glaube nicht, dass ich Militaristin bin. Ich hoffe nur immer, dass sich dieser unerträgliche Widerspruch in mir auflöst, wenn ich nur lange genug dort stehe: dass ich fürchte, dass wir in Europa uns vielleicht gegen Putin wehren müssen. Und dass ich dafür kein einziges Menschenleben hergeben will.
Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.
Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.
Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?
Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.
Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute auslassen, Grund: der Brexit.
Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.
Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.
Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.
Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.