Salecina – woran die Liebe scheiterte

Seit zwei Tagen überlege ich, wie ich meine verfrühte Abreise aus Salecina kurz und bündig erklären kann. Mir fehlt die Zeit, jede Einzelheit des ereignisreichen und für mich sehr ungewohnten Lebens dort oben aufzuzeichnen. Schliesslich habe ich gemerkt, dass es im Grunde einfach ist. Es lag zu einem sehr beträchtlichen Teil an meinem Ohrenleiden – am Paradox der Schwerhörigkeit.

Und zwar aus folgendem Grund: Die schönsten Momente in Salecina sind die Mahlzeiten. Meistens essen die Gäste alle auf zwei grosse Tische verteilt in einem Raum mit einer gewölbten Decke. Man geniesst die Gelegenheit, mit Leuten zu plaudern, deren Bekanntschaft man sonst nie im Leben gemacht hätte. Die Gespräche waren immer angeregt und herzlich. Früher hätte ich diese Tischrunden geliebt. Die halbe Nacht lang hätte ich mit den neuen Bekannten die Wahlen in Deutschland erörtert, oder die Abenteuer der soeben absolvierten Wanderung. Für solche Abende hätte ich Salecina das dünne Bettzeug in den Zimmern verziehen. Ich hätte problemlos weggesteckt, dass ich hier ein WC mit schlimmstenfalls über zehn Leuten teilen musste, und sowieso, dass ich dieses WC auch noch selbst putzte*. Ich hätte sogar Spass daran gehabt, dass am zweiten Tag eine italienische Schulklasse einfuhr und für noch mehr Betrieb sorgte.

Aber in einem Raum, in dem mehr als zwei Leute gleichzeitig sprechen, bin ich verloren. Erst recht in einem Raum, in dem gleichzeitig auch noch alle mit ihren Essbestecken hantieren. Ich bekam von all diesen angeregten Gesprächen im Speisesaal immer nur Fragmente mit. Natürlich ergaben sich dann und wann trotzdem schöne Begegnungen. Doch insgesamt fühlte ich mich beim Warten auf diese intimeren Momente zunehmend gequält und erschöpft, und alles andere störte mich schliesslich auch.

Muss ich aus dieser Erfahrung die Kritik ableiten, dass Salecina sich zu wenig um die Inklusion von Menschen mit Behinderung kümmert? Nein, ich glaube nicht. Salecina bietet vielen Menschen Unterkunft, die sich sonst keine Ferien in den Bergen leisten könnten. Ich glaube, das ist ein Verdienst, das erst einmal von anderen Pflichten entbindet. Salecina ist ein kleiner Versuch der Utopie – einer, der schon seiner Lage wegen wohl nicht alle Träume verwirklichen kann. Aber ich diskutiere gerne darüber.

Und, trotz allem: Die drei Tage dort waren eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

* Dem Aspekt der Mitarbeit im Salecina werde ich nach Möglichkeit noch einen eigenen Beitrag widmen.

Salecina – Geschichte einer unmöglichen Liebe

Hier in Salecina auf 1800 Metern über Meer haben der Kulturflaneur und ich unsere Ferien verbracht. Ein grossartiger und – für mich – schwieriger Ort.

Hiermit melde ich mich zurück in der Bloggosphäre. Geplant waren drei weitere Tage im Oberengadin ohne Laptop. Aber ich konnte nicht mehr und bin heute nach Hause gekommen. Herr T. ist geblieben und vergnügt sich ziemlich sicher bestens. Ich habe gelernt: Jeder liebt auf seine Weise. Ich liebe am besten abwesend – es ist einfach so.

In meinem letzten Blogbeitrag habe ich berichtet, wie ich in den Besitz eines Buches mit dem Titel „Die Zukunft des Sozialismus“ kam. Ironischerweise lebt in Salecina der Sozialismus der Gegenwart. 1972 von prominenten Zürcher Linken gegründet, hat das Bildungs- und Ferienzentrum mitten in den Bündner Bergen den Zusammenbruch des Sozialismus überlebt, vom Kapitalismus helvetischer Prägung umgeben wie das sprichwörtliche gallische Dorf. So konnte ich dort oben ein wenig Berghüttengroove, Solidarität und Nachhaltigkeit kosten – und werde jetzt darüber berichten.

Dinieren in den Rhätischen Bahnen. Doch der Reihe nach: Auf der Hinfahrt genossen Herr T. und ich die Segnungen des helvetischen Kapitalismus. Der Kulturflaneur hatte Geburtstag, und wir dinierten im Speisewagen der Rhätischen Bahnen auf der Albulastrecke. „Festina Lente“ heisst das Motto des opulent gestalteten und mit Holztäfer ausgekleideten Restaurants auf Rädern – „eile mit Weile“. Wir rumpelten über mächtige Viadukte, draussen zogen malerische Dörfer und keilförmige Täler vorbei, alles wolkenverhangen. Drin gab’s Schweinebraten, Rotwein und professionellen Service für ungefähr 140 Franken.

Nur eine Stunde später zerrten wir unsere Rollköfferchen auf der Maloja-Passhöhe einen Kiesweg entlang, zu unserer Linken eine Kuhweide. Wenn man nicht aufpasste, verfing sich dann und wann ein Fetzen Kuhdung zwischen Rädchen und Achse des Gepäckstücks. Dann sahen wir Salecina, eingebettet in die sich herbstlich verfärbende Engadiner Landschaft. Es ist überirdisch schön dort oben, selbst an einem grauen Tag. Wer Salecina verstehen will, muss das wissen.

Im Salecina ein Zettel: Der Betriebsleiter komme um 16 Uhr – also erst in einer Stunde. Beim Hauseingang ein Knäuel Bettwäsche – wenn ich so etwas bei einem Hoteleingang sehe, mache ich normalerweise rechtsumkehrt. Aber ich beschloss, dem Experiment eine Chance zu geben. Man übernachtet hier für 55 Franken (und es gibt auch Solidaritätspreise). „Sei nicht so pingelig!“ sagte ich zu mir.

Im Hof sassen ein paar Männer um ein Auto mit italienischen Kennzeichen herum und beäugten uns argwöhnisch. Wir liessen unser Gepäck beim Haus und versuchten es mit einem Spaziergang. Bald begann es sachte zu regnen, Herr T. drängte zur Umkehr.

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