Schweizerdeutsch 31: Was unser Herz öffnet

härzig (Adj)

Standarddeutsch: niedlich, reizend, süss anzusehen

„Härzig“ können alle Menschen sein, die wir als liebreizend empfinden: Frauen, Männer (wenn sie sich auf sympathische Art allzu menschlich verhalten oder gut aussehen), Kinder sowieso. Ferner Tiere, vom Marienkäfer etwa bis zum kleinen Hund. Auch ein junger Elefant kann härzig sein. Das Adjektiv ist auch verwendbar für Blümchen und allerhand kleinere Dekorationen.

Das Wort „niedlich“ verwenden wir überhaupt nicht. Als ich es als Kind zum ersten Mal hörte, glaubte ich, es habe etwas mit „Neid“ zu tun.

Schweizerdeutsch 30: Überfordert vom alltäglichen Wahnsinn

Äinen eläi glaubt’s ned!

Standarddeutsch: „Einer allein glaubt es nicht!“ Im Sinne von: Es ist derart absurd oder gestört, dass einer allein dafür nicht genügend Fassungsvermögen hat.

Eine Redensart, die ich von einer Berner Freundin an der Uni habe. Ich brauchte sie für alle erdenklichen Manifestationen des alltäglichen Wahnsinns. Beispiele: Beim Ferienjob auf dem Briefversand hatte der Chef mich für eine Spät- und eine Frühschicht gleich hintereinander eingetragen. Dazwischen: nur vier Stunden Pause! „Äinen elei glaubt’s ned!“ rief ich kopfschüttelnd und ging zum Chef.

Oder: Die Bürokratin vom Rektorat hatte gerade eine Zahlung gefordert, die ich für ungerechtfertigt hielt. „Äinen elei glaubt’s ned!“ erzählte ich empört Kollegin Rosi, machte zähneknirschend die Zahlung und erhielt Ende Jahr korrekt das Geld zurück.

Oder: Der Zug stand eine halbe Stunde bewegungslos auf der Brücke von Aarburg, ohne Durchsage, ohne Erklärung, ich verpasste in Olten mit 150 anderen den Anschluss. „Äinen elei glaubt’s ned!“ rief ich aus, als ich meinem über meine Verspätung verärgerten Liebsten Konrad die Sachlage schilderte. Das reichte, um ihn zu beschwichtigen.

Wie niedlich waren damals doch unsere Fassungslosigkeiten!

Schweizerdeutsch 29: Zeit verplempern

tämpele (V) (auch: tämperle)

Standarddeutsch: Zeit vertrödeln (absichtlich oder einfach so);

Nicht viel los im Büro im Moment. Man hätte Zeit, vor dem Aufbruch noch ein paar sinnvolle Dinge zu erledigen. Aber erst mal noch im Pyjama per E-Mail dem Sekretariat mitteilen, dass man später kommt. Dann den Geschäfts-Posteingang checken und die News online. Kaffee trinken und Zeitung lesen, man liest wieder gründlicher Zeitung als auch schon. Dann nochmals ein Blick in die Geschäftsmails. Duschen gehen wollen. Aber zuerst noch ein bisschen auf X scrollen, dann mit Herrn T. plaudern. Die Kaffeepflanze giessen, sie lässt wieder die Blätter hängen. Im Bad eine kleine Hautunebenheit im Gesicht untersuchen, die Härchen am Kinn auszupfen. Eine leere Shampooflasche im Altplastik entsorgen. Nochmals kurz mit Herr T. plaudern, ach, planen wir doch gleich noch den Filmfestivalbesuch vom Samstag. Endlich duschen. Danach mehr Sorgfalt als üblich bei der Kleiderwahl. Noch eine Notiz ins Tagebuch und, huch! Schon ist es Zeit zum Aufbruch!

Schweizerdeutsch 28: Ich weiss nicht, wer Sie sind

Ech cha si ned häitue.

Standarddeutsch wörtlich: Ich kann Sie nicht nach Hause fahren.
Im übertragenen Sinn: Ich weiss nicht, wer Sie sind. Ich kann nicht einordnen, woher ich Sie kennen soll.

Josi J. Meier war eine der ersten elf Frauen, die 1971 nach Einführung des Frauenstimmrechts in den Nationalrat gewählt wurden – eine Luzernerin. Sie erzählte gerne Anekdoten, manchmal auch solche, bei denen die Pointe auf ihre Kosten ging. Etwa jene von dem Unbekannten, der sie eines Abends spät vor ihrer Haustür aufgehalten habe. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, und sagte: «Ech cha si ned häitue.» Der Mann antwortete: «Macht nüt, ech ha s’Velo debii.» – Macht nichts, ich habe mein Fahrrad dabei.

Kürzlich habe ich mich von der Geschichte dieser 2006 verstorbenen Politikerin beeindrucken lassen, die eine fortschrittliche Persönlichkeit hinter einem eher unscheinbaren Äusseren verbarg. Wer sie auch kennenlernen möchte, schaut hier nach.

Schweizerdeutsch 27: Falsche Freunde

schtärnsverrockt (Adj.)

Standarddeutsch: sehr wütend, rasend

Achtung: Wer denkt, „verrockt“ sei Schweizerdeutsch für „verrückt“, sitzt einem falschen Freund auf; „verrockt“ heisst bei uns stets „wütend“. Wollen wir dagegen mitteilen, dass jemand nicht alle Tassen im Schrank hat, sagen wir: „är schpennt“.

Quelle: istockphoto.com

Immer wieder bin ich versucht, meine Schweizerdeutsch-Lektiönli mit dem Irrsinn in den USA in Verbindung zu bringen. Aber dann ist mir meine Muttersprache dafür doch zu liebevoll, zu harmlos oder zu schade. Diesmal jedoch bin ich schtärnsverrockt über den orangen Koloss in Washington und seinen Adlaten, J. D. Vance. Wenn die beiden nicht mehr Freunde der Ukraine sein wollen, sollen sie es bitte einfach sagen und nicht Wolodimir Selenski im Weissen Haus vor der Weltöffentlichkeit abkanzeln. „Wer settigi Frönde hed, brucht keni Fende“, pflegte mein Freund, Carlito in solchen Lebenslagen zu sagen: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

Schweizerdeutsch 26: Sich durchsetzen

Do hed’s mer de Nuggi usegropft!

Standarddeutsch: „Da hat es mir den Schnuller rausgerupft!“

Wir gehen davon aus, dass wir einer eine Ärztin, einem Verkäufer, einem Dienstleister oder einer Amtsperson in der Regel nur freundlich sagen müssen, was wir wollen. Dass das reicht, damit unser Bedürfnis erfüllt wird. Ist dies auch nach mehreren Versuchen nicht der Fall, rupft es uns den Nuggi raus. Wir Erwachsenen werden dann meist nicht ganz so laut wie Kleinkinder, denen tatsächlich der Schnuller entrissen wird. Aber lauter und auch bestimmter als vorher. In unserer Familie brauchen wir diese Redensart oft. Wir nehmen damit auch schon vorweg, dass wir uns im geschilderten Vorfall dank gesteigerter Dringlichkeit im Ton dann doch noch durchsetzen konnten.

Schweizerdeutsch 25: Blöde Schneeschuhe!

schtürchle (v)

Standarddeutsch: stolpern

Quelle: nuduss.ch

Vor zwei Tagen mieteten wir Schneeschuhe, um hinaus in die verlockenden, blauweissen Weiten zu schreiten. Wir waren zu fünft. Aber blöd: Ich schaffte es nicht, die Gehhilfen selbst anzuziehen. Vor ein paar Jahren hatte ich es einmal fertiggebracht, die Plastikriemchen im Alleingang richtig festzuzurren und einen Spaziergang mit den Dingern zu machen. Aber jetzt?! Jetzt sind meine Knie gstabig, mein Gleichgewichtssinn unzulänglich und im Durcheinander von Riemchen, Löchern, Noppen und Schnällchen verlor ich den Überblick. Kollege C. musste mehrmals niederknien, um mir zu helfen. Als wir loszogen, hing mir immer noch ein Plastikstreifen aus dem linken Schuh und schlenkerte vor den rechten Fuss. Ich stürchelte und konnte mich gerade noch mit dem Stock auffangen. Zum Glück konnte C. auch dieses Problem beheben. Denn danach wurde es richtig, richtig herrlich!

Schweizerdeutsch 24: Spatzen und Spielräume

Spatzig (N, m)

Standarddeutsch: Spielraum, Platz zum Manövrieren, unverplante Zeit: Hat nichts mit Spatzen zu tun, sondern kommt ursprünglich vom Latein: „spatium“, der Raum.

Ich stehe vor dem Schaufenster meines Lieblings-Kleiderladens. Soll ich hineingehen und mir eine neue Hose kaufen? Ja, sollte ich, denn finanziell habe ich gerade etwas Spatzig. Dagegen schwindet der Spatzig zwischen Hosenbund und Taille bei meinen alten Hosen gerade merkwürdig schnell. Und zeitlich habe ich auch noch Spatzig, der Arbeitstag ist vorbei, aber es ist noch zu früh für’s Znacht.

Schweizerdeutsch 22: Nachhilfe für den Hamburger Kollegen

Znüni (N, n)

Wörtlich: „Zu neun Uhr“

Standarddeutsch: kleine Zwischenmahlzeit am Morgen, oft verbunden mit einer kurzen, geselligen Pause.

Erläuterung 1: Mein Gottenbub ist jetzt Zivi. Er arbeitet in einer Werkstätte für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf dem Land. Auch einen jungen Betreuer aus Hamburg hat es in die Institution verschlagen, berichtet Tim. „Er versteht Schweizerdeutsch. Was er aber gar nicht verstanden hat, ist das Wort Znüni. Dabei ist es so einfach. Funktioniert doch genau gleich wie Zvieri.“ Überhaupt heissen unsere Mahlzeiten: Zmorge, Znüni, Zmittag, Zvieri, auch Zobig, und Znacht.

Erläuterungen 2: Über das Znüni im Handwerksbetrieb singt die unvergessliche Band Stiller Has, hier geht’s zum Video.

An meine Zürcher Leserinnen

Zürcherinnen und Zürcher würden „schlüüsse“ sagen, schrieb ich in meinem letzten Beitrag über den Befehl einer Dentalhygienikerin – und nicht „schliesse“ wie wir in Luzern. Sofort bekam ich zwei liebenswürdige, aber bestimmte Rückmeldungen von Zürcherinnen aus meiner Leserschaft. Einhellig gaben sie mir zu verstehen: Nie und nimmer würde jemand in Zürich sagen, man solle den Mund „schlüüsse“. Auch dort würde man „zuemache“ oder „zuetue“ sagen.

Ich habe mich sehr über die beiden Kommentare gefreut – die friedvolle, gemeinsame Wahrheitssuche gehört zu den Dingen, denen wir im Blog noch frönen können, anders als in gewissen sozialen Medien.

Ich war aber auch verunsichert. Das Wort „schlüüsse“ glaubte ich von meinem Eheman, dem Kulturflaneur, zu kennen, der Züritüütsch spricht. Ich fragte bei ihm nach. Er schimpfte geradezu: „Nein, natürlich sagt beim Zahnarzt kein Mensch ’schlüüsse‘!“ Er räumte aber ein: „An einer Sitzung würde ich sagen: ‚Mier beschlüüssed das jetz!'“ Ok, ich habe verstanden. Ich hoffe, ihr auch. Sonst bitte melden.

Und noch etwas: Zum ersten Mal habe ich in meinem letzten Beitrag vage Ressentiments angesprochen, die wir in der Schweiz mitunter jenen gegenüber haben, die einen anderen Dialekt sprechen als wir. Als ich die beiden  Kommentare meiner Zürcher Leserinnen las, wurde mir wieder einmal klar, wie dumm das ist. Ich gelobe hiermit, in Zukunft um dieses Thema einen weiten Bogen zu machen.