Spazieren: Der Hauch der Erinnerung im Strassendorf

Neulich hörte ich auf, über die schwierige Sache mit dem Club der Flaneure und der Schwerhörigkeit nachzudenken. Ich stieg in Ebikon aus einem Bus und spazierte einfach los. Ebikon ist ein Strassendorf mit zahlreichen berotlichterten Übergängen, deshalb auch Amplikon genannt. An den Hängen stehen Neu- und Altbauten kreuz und quer wie wild parkierte SUVs an einem Grümpeltournier. Ich marschierte los und flüsterte: „Oh Agglo, offenbare Deine Geheimnisse!“ Aber der Ort blieb öd und verlassen.

Bis ich an die Strassenecke kam, an der einst Herr und Frau Nitroglyzerin  – kurz: Nitro – gewohnt hatten, in einem von der Bauwut vergessenen Bauernhaus. Hier pflegten die beiden in den neunziger Jahren einen Salon abzuhalten. Herr T. und ich waren oft dort. Es kamen allerhand Intellektuelle, zum Teil von weit her. Wir diskutierten über Paul Virilio, über Utopien und über die Genderfrage. Wir assen und rauchten und tranken und lachten, bis tief in die Nacht.

In den nuller Jahren mussten Herr und Frau Nitro dann doch ausziehen, das alte Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie zog in einen anderen Vorort, er verliess die Gegend ganz. Jetzt stehen dort gesichtslose Wohnblocks. Mir aber hauchte mit einem Mal aus dem Keller des Betonklotzes, der genau an der Stelle des alten Holzhauses steht, der dionysische Geist von damals entgegen. Er warf mich beinahe um. Ob dieser Geist abends auch in die Wohnungen der Menschen steigt, die in den neuen Häusern wohnen? Beschleicht sie nachts manchmal geistige Unruhe und eine seltsame schöpferische Gefrässigkeit? Hören sie ferne Stimmen über Paul Virilio reden? Riechen sie gar Wein? Oder – Gott bewahre! – Zigarettenrauch?

Ist die Erinnerung mächtiger, wenn man schwerhörig ist? Ich weiss es nicht.

Kann man als Schwerhörige flanieren?

Flanieren kann doch jede und jeder, denkt man. Aber das stimmt eben nicht so richtig. Louis Huart, einer der Väter der Flanerie, definierte 1841 sehr genau, wer in den exklusiven Club der Flaneure aufgenommen wird. Es sind selbstverständlich Männer, und sie haben: „Gute Beine, gute Ohren und gute Augen (siehe hier).“ Ich bin also gleich doppelt für die Mitgliedschaft im Club der Flaneure disqualifiziert – als Frau und als Schwerhörige. Die begnadete Amerikanerin Lauren Elkin erledigte 2016 in ihrem Buch „Flâneuse“ zum Glück die Geschlechterfrage. Überhaupt ist das Flanieren ja kein Wettkampfsport, sondern etwas im Grunde Verspieltes, ja, Subversives.

Und doch nagte die Disqualifikation wegen schlechten Gehörs an mir. Huart findet, man brauche ein gutes Gehör, damit einem keiner der Dialogfetzen von Passantinnen und Passanten entgeht in einer Stadt, in der Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten sich begegnen. Da kann ich leider tatsächlich nicht mithalten. Und es stimmt ja: So ein Tinnitus als einziger Begleiter beim Durchstreifen einer Stadt kann sehr langweilig sein.

Was also soll ich machen, um allen Ernstes als Flaneuse gelten zu dürfen? Soll ich Inklusion im Club als mein Menschenrecht einfordern? Oder soll ich dem Club etwas anzubieten versuchen, was den anderen Mitgliedern imponiert?

Schweizerdeutsch 37: Wenn die Obstbäume blühen

Machemer es Blueschtfährtli!

Standarddeutsch: Machen wir doch eine kleine Blustfahrt!

Wenn die Obstbäume blühen, fahren Herr T. und ich manchmal mit der S-Bahn hinaus ins Seetal. „Machemer es Blueschtfährtli!“ sagen wir, bevor wir in den Zug steigen. „Blueschtfährtli“ klingt, als käme es aus dem Vokabular unserer Grosseltern, und so stellen wir uns denn Grosseltern vor, die nach Jahren harter Arbeit wohl verdiente Zeit haben, um mit einem altmodischen Auto über noch einspurige Landstrassen zu tuckern. Links und rechts nicken ihnen Kirschbäume mit himmlisch weissen, wogenden Frisuren zu. Grossvater sagt fachmännische Dinge über Chlöpfer und Brönner und irgendwo besuchen sie ein Kapälleli, vielleicht dasjenige in Ursmu, danach kehren sie in einer Gartenbeiz ein, er gönnt sich ein Rivella, sie eine Cremeschnitte.

Für ein Blueschtfährtli hatte ich dieses Jahr noch keine Zeit, aber für ein Blueschtschpaziergängli am 11. April im Maihof Luzern.

 

Schwerhörig: Dichtestress im Park

Frühlingsstimmung. Herr T. und ich spazieren auf der Allmend. Wir wollen gerade das Paar vor uns überholen und setzen zu einer nicht optimal koordinierten Richtungsänderung an. Da gellt von hinten eine Frauenstimme: „Achtung, Joggerin!“ Ich bin noch verdutzt, da schiesst schon eine Frau in roten Shorts zwischen uns nach vorne. Herr T. empfindet ihren Warnruf als Zumutung: „Sie kommt von hinten und will uns überholen. Sie soll gefälligst selbst dafür sorgen, dass sie ohne Rempelei an uns vorbeikommt!“ schimpft er.

Früher sah ich das genauso wie er. Ich empfand es als Übergriff, wenn zum Beispiel Radfahrer hinter mir mich mittels Klingeln aufforderten, gefälligst für sie vom Weg zu jucken. „Heute sehe ich das anders“, sage ich zu Herrn T. „Ich habe keine Chance mehr, Fahrräder zu hören. Ausserdem mache ich wegen meiner Gleichgewichtsstörungen zuweilen unerwartete Gehschlenker. Da ist es mir mittlerweile lieber, wenn Zweiradfahrer klingeln.“

Herr T. ist nicht restlos überzeugt. Und es stimmt ja: Ein Warnruf oder Klingeln allein erklärt noch nicht, ob die Person von hinten links oder rechts überholen will. Vor allem nicht denjenigen, die ein so schlechtes Richtungsgehör haben wie ich.

Schwerhörigkeit: Gefahren im Strassenverkehr 1

Es ist Aschermittwoch. Ich war vor 8 Uhr in einer Gasse im alten Teil der Stadt Luzern unterwegs. Der Lärm war beträchtlich, die Aufräumarbeiten nach dem gestrigen Massenbesäufnis in vollem Gang. Vor der Franziskanerkirche ging ich auf der linken Strassenseite. Die Stelle vor dem Portal ist eng, es gibt keinen Gehsteig, deshalb marschierte ich nahe an der Häuserzeile. Beim Restaurant an der engsten Stelle hatte jemand eben die Frontscheibe mit Seifenwasser abgespült, Schaum und Nässe lagen 70 Zentimeter breit auf der Strasse. Ob da jemand hingekotzt hatte? Ohne Kontrollblick nach hinten (ich glaubte mich in der Fussgängerzone) machte ich einen leichten Ausfallschritt nach rechts. Da zog ein grosser Kehrichtlastwagen wenige Zentimeter an meiner rechten Schulter vorbei.

Meine schwerhörige Bekannte Ursula hat einmal gesagt: „An so einer Stelle werden sie mich eines Tages unter einem Auto hervorziehen.“

Glücksmoment in den Bergen

Auf Melchsee-Frutt

Wenn wir im Winter auf der Melchsee-Frutt waren, habe ich immer davon geträumt, einmal mit Schneeschuhen den Gumm zu ersteigen und dann den weiten Hang hinunter Richtung Tannalp zu schreiten. Weg von den vertrauten Fusswegen, ein kleines Stück hinein in die Wildnis. Auch wenn gut vorgespurt ist und bei schönem Wetter täglich ein paar Dutzend Leute dasselbe tun – für mich wäre es eben doch ein Abenteuer gewesen. Aber Herr T. fuhr lieber Ski und allein hatte ich Schwindelpatientin mich nicht getraut. Diesmal waren wir zu fünft. Bei der rosarot bewegweiserten Abzweigung nahmen wir den Aufstieg.

Das erste Drittel ging tiptop. Nach dem zweiten hätte ich gerne aufgehört. Aber wir nahmen das letzte auch noch, die sportliche Kollegin G. uns anderen weit voraus.

Zuoberst eine Aussicht zum Frohlocken! Hinter uns die Wellen, über die wir uns heraufgemüht hatten. Vor uns die Felsklippe hinunter ins Gental im Berner Oberland, eine neue Welt. Aber nicht zu weit nach vorne gehen! Der Schnee auf Felswänden kann abbrechen, dann droht ein Sturz in gähnende Tiefen.

Wir drehten nach links, zum Abstieg: Hach, er übertraf meine kühnsten Träume! Dieser Blick in die verschneiten Hügel! Langsam in die weiche, weisse Weite schreiten, sachte bohren sich die Zacken der Schneeschuhe bei jedem Schritt in den sonnenwarme Pfad. Die vom Letrozol doppelt schmerzenden Knie werden kaum belastet. Einer dieser Momente, in denen man nicht sicher weiss, ob man lieber vorwärtskäme oder hofft, dass er ewig dauern möge.

Ohne Hörgeräte an der Ausfallstrasse

Ich will meinen Vater im Talgrund besuchen, muss  mich aber beeilen, damit es  für eine Stunde mit ihm reicht. Also gehe ich der vierspurigen Autostrasse entlang. Das ist der schnellste Weg. Ich schalte die Hörgeräte aus, sonst ist mir der Verkehr zu laut. Bei laufenden Mikrofönchen hinter meiner Ohrmuschel würden hier um die 140 Dezibel gegen die geplagten Härchen in meinem Innenohr donnern, davon würde auch ein Hörender schnell taub. So krächzen die Autos ein bisschen, die direkt an mir vorbeiziehen. Sonst nur Tinnitus.

Dann komme ich zu einer Bushaltestelle. Hier höre ich einen seltsamen Ton, eine Art stossweises Aufheulen. Ich blicke auf und sehe eine Frau, die wild  einen grossen Hund mit langem, rötlichem Haar angestikuliert. „Sie lärmt ihren Hund aber ganz schön laut an“, denke ich. Erst dann sehe ich, dass sich der Vorderteil des Hundes heftig bewegt, er bellt. Jetzt bin ich nicht sicher, ob ich die Frau brüllen oder den Hund bellen gehört habe.

Schweizerdeutsch 13: Wenn es geschneit hat

Pflotsch (N)

Hochdeutsch: Matsch

Erläuterungen 1: Herr T. meint, Pflotsch sei nicht genau dasselbe wie Matsch. „Matschig“ könne alles sein, auch ein nicht so frischer Apfel. Pflotsch hingegen ist einfach eine Mischung aus Wasser, Schnee oder Eis und Erde. Pflotsch befindet sich auf der Strasse, wenn es geregnet oder geschneit hat.

Erläuterungen 2: Herr T. erzählte mir neulich beim Spaziergang nach den letzten Schneefällen grinsend eine Szene, die er eben beobachtet hatte: „Die Mama da hinten hat dem Dreijährigen zugerufen: ‚Neeeein! Nicht mit den Stiefeln in den Pflotsch!‘ Aber der Kleine ist grad extra voll hineingetreten!“

Brest: Sonntagsspaziergang

Fast leer: Die Paradestrasse Rue die Siam, im Zweiten Weltkrieg zerstört, danach hastig wieder hochgezogen.

Brest ist eine ehrliche Stadt, keine Sommerferienidylle. Die Gegend um den Bahnhof ist eine einzige Baustelle. Windstösse rempeln uns an, und hier lernen wir la bruine kennen, jenen Regen, der nicht fällt und doch die Brillengläser mit Tröpfchen besetzt. Die Paradestrasse Rue de Siam ist am Sonntag fast leer, Bettelnde warten vergebens. Wo sind bloss die Sonntagsspaziergänger?

Wir finden sie auf einer endlos langen Hafenmole. Dort tummeln sich Menschen mit ihren Hunden, zahlreiche Angler und drei junge Anglerinnen, Jogger, die Kinder der Angler mit Fahrrädern, Seebären und ein paar Schaulustige wie wir. Die wenigsten haben Aufhebens um ihr Styling gemacht. Es gibt dennoch allerhand zu sehen. Die  bescheidenen Fänge in den Angeleimern. Den Tanker, der aus dem riesigen, leeren Hafen zieht, begleitet von einem Lotsenboot. Die Hundehaufen, die man nicht übersehen sollte. Die Stadtbehörden haben zwar Schablonenbilder mit einem sich versäubernden Hund auf den Asphalt gesprayt. Der Hund grinst und sagt: „Mon maître ramasse“*. Auch Angeln ist verboten. Das kümmert hier niemanden.

Herr T (rechts) und ein unbekannter Angler am hinteren Ende der Hafenmole. Eben hatte ein Jogger beim Umdrehen die grünweisse Leuchte umkreist und ist wieder davongesaust.

*Mein Herrchen sammelt meine Kacke ein.

Dinard: Entscheiden, was wichtig ist

Bei der Villa links im Bild handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine Sommerresidenz von Pablo Picasso. Ich werde es wohl nie mit Sicherheit wissen. Wir setzten die Prioritäten anders.

Unser Bretagne-Reiseführer preist das Städtchen Dinard als „Spielwiese der Bohème“, auch Pablo Picasso kam 1922 und 1928 hierher. „Während sich Ehefrau Olga um den gemeinsamen Sohn kümmerte, vergnügte sich Picasso in Dinards Strandkabinen mit der 17 Jahre alten Marie Thérèse Walter.“* 1922 habe Picasso auch in der Villa Les Roches brunes residiert, die eine atemberaubende Aussicht habe und heute gelegentlich Ausstellungen.

Das lasen wir, bevor wir uns mit dem Boot von St. Malo nach Dinard übersetzen liessen. Hier hätte Frau Frogg gerne diese Picasso-Villa genau geortet, wäre überhaupt gerne durch das Städtchen Dinard flaniert, in dem laut Reiseführer 400 denkmalgeschützte Villen der Belle époque stehen. Aber Herrn T. stand der Sinn nach einem ausgedehnten Spaziergang entlang der Küste zurück nach St. Malo, mit Überquerung des Flusses Rance beim berühmten Gezeitenkraftwerk.

Mir hätten die Kräfte nicht für beides gereicht, und das Gezeitenkraftwerk interessierte auch mich. Ich beerdigte mein Projekt Dinard, zog mit Herrn T. durch lichte Wälder, dem Meer entlang. Meine Kräfte reichten dann gerade so bis zum Kraftwerk. Dort brodelte unter unseren Füssen die hereinkommende Flut durch die Turbinen wie ein vergessener Ehestreit.

Zum Attentat auf Donald Trump bitte bei piri nachlesen, ich unterschreibe jedes Wort.

*Manfred Görgens: „Bretagne“, DuMont Reise-Taschenbuch, 2., aktualisierte Auflage 2022, S. 68.