Wenn Funken sprühen

Normalerweise ist alles ganz einfach, wenn Dominik uns ein Stichwort für sein Projekt *txt gibt. Ich mache in meinem Kopf ein sandiges, dunkles Plätzchen frei. Dann setze ich Regisseurin Frogg davor auf einen Stuhl. Sie wartet. Irgendwann kommen die Ideenfünkchen, eins ums andere. Wir lassen sie Revue passieren, sich drehen und wenden – und plötzlich springt Regisseurin Frogg auf und ruft: „Das ist es!“ Dann machen wir aus dem Fünkchen ein Feuerwerk – oder versuchen es wenigstens.

Doch dann kam das fünfzehnte Stichwort. „‚Tanz'“, maulte Regisseurin Frogg. „So etwas Blödes!“ Und tagelang wagte sich nur ein einziges, müdes Fünkchen hervor: die Mauerblümchen-Episode. „Naja, dann werde ich mich eben wiederholen“, seufzte Regisseurin Frogg. Aber dann war ihr selbst das Sich-Wiederholen zu blöd.

Wir prügelten ein paar andere Fünkchen heraus. Die Erinnerung, wie das damals war in den Discos unserer Vorstädte. Wie wir die Haare im Licht der Leuchtkugeln flackern liessen. Wie die Jungs aus den Fabriken Luftgitarre spielten. Aber sorry, lästerte Regisseurin Frogg, das waren unsere kleinen Privat-Ekstasen – das ist doch keine Geschichte!

Da waren noch zwei, drei andere Fünkchen. Ich habe viel getanzt, schon als kleines Kind. Doch Regisseurin Frogg gähnte immer nur. „Das interessiert mich nicht“, sagte sie gereizt. „Diesmal passen wir.“

„Was ist denn los?“ bohrte ich nach. Da stand sie auf, schleuderte zornig ein paar Schreibwerkzeuge durch die Gegend und sagte: „Es ist die verdammte Schwerhörigkeit! Aber ich will nicht schon wieder über die verdammte Schwerhörigkeit labern!“

Da drehten wir uns um, denn plötzlich leuchtete eine richtige Flamme auf unserem Sandplätzchen. Es war die Erinnerung daran, wie ich zuletzt getanzt habe. Zu Hause, vor drei, vier Jahren – ich wusste schon, dass ich schwerhörig werden würde. Ich wusste schon, wie sich das anfühlt: Musik verliert ihren Geschmack, ihre klaren Linien, ihr Leuchten, mit dem sie uns mitten im Körper trifft. Damals konnte ich die Taubheit noch aufhalten. Ich tanzte gegen sie an – zu allem, was ich finden konnte – zu den Stones und Arcade Fire, zu 16 Horsepower, The Clash, Fleetwood Mac und dem Buena Vista Social Club. Ich tanzte wie eine Furie.

Diese Zeit kommt nicht wieder – aber deshalb muss mich niemand bemitleiden. Nie hat jemand getanzt wie ich damals. Schon die Erinnerung setzt mir fast die Kleider in Brand.

Freud’scher Verhörer

„Sie haben gestern Abend ihr ganzes Programm ungeplagt gespielt“, sagte Herr T. Er sprach von einer Band. „Ungeplagt?! Hä!?“ fragte ich. Aber Herr T. redete einfach weiter und irgendwann begriff ich: Er hatte nicht „ungeplagt“ sondern „unplugged“ gesagt.

Mir war wieder mal ein Mondegreen passiert. Mondegreens passieren Schwerhörigen oft: Man hört zu, es muss schnell gehen, man verhört sich. Ich habe auch schon über sie geschrieben – darüber, wie aus Bohnenallergikern Pollenallergiker werden und so. Oft sind sie einfach lustig. Aber manchmal geben sie wie Poesie etwas über den Seelenzustand eines Menschen preis.

So habe ich nach einem ungeplagten Konzert seit Jahren eine tiefe Sehnsucht. Ich meine: Ich gehe ja schon lange nicht mehr an Konzerte, denn Musik tut mir Menière-Patientin weh in den Ohren, ist immer zu leise oder zu laut oder beides gleichzeitig. Kurz: eine Plage.

Ich musste an Freud’sche Versprecher denken. Ihr wisst schon: Jene sprachlichen Fehlleistungen, bei denen wir unwillkürlich zum Besten geben, was wir wirklich denken oder uns wünschen. Ob es auch Freud’sche Verhörer gibt?

Ich habe auch noch ein paar neue Mondegreen-Müsterchen. „Trotz Sturm eingeweiht“, lautete die Schlagzeile zum riesigen Neubau auf dem Bild unten am 18. September am Schweizer Fernsehen:


(Bildquelle: handelszeitung.ch).

Ich hielt das Haus offenbar nicht für sehr wetterfest. Die Schlagzeile hiess in Wirklichkeit aber „Roche-Turm eingeweiht“.
Und am 16. September stellte ein Sprecher am Radio seinen Interviewpartner vor: „In Sachen Bankgeheimnis ist er vom Saurus zum Paulus geworden.“ Freud’sche Verhörer? Mutmasst selber!

Dies ist mein Beitrag zum Projekt *txt auf neonwilderness. Das dreizehnte Wort heisst „verstehen“.