Bedeutsame Gespräche in der Kaffee-Ecke

Franz Kafka, Quelle: Wikipedia.

Die Freiheit des einzelnen werde nur gestört „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Dies schrieb Franz Kafka 1913 an seine Verlobte Felice Bauer. Das Zitat fällt mir immer ein, wenn ich an die Kaffee-Ecke in unserem Grossraumbüro denke. Zum Glück ist sie klein, es herrscht dort kein Kaffee-und-Gipfeli-Gruppenzwang wie in anderen Büros, sondern ein planloses Kommen und Gehen. Aber immer, wenn ich dort jemandem begegne, frage ich mich: Ist das jetzt nur ein notwendiges menschliches Beisammensein oder möglicherweise mehr? Mit anderen Worten: Ist es angezeigt, dass ich mit dieser Person ein paar Worte wechsle? Oder reicht es, wenn ich grüsse, meinen Espresso hinunterkippe und wieder gehe?

Als hochgradig Schwerhörige habe ich das menschliche Beisammensein im Büro auf das Allernötigste reduziert. Kafka wäre glücklich in meiner Haut. Oder vielleicht auch nicht – es ist ja schwer, sich Franz Kafka glücklich vorzustellen. Ich bin es nicht. Als ich noch gut hörte, war ich eine unermüdliche Plaudertasche und arbeitete auch in einem Team. Dann verlor ich mein Gehör und wurde eine Ein-Frau-Abteilung. Vor der Pandemie pflegte ich noch den Kontakt mit den Leuten im Büro nebenan, zum Beispiel mit Kaja. Nach der Pandemie wurde unsere Bürolandschaft umgepflügt, ich kam in eine neue Ecke, dann kam der Krebs und danach hatte ich für längere Zeit einfach nicht mehr den Mumm, von vorne anzufangen und die Neuen kennenzulernen.

Die Kaffee-Ecke wäre eine Chance, Bekanntschaften zu schliessen. Aber wenn die neue Bekanntschaft in spe beim Nuscheln die surrende Kaffeemaschine anschaut, habe ich schon verloren. Und doch konnte ich beim stummen Kaffeetrinken nicht aufhören, mir die Frage zu stellen: Verpasse ich gerade ein Beisammensein, das eigentlich notwendig wäre? Oder einen Moment der Verbindung oder gar Verbündung? Verkannte Kafka nicht die Tatsache, dass uns das scheinbar unnötige Zusammensein mit Menschen eben auch einen Boden verschafft, auf dem wir uns bewegen können? Ich begann, obsessiv über meine Begegnungen in der Kaffee-Ecke nachzudenken. Ich könnte aus meinen Studien eine ganze, neue Rubrik machen. Aber ich erzähle in nächster Zeit einfach mal das, was ich für bedeutsam, ja, gar für lustig halte.

 

Beglückende Gespräche am Berg

Erhabener und etwas wolkiger Ausblick auf die Zentralschweizer Berge am vergangenen Wochenende.

Am letzten Wochenende kam meine Freundin Helga aus Deutschland zu Besuch. Wir hatten uns im September 2018 zum letzten Mal gesehen. Eine Epoche ist seither vergangen. Eine Zeit, die für mich trotz Aufruhr auf allen Seiten nicht arm war an beglückenden Erlebnissen – doch dieses Treffen war etwas vom Schönsten, was mir in den letzten fünf Jahren passiert ist.

Wir hatten während der Pandemie viel gechattet und – wenn ich gut genug hörte – auch telefoniert. Aber mich jetzt drei Tage lang von Angesicht zu Angesicht mit ihr  auszutauschen, was für eine Freude! Am zweiten Tag gingen wir in den Bergen spazieren. Gegen Abend bewegte uns eine dicke Wolke zum Umkehren – und als hätte das graue Gebilde uns dazu angeregt, kamen nun unsere düstersten Themen zur Sprache, auch meine Krebserkrankung im letzten Jahr. „Hast Du jetzt wieder Vertrauen in Deinen Körper gewonnen?“ fragte sie mich.

Ich antwortete spontan: „Ach weisst Du, ich habe nie sehr viel Vertrauen in meinen Körper gehabt!“ Was an sich nicht falsch ist, aber eben allzu düster und nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass ich während der Chemotherapie eine Kraft in mir entdeckte, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe. Ich kann sie nicht recht benennen, und ich weiss nicht, wie weit sie reichen wird. Aber es war gerade die Erkenntnis meiner Sterblichkeit, die etwas in mir veränderte. Ich meine: Wir alle wissen von Kindsbeinen an, dass wir sterben werden. Die Erkenntnis, dass es auch mir in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft passieren wird, scheint idiotisch. Und doch stand mir plötzlich klar vor Augen: Eines Tages wird alles von Dir ausgelöscht, sogar dein Bewusstsein! Das ist keine schöne Erkenntnis, aber er hat mir auch bewusst gemacht: Was Du jetzt nicht tust, tust Du vielleicht nie.

Ich habe den letzten Sommer schon fast vergessen, und auch die Kraft, die er mir geschenkt hat, droht manchmal verloren zu gehen. Danke Helga, dass Du sie mir noch einmal in Erinnerung gerufen hast!

Eine Erinnerung, die wirklich zählt

Im Spätsommer 1990 waren mein damaliger Liebster Konrad und ich nach mehr als 100 Radkilometern am Ziel: in Aberdaron, an einem der äussersten Nordwestzipfel von Wales. Wir verbrachten dort ein paar Tage mit meinem Freund Peter Cadle in einem Haus auf dem Hügel. In meiner Erinnerung ist der Sand dort strahlend hell. Aber es muss auch ein paarmal geregnet haben. Denn wir standen viele Stunden lang am Pool-Tisch im Pub.

Aberdaron, vor nicht allzu lange Zeit (Quelle: Wikipedia).

Im Haus auf dem Hügel waren wir zu fünft, und es gab eine einzige Regel: Wer hier zu Gast ist, muss mindestens einmal abends kochen. Damals war ich eine halbwegs kompetente Köchin, dennoch standen Konrad und ich vor einer Herausforderung. Denn Peter war Vegetarier, eine der Frauen dort vegan und eine weitere ass keinerlei Früchte. Das zog einen breiten Strich durch fast alles, was wir beiden so im Repertoire hatten.

Wir entschlossen uns, Bohneneintopf  zu machen. Wir fanden sogar riesige, getrocknete, Butterbohnen im Dorfladen. Wir hätten sie am Vorabend unseres Kochtermins in Salzwasser einlegen sollen, taten es aber erst am nächsten Nachmittag um 16 Uhr. So gab es an jenem Tag erst gegen 21.30 Uhr Dinner. Und die Bohnen waren immer noch nicht ganz weich.

Dennoch: Man verzieh uns, es wurde ein heiterer Abend. Es waren die Thatcher-Jahre. Wir diskutierten über die Poll Tax-Demos. Und Peter korrigierte auf liebenswürdige Weise mein Englisch, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen: „Pass auf, ‚backside‘ heisst: ‚der Hintern‘! Wenn du von der Hinterseite des Hauses sprichst, ist es einfach ‚the back‘!“ Es war eine wunderbare Gesellschaft.

Die Geschichte eignet sich auch, um zu erörtern, welche Reise-Momente zumindest mir oft nach vielen Jahren noch erinnerlich sind: ungewöhnliche Begegnungen oder besondere Treffen mit Freunden, klar. Aber bei Peter habe ich ganze Wochen in London verbracht, doch nur die Episode in Wales habe ich noch glasklar vor mir. Wir erinnern uns wohl eben auch gerne an Herausforderungen, die wir gemeistert haben, wenn auch vielleicht nicht mit Bestnoten. Bei den einen mag es eine Bergbesteigung sein. Bei mir war es halt der Bohneneintopf. Und dann habe ich mir die Episode wohl auch gemerkt, um es bei einem nächsten Mal besser zu machen, sprich: die Butterbohnen rechtzeitig einzulegen.

Obelix, aus dem bekannten Comic (Quelle: asterix.com)

Schliesslich gibt es das, was ich mittlerweile den Obelix-Moment nenne. Ihr wisst schon, Obelix, der Gallier, der auf seinen Reisen ins Ausland die Gewohnheiten der Menschen beobachtet und immer wieder sagt: „Die spinnen, die Römer!“ Oder: „Die spinnen, die Briten!“ In Aberdaron hatte ich den Obelix-Moment angesichts der für uns  skurrilen Essgewohnheiten unserer britischen Freunde. Obelix-Momente eignen sich auch hervorragend zur Unterhaltung einer Abendgesellschaft in der Heimat. So habe ich diese Anekdote oft wiedererzählt und dabei wohl neu im Gedächtnis abgespeichert.

Doch manche Obelix-Momente gehen tiefer. Ich glaube, sie sagen uns etwas darüber, wer wir sind und wie wir leben oder leben wollen. Über dieses Thema könnte ich Seiten füllen. Aber ich glaube, es reicht, wenn ich sage: In jenen Tagen habe ich gelebt, wie ich leben wollte – und ich hoffe, dass ich sie bis an mein Lebensende nicht vergessen werde.

Das Herz von England

    Die Kathedrale und Altstadt von Lincoln im Juni 2023

Das Herz von England liegt nicht in London. In London liegt das Hirn, liegen einige der wichtigsten Muskeln von England. Aber das Herz von England liegt in kleineren Städten, zum Beispiel in Lincoln, ungefähr in der Mitte zwischen London und Newcastle.  Wenn man im Herzen von England angelangt ist, sieht man das am Stadtbild. Meistens gibt es in solchen Städten eine Kathedrale und eine Burg oder wenigstens einen stolzen Landsitz. Es gibt Fachwerkhäuser, Pubs mit Butzenscheiben, Kopfsteinpflaster und sehr rote Postgebäude. Es gibt einen Fluss, in dem Trauerweiden ihre Äste baden und tief liegende Wolken. Es gibt Cafés, in denen man Dinge wie Cheddarkäse auf Früchtebrot, Scones mit sehr dicker Sahne oder Cheesecake essen kann. Es gibt ein sorgfältig gepflegtes Geschichtsbewusstsein.

Das sehr rote Postgebäude in der Altstadt von Lincoln.

Lincoln war im Mittelalter dank florierendem Export von Wolle eine reiche Stadt. Ab 1027 baute man eine Kathedrale, heute ein atemberaubender Anblick, aussen und innen. Die Hooligans hatten uns hergebracht, sie verwöhnten uns mit diesem Ausflug, wir genossen jede Minute. Die Altstadt ist richtig schnuckelig, mit verwinkelten Gässchen und hübschen Läden. Belebt, aber nicht überlaufen. „Ihr hättet das alles vor der Pandemie sehen sollen!“ sagte Diamond Eye. „Es waren so viele Leute in den Gassen, dass es  ein Fussgängerleitsystem gab. Links ging man hoch, rechts kam man herunter.“ War ich froh, dass wir nach der Pandemie gekommen waren!

Es gibt in Lincoln auch eine Burg mit Museum. Dort ist eine der vier ersten Abschriften der Magna Charta von 1215 zu sehen (was das für ein Dokument ist, ist hier einfach erklärt). Es wird auch im Museum selbst gut erklärt, weshalb dieses Dokument so bedeutsam ist, für die Rechtsordnung sehr vieler Staaten. Museumsdidaktisch sind sie im Vereinigten Königreich top. Da starrt man nicht einfach ehrfürchtig ein tintiges Stück Pergament in einer Vitrine an. Da gibt es immer auch kleine, gut verständlich geschriebene Texttäfelchen (ideal für Schwerhörige). Auf so einem Täfelchen stand, dass die Magna Charta der Anfang der Gleichheit aller vor dem Gesetz war.

Wir streiften weiter durch das Herz von England und stellten abseits der meistbegangenen Fussgängerpassagen fest: seine Kranzgefässe kränkeln ein bisschen. Am Rande der Altstadt und an den Ausfallstrassen: auffallend viele geschlossene Ladenlokale, die Schaufenster oft mit Brettern vernagelt. Auch in respektablen, gut erhaltenen Bauten. Herr T. erkundigte sich bei Eagle Nose nach den Gründen. Dieser gab sich wortkarg: „Ungünstiges ökonomisches Klima.“ Aber aus seinen Briefen weiss ich: Er denkt, dass es nicht zuletzt am Brexit liegt. Und er denkt, dass der Brexit mehr ist als ein kleiner Konjunkturknick, ein Klacks angesichts von Hunderten Jahren Geschichte. „Mir tun die jungen Leute leid, von denen so viele jetzt um ihre Zukunft betrogen werden“, hat er einmal geschrieben.

 

Ferien im Vereinigten Königreich

Abend am Pier von Llandudno, Wales

Gestern Abend sind Herr T. und ich aus unseren dreiwöchigen Ferien in England und Wales zurückgekommen. Von Anfang an war diese Reise von einer eigenartigen Wehmut durchtränkt. Sie lässt sich schwer mit zehn effektvollen Highlights feiern, sie braucht Stimmungsbilder.

Sie braucht das Meer, immer wieder das Meer. Stundenlang haben wir an den Stränden von Wales die Gezeiten beobachtet. Wir haben zugeschaut, wie es an einem Sommerabend vor einem Pub am Strait of Menai langsam Ebbe wurde. Im Lokal stieg der Alkoholpegel, junge Männer vergnügten sich auf Gaelisch. Draussen sank der Wasserspiegel und legte nach und nach Kiesbuckel frei. Zwischen ihnen stelzten Vögel und suchten mit langen Schnäbeln nach Futter.

Sie braucht die Gespräche mit unseren Freunden, den Hooligans. Wir kamen bei ihnen an, in der Nähe von Peterborough, und waren noch voll von diesem unwirklichen Gefühl, das man nach einer neunstündigen Zugreise in ein fremdes Land hat. Wir setzten uns an ihren Tisch, gefasst auf ein Stündchen leichte Konversation. Aber Diamond Eye kam sofort zu Sache. Sie hat eine schreckliche Geschichte mit ihrer Familie durchgemacht und war vor Entsetzen dem Tod nahe gewesen. Sie musste alles erzählen. Sie ist über 70. Einst schien sie mir vor Kraft und Fröhlichkeit zu strotzen, ihr einige Jahre jüngerer Ehemann Eagle Nose erst recht. Aber beide sind gezeichnet von schlechten Zeiten und schlechten Nachrichten. So seltsam es klingt: Ich hätte nie gedacht, dass sie älter werden könnten. Bei Menschen, die oft sieht, merkt man das nicht so. Aber Freunde, die man acht Jahre lang nicht getroffen hat, halten einem den Spiegel hin. Auch wir sind älter geworden.

Sie braucht die Unruhe des Lebens aus der Reisetasche. Alle zwei Tage morgens abreisen und am Nachmittag ankommen in einer neuen Stadt, einem neuen Zimmer. Fremdeln. In einigen Städten in Wales vor den verlassenen, öden Ladenstrassen mitten im Zentrum erschrecken. Die schwierige ökonomische Lage, hatte uns Eagle Nose gewarnt. Ungetröstet einschlafen und am Morgen einen Ort suchen, an dem wir uns wohlfühlten. Hier ein bunt angemaltes Café mit gutem Cappuccino oder auch nur ein Billardtisch in einem Pub. Dort ein verborgener botanischer Garten am Stadtrand. Oder der Strand. Den Menschen dankbar sein, die sich hier in Würde eingerichtet haben, uns anlächeln und uns fragen, wo wir herkommen. Weiterreisen.

Sie braucht die Wachheit, mit der ich in den ersten Tagen alles sah und registrierte und innerlich beschrieb. Und dann, nach zehn Tagen dieses Gefühl, vom vielen Reisen glattgeschliffen und stumm zu sein und mitgerissen zu werden wie ein Kiesel im Fluss.

Sie braucht die pralle Dynamik von London, die Fleischigkeit dieser Stadt, ihre Gier und ihre Lebensfreude.

Sie braucht das verschmitzte Lächeln meines Patensohns Tim, seine ruhige, abwägende Art. Und sie braucht die liebenswürdige und sehr hilfreiche Wohlorganisiertheit seiner grossen Schwester Mina.

Sie braucht eine Anekdote zum Schluss. Ich stehe in Greenwich, London, vor einem Kaffeestand. Es ist ein strahlender Tag, 30 Grad. Die Betreiberin des Standes ist kurz weg, aber ein Sicherheitsmann bewacht ihn. Ich warte. Wir stehen da und betrachten die Mineralwasserfläschchen auf dem Tresen. „Sind die aus Glas oder aus Plastik?“ frage ich. „Made of glass“, sagt der Sicherheitsmann, „the water must be quite warm by now. You could probably make a cup of tea with it.“

Warum ich den Frauenstreik schwänze

Am Mittwoch, 14. Juni findet in den Schweizer Städten wieder ein Frauenstreik  statt – pardon, ein „feministischer Streik“, wie es dieses Jahr heisst. Der dritte seit 1991, wenn ich richtig gezählt habe. Ich werde nicht daran teilnehmen, obwohl ich mich selbst als Feministin sehe und auch mit den Zielen der Kundgebung grundsätzlich einverstanden bin. Ich finde insbesondere, dass es bei den Frauenrenten Verbesserungen braucht. Ich schwänze die Aktion dieses Jahr trotzdem – weil ich eine Verabredung zum Wandern mit meinem alten Freund Chäppeli habe. Der einzige gemeinsame Termin, den wir vor der Sommerpause finden konnten. Ich habe mittwochs fast immer frei.

Ich möchte aber anmerken, dass ich Mühe mit der Gender-Politik der jungen feministischen Organisationen habe. Ich bin eine Frau, keine Flinta oder Flintaq (oder was immer für ein seltsamer Begriff als nächstes kommen wird). Mir ist zwar wohl bewusst, dass diejenigen, die sich bezüglich ihrer Geschlechteridentität nicht festlegen wollen, zum Teil harsche Diskriminierungen erleiden. Ich verurteile diese Diskriminierungen und bin solidarisch mit jede*r queeren Person, die für ein freies, glückliches Leben kämpft.

Aber man kann in meinen Augen keine Politik für Frauen machen, indem man den Begriff „Frau“ abschafft. Und: Im politischen Kampf für die Interessen von Frauen brauchen wir Mehrheiten. Diese finden wir bei anderen Frauen, und seien es jene der politischen Mitte. Es beginnt mit dem Wort „feministischer Streik“, das als Inklusionsgeste für Flintaqs gemeint ist, weil *man* das Wort „Frau“ ja nicht mehr gebrauchen darf. Wenn man mit dem Kampfbegriff „feministischer Streik“ aber bürgerliche Frauen  ausschliesst, dann marginalisieren wir uns selbst, und das nützt dann auch den Flintaqs nichts. Ich weiss keine Lösung für das Problem, ich weiss nur: Das kann es nicht sein.

Als ich die Verabredung mit Chäppeli ausgerechnet am Frauenstreiktag traf, habe ich mich gefragt: Ist es richtig, eine politische Bewegung, in der ich mich beheimatet fühle, zu Gunsten alter Freundschaften zurückzustellen? Gerade jetzt, wo die Frauenbewegung meine Aufmerksamkeit braucht und ich wissen möchte, wo ich darin überhaupt stehe? Ich überlegte und kam zum Schluss:  Nein, ich gehe wandern. Denn alte Freunde bleiben, wenn man richtig mit ihnen umgeht. Politische Bewegungen aber bewegen sich manchmal von einem weg, und man kann gar nichts dagegen tun.

 

Ein beglückendes Erlebnis

Das Klimaspuren-T-Shirt von der grossen Wanderung 2021, das am Wochenende viele trugen.
Gestern habe ich habe ich darüber berichtet, wie ich beinahe Einsiedlerin geworden wäre. Ich muss jedoch unbedingt hinzufügen, dass die Klimagespräche in Flüeli-Ranft (wegen denen ich überhaupt dort oben war) für mich schliesslich eine überraschend glückliche Wendung nahmen. Es ist ja so: Die Gespräche waren ein grosses Stelldichein der Klimapsuren-WandererInnen von 2021. Das T-Shirt zu diesem Marsch zeigt lauter kleine Punkte, die man durchaus als Fussspuren interpretieren kann. Dass einige von ihnen am vergangenen Wochenende durch meinen unwegsamen Gehörgang und damit auch direkt zu meinem Herzen führten, erfüllt mich mit grosses Dankbarkeit.

Der erste, der mich erreichte, war Walter, ein älterer Herr, beim Mittagessen. Er wusste bereits, dass ich in einem vollen Speisesaal nur schwer ansprechbar bin. Trotzdem sagte er nach dem ersten Gang mit einem väterlich-pfiffigen Lächeln: „So, nun gib mir mal Deinen Salatteller mit, damit …“, den Rest verstand ich nicht. Doch mir klar, dass er die Ablage für gebrauchtes Geschirr gefunden haben musste, nach der ich vergeblich Ausschau gehalten hatte. Mein Ärmel hing deshalb beinahe in das zur Seite gestellte Geschirrstück mit Sauce. Walter trug unsere Salatteller weg, und als er zurückkam fasste ich ich Zutrauen zu ihm und seinem Bündnerdialekt. Uns gelang dann tatsächlich eine kleine Konversation, er hat sich bestimmt ganz schön angestrengt. Er berichtete von einer eigenhändig lancierten Petition zu Handen des Churer Gemeinderates, mit der er erfolglos versucht hatte, den Bau einer neuen Strasse zu verhindern. Man beschied ihm, die breite Öffentlichkeit sei bei dieser Sache gar nicht mitspracheberechtigt. So plauderten wir ein wenig über politische Rechte und die Demokratie. Und über das Paralleluniversum, in dem Klimakämpfer leben.

Referent Dominik Siegrist fragte extra bei mir nach, ob er sein Referat zum Thema „Fallen uns die Berge auf den Kopf?“ besser mit oder ohne Mikrofon halten solle. „Ohne“, sagte ich, „einfach deutlich sprechen reicht.“ Und wirklich: Ich habe fast alles verstanden, ausserdem war da eine hilfreiche Power Point-Präsentation. Klimaschutz plus Inklusion, nennt man das wohl.

Später, beim Essen, kamen Annette und Harry vorbei, die ich schon ein paar Jährchen kenne, und wir plauderten ein bisschen unter freiem Himmel, unter anderem übers Zügeln.

Dazu, dass all dies überhaupt möglich war, hat Herr T. viel beigetragen. Ich unterschätze seinen Einsatz manchmal ein bisschen, und wenn ich unleidlich werde, ist er immer der Betroffene. Aber dafür, dass da oben schliesslich doch einiges möglich war, war es sicher der Wegbereiter.

Drei Sätze

Der Satz, der meinen Atem stocken liess: „Doch, Sie werden Ihre Haare verlieren.“ (Breast Care Nurse H., am Mittwoch, 13. April).

Der Satz, der mich mit namenlosem Entsetzen erfüllte: „Gestern kam unser Nachbar vorbei, und dann haben wir zusammen die Atomschutzbunker in unserem Haus inspiziert.“ (Mein Bruder, Andreas F., Ökonomieprofessor und Leutnant ad., am Ostersonntag, 17. April).

Der Satz, der mich frisch und fröhlich machte: „Es ist alles gut verheilt, jetzt dürfen Sie ihren Arm wieder über die Schulter heben.“ (Chirurgin B., am Mittwoch, 13. April).

Der Bilderstreit II – eine Homestory

Mein letzter Beitrag endete mit einem Cliffhanger. Ich will Euch nicht länger auf die Folter spannen, sondern berichte hiermit, wie es mit unserem Bilderstreit in der Silvesternacht weiterging. Paulina und Frau Wolf gelobten Takt und Sorgfalt bei der Bewertung unserer Bilder. Flugs erstellten sie eine Tabelle mit Kriterien zur Bewertung der präsentierten Werke. Dann setzten sie sich zu Yasmin aufs Sofa. Herr T. lehnte eins ums andere der Bilder an den Fernseher, frei zur Betrachtung. Mit fast schon komischem Eifer diskutierten die drei nun über die Qualitäten eines jeden. Dabei umschifften sie den Konflikt zwischen Herrn T. und mir elegant. Sie bekundeten aber durchaus Interesse an der Tatsache, dass jedes dieser Bilder für uns eine Geschichte hat. Einige hatte Herr T. von Künstlerinnen oder Künstlern als Dank für eine Website-Gestaltung bekommen. Eines ist eine Landschaft in fetten Pinselstrichen von seinem Primarlehrer Hermann Maltry. Herr T. hat das Bild von seinen Eltern geerbt, die Maltry recht gut kannten. Dass dieser als Künstler heute noch gehandelt wird, überrascht wenig, der Mann war ein Könner. Das Gemälde links habe ich vom Maler Thomas Muff zu einem günstigen Preis erworben, weil ich es immer ansehen wollte (hier die Geschichte dazu. Es ist ziemlich abstrakt, meine Freundinnen konnten sich nur schwer einen Reim darauf machen. Aber mich führt es geradewegs in die Gehölze meiner Kindheit, und ich hatte darauf beharrt, dass dieses Bild und kein anderes über das Sofa gehöre. Eine Serie mit farbigen Quadraten stammt aus dem Nachlass meiner Freundin Monika Obermayr, die ich immer noch vermisse.

Kurz vor Mitternacht dann das Verdikt der drei Jurorinnen: „Nehmt die Landschaft von Maltry und noch ein paar kleinere dazu.“

Als draussen das Silvestergeböller so richtig losging, fühlten Herr T. und ich uns drinnen reich beschenkt vom Leben und von unseren Freundinnen und begruben unseren Bilderstreit. Ich werde diese Einigung fortan das Silvesterwunder nennen.

Noch bevor ich am 3. Januar zurück ins Büro ging, packte Herr T. Hammer und Nägel aus. Da hatte ich einen Moment des Zweifels. Ein letztes Mal betrachtete ich die unberührten Wände der Wohnung, die wir vor zweieinhalb Jahren neu bezogen hatten. Eine gewisse Scheu hatte mich immer davon abgehalten, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Vielleicht hatte ich die Auswahl der Bilder auch hinausgezögert, weil ich mich davor fürchtete, diese Wände mit Nägeln zu traktieren und die Wohnung so definitiv als unsere zu markieren. Herr T. hat es dann für mich getan. Er hat den Maltry und die vier Quadrate von Monika Obermayr über dem Sofa aufgehängt.

Endlich: Wir haben Bilder über unserem Sofa.

Der Bilderstreit I

An Silvester kamen drei Freundinnen von mir zu uns zu Besuch: Frau Wolf, Yasmin und Paulina (mit der ich mich glücklich versöhnt habe). Die drei sassen so auf unserem Sofa, da entdeckte Frau Wolf einen Stapel von diskret hinter einem Schrank verstauten Kartonmappen. „Ihr habt Eure Bilder immer noch nicht ausgepackt!“ stellte sie fast vorwurfsvoll fest. Nicht ganz zu Unrecht, denn wir wohnen seit zweieinhalb Jahren an der Vrenelisgärtlistrasse und hatten noch immer keinen Wandschmuck. Überall nur unberührte, weisse Wände.

„Ach, wir konnten uns nicht so recht einigen, wie wir sie aufhängen sollen“, wiegelte ich ab, und dann rief Herr T. zum Essen. Aber als sich der Abend ein wenig in die Länge zu ziehen begann, kam das Thema wieder aufs Tapet. Frau Wolf schlug vor, wir könnten die Bilder doch wenigstens mal auspacken und anschauen. Herr T. war nicht glücklich. Ich aber gab mich begeistert: „Tolle Idee! Ihr drei seid ja als Kunstgutachterinnen bestens qualifiziert!“ Paulina ist Nebenfach-Kunsthistorikerin, Frau Wolf hat einmal eine Kunstgewerbeschule besucht und Yasmin hat ein untrügliches Auge für das Schöne. Nach längerem Zögern willigte auch Herr T. ein.

Während er und Yasmin die Bilder auspackten, begleitete ich Frau Wolf und Paulina bei ihrer Rauchpause auf dem Balkon. Jetzt musste ich wenigstens ihnen beiden erklären, was wirklich hinter der Sache mit den nie ausgepackten Bildern steckte: ein handfester Bilderstreit zwischen Herrn T. und mir. Die Einzelheiten werde ich hier nicht breitschlagen, nur so viel: Herr T. wollte ein Gemälde von einer bestimmten Künstlerin kaufen und an die repräsentative Wand direkt über dem Sofa hängen. Es ist eine Künstlerin, von der ich partout kein Bild in unserem Wohnzimmer will. Irgendwann hatten wir aufgehört über das Thema zu streiten. Es herrschte Blockade. Eigentlich eine ganz heikle Sache, über die Bilder jetzt zu fünft und bei leicht angehobenem Alkoholpegel zu diskutieren. Auf keinen Fall wollte ich, dass meine Freundinnen direkt für mich Partei ergreifen und Herrn T. dämlich dastehen lassen würden. „Ich will nur die Blockade lösen“, schärfte ich zu den beiden ein. „Ich zähle auf eure Sozialkompetenz.“

Ob das gut herauskam? Das erzähle ich Euch beim nächsten Mal.