Schwerhörig: Mit dem Mikrofon in den Buchclub?

Soll ich als hochgradig Schwerhörige meinen Kolleginnen und Kollegen im Buchclub immer wieder sagen, dass ich schlecht höre? „Unbedingt, und nicht nur das“, findet meine Kollegin, Frau Wolf, selbst hochgradig schwerhörig. Sie ist ebenfalls in einem Buchclub und nimmt an alle Sitzungen ein Mikrofon mit. Stets achtet sie darauf, dass es im offiziellen Teil der Sitzung konsequent bei jeder Wortmeldung weitergereicht wird und alle Sprechenden es benutzen.

Ich weiss nicht recht“, sage ich. „Ich verstehe rund 40 Prozent von dem, was gesagt wird. Oft reicht das. Und viele Frauen kommen nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Buchclub, und nachdem sie ihre Kinder versorgt haben. Die wollen einfach ein bisschen Spass haben und nicht auch noch auf Leute wie mich Rücksicht nehmen müssen! Ja, wenn es eine berufliche Weiterbildung wäre, würde ich auf bestmögliche Teilhabe pochen. Aber im Buchclub?!“ Frau Wolf denkt nach und fragt: „Wie viele Teilnehmde sind es?“ Ich: „So 15 bis 20.“ Sogar Frau Wolf räumt ein, dass es da sehr viel Zeit brauchen würde, für jede Wortmeldung das Mikrofon herumzureichen.

Leben in der Trump-Ära: Im Buchclub

In der Englisch-Lesegruppe sass plötzlich eine Amerikanerin neben mir. Ich hatte sie zuvor noch nie gesehen. Dass sie Amerikanerin ist, hörte ich an ihrer Aussprache. Kaum hatte sie zum ersten Mal den Mund aufgemacht, rang ich gegen ein Gefühl, das ich zuvor noch nie gehabt hatte: hochschiessende Abneigung gegen einen Menschen, nur wegen seiner Nationalität.

Wir diskutierten lauwarm über ein Buch, das niemanden von uns so richtig angesprochen hatte. Plötzlich begann jemand, über eine Trump-Biografie zu sprechen, die er gerade liest. Laute des Unmuts wurden hörbar. Die Amerikanerin beeilte sich zu sagen: „Ich habe ihn nicht gewählt.“

Schwerhörig mit fünf Leuten essen gehen

Als Schwerhörige habe ich grosse Mühe damit, in einem vollen Restaurant ein Gespräch zu führen. Ich habe erst recht Mühe, mit sechs Bekannten am selben Tisch im vollen Restaurant zu sitzen. Zuerst muss ich jeweils sicherstellen, dass ich mit dem besseren Ohr zur Tischgesellschaft platziert bin. Der Rest, also zuhören, ist oft: Mühe. Manchmal ist man dann auch noch die einzige mit gesundheitlichen Problemen und spüre wenig Verständnis. Ich nehme an solchen Anlässen deshalb nur dann teil, wenn es nicht anders geht. Oder wenn ich mir Hoffnung machen kann, dass dabei auch etwas Freude für mich herauskommt.

Das Treffen letzte Woche auf der Melchsee-Frutt erfüllte meine Hoffnung voll und ganz. Nicht nur waren die Gespräche mit den alten und den neuen Freundinnen und Freunden heiter und klug. Die Freunde waren offen für alle erdenklichen Themen, sie waren respektvoll, ja, hilfsbereit! Was es an Mühe gab, wurde durch Freude mehr als aufgewogen. Gewiss hatte es auch damit zu tun, dass die anderen selbst nicht mehr ganz jung sind und erste gesundheitliche Rückschläge erlebt haben. Aber nicht nur. Sie haben eine wunderbare Kultur des Aufeinander zu Gehens.

Überhaupt: Es war ein schönes Erlebnis, ich lächle rückblickend, bin allen sehr dankbar, für alles! Und ich hoffe, dass ich auch gute Gesellschaft war.

Schweizerdeutsch 23: Auf dem Bauernhof

Zobig (N, m oder n)

Standarddeutsch wörtlich: „Zu Abend“, eine Zwischenmahlzeit.

Erläuterung: Wir Städter essen kaum noch Zobig, die Leute auf dem Land schon, meist so um 16 oder 17 Uhr. Auf dem Bauernhof wird nach dem Zobig noch gemolken, erst dann gibt es Znacht. Als ich ein Kind war, waren wir manchmal bei meinem Onkel auf der Winterweid zum Zobig. Dort war mein Vater aufgewachsen.

Es kamen alle, die dort wohnten, bei der Ernte geholfen hatten oder sonst gerade in der Gegend waren : „de Vatter“ (Grossvater), „de Onku Wiisu“ (Grossonkel Alois, der Knecht), Onkel Jakob, Tante Lisebeth oder Tante Theres, in den siebziger Jahren nach und nach drei kleine Cousinen und ein kleiner Cousin und wir vier aus der Stadt. Oft rumpelte auch noch Onkel Kari mit seinem alten Chlapf durch die Einfahrt, manchmal waren Handwerker da oder weitere Verwandte. Es konnte laut und fröhlich werden.

Die Leute kamen vom Heuen oder aus dem Stall, durch die Haustür direkt in die grosse Küche. Ein langer Tisch füllte den Raum, hinten links war „de Füürhärd“, die eiserne Feuerstelle, die zugleich Kochherd und Heizung war. Es gab Most, Brot und Käse aus der nahen „Chääsi“, „und weissen Kaffee“, erinnert sich mein Vater, also Kaffee mit Rahm von der eigenen Milch. „Anke“, also Butter, gab’s auch. „Aber damit waren sie sparsam“, sagt mein Vater heute. Und: „Überhaupt: Alles andere wäre Luxus gewesen.“

An der Decke hingen klebrige Fliegenfänger wie Zapfenlocken, Fliegen hatte es trotzdem, und unter dem Tisch tummelten sich Katzen jeden Alters, mehr oder weniger gesund. Ich liebte die Katzen.

Danke Edith, Du hast mit Deiner Frage nach dem Zobig eine Flut von Erinnerungen ausgelöst! Falls jemand Fragen hat: gerne!

Neujahrsvorsätze für’s Bloggen

Andere mögen ihre Vorsätze für 2025 schon wieder gebrochen haben. Ich schreibe sie erst jetzt auf, nämlich: Ich will mich hier, auf meiner Spielwiese, auf die Schweizerdeutsch-Lektiönli und kleine Geschichten über die Schwerhörigkeit konzentrieren. Und: Ich will mich kürzer fassen.

Wer längere Beiträge von mir sucht, sei auf den Blog journal-f.ch verwiesen, den ich mit meiner Kollegin, Frau Frei, unterhalte. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Frau Frei, die dort mitschreibt, vor- und mitdenkt und dafür sorgt, dass alles tiptop aussieht.

Und: Ich will mehr Blogs lesen.

Ich habe bereits gemerkt, dass das alles nicht so leicht durchzuhalten ist, wie ich geglaubt habe. Oft schlafe ich schlecht, dann lasse ich dem rasenden Textgenerator in meinem Kopf freien Lauf. Gestern kam etwas Seltsames mit dem Magen dazu, und plötzlich war ich restlos erschöpft. Das hat die Frage aufgeworfen, ob ich im neuen Jahr nicht auch etwas mehr auf meine Gesundheit achten sollte. Man nennt das Zielkonflikt.

 

Kleine Respektlosigkeit in Gebärdensprache

„Geige“ und „langweilig“ in Gebärdensprache (Quelle: signdict.org)

„Wisst Ihr, was ‚langweilig‘ in Gebärdensprache heisst?“ fragte Frau Wolf. Sie und Frau Rinaldini waren am Silvester bei uns zu Besuch. Frau Rinaldini ist gehörlos, so übten wir uns ein bisschen im Gebärden. Frau Wolf machte die Gebärde im Bild (die ganze Bewegung hier). Als Kind der Rock-Generation würde ich das als „Luftgeige spielen“ bezeichnen. Das also heisst „langweilig“! Ich lachte schallend – für mich war diese kleine Respektlosigkeit gegenüber Geige Spielenden ein Volltreffer. Nicht wegen der Geige Spielenden selbst: Als ich noch gut hörte, wusste ich Streichkonzerte durchaus zu geniessen. Jetzt besuche ich kaum mehr welche. Und wenn, dann sehe ich die Leute vom Orchester hingebungsvoll fiedeln und frage mich die ganze Zeit: Wozu nur die Anstrengung?! Ich höre ja keine Melodien mehr. Bei mir ist das alles Brei.

Bei Rock-Konzerten muss ich ausserdem die Hörgeräte abstellen, weil mir der Sound zu laut ist. Dann höre ich fast gar nichts mehr. Beim letzten Konzert studierte ich eine Stunde lang die Mimik der Lead-Sängerin, einer schalkhaften Engländerin. Als könnte ich auf ihren Gesichtszügen die Botschaft lesen, die die Musik mir hätte vermitteln sollen. Etwas in mir wollte einfach nicht akzeptieren, dass das aussichtslos ist. Es war ein sehr ermüdender Abend.

Ich muss hier unbedingt anfügen: Es gibt eine allgemein gebräuchliche Gebärde für „langweilig“ (siehe hier). Ich weiss nicht, ob das, was uns Frau Wolf verriet, allgemein gebräuchlich ist, lasse darüber aber gern die Expertinnen in meiner Leserschaft zu Wort kommen. Und: Es gibt Menschen mit Hörminderung, die Musik gut und auch gerne hören (zum Beispiel sori1982).

Aber ich fand dieses spöttische, kleine Zeichen der Komplizenschaft und des Desinteresses unter Minderbemittelten sehr vielsagend.

Bedeutsame Gespräche in der Kaffee-Ecke

Franz Kafka, Quelle: Wikipedia.

Die Freiheit des einzelnen werde nur gestört „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Dies schrieb Franz Kafka 1913 an seine Verlobte Felice Bauer. Das Zitat fällt mir immer ein, wenn ich an die Kaffee-Ecke in unserem Grossraumbüro denke. Zum Glück ist sie klein, es herrscht dort kein Kaffee-und-Gipfeli-Gruppenzwang wie in anderen Büros, sondern ein planloses Kommen und Gehen. Aber immer, wenn ich dort jemandem begegne, frage ich mich: Ist das jetzt nur ein notwendiges menschliches Beisammensein oder möglicherweise mehr? Mit anderen Worten: Ist es angezeigt, dass ich mit dieser Person ein paar Worte wechsle? Oder reicht es, wenn ich grüsse, meinen Espresso hinunterkippe und wieder gehe?

Als hochgradig Schwerhörige habe ich das menschliche Beisammensein im Büro auf das Allernötigste reduziert. Kafka wäre glücklich in meiner Haut. Oder vielleicht auch nicht – es ist ja schwer, sich Franz Kafka glücklich vorzustellen. Ich bin es nicht. Als ich noch gut hörte, war ich eine unermüdliche Plaudertasche und arbeitete auch in einem Team. Dann verlor ich mein Gehör und wurde eine Ein-Frau-Abteilung. Vor der Pandemie pflegte ich noch den Kontakt mit den Leuten im Büro nebenan, zum Beispiel mit Kaja. Nach der Pandemie wurde unsere Bürolandschaft umgepflügt, ich kam in eine neue Ecke, dann kam der Krebs und danach hatte ich für längere Zeit einfach nicht mehr den Mumm, von vorne anzufangen und die Neuen kennenzulernen.

Die Kaffee-Ecke wäre eine Chance, Bekanntschaften zu schliessen. Aber wenn die neue Bekanntschaft in spe beim Nuscheln die surrende Kaffeemaschine anschaut, habe ich schon verloren. Und doch konnte ich beim stummen Kaffeetrinken nicht aufhören, mir die Frage zu stellen: Verpasse ich gerade ein Beisammensein, das eigentlich notwendig wäre? Oder einen Moment der Verbindung oder gar Verbündung? Verkannte Kafka nicht die Tatsache, dass uns das scheinbar unnötige Zusammensein mit Menschen eben auch einen Boden verschafft, auf dem wir uns bewegen können? Ich begann, obsessiv über meine Begegnungen in der Kaffee-Ecke nachzudenken. Ich könnte aus meinen Studien eine ganze, neue Rubrik machen. Aber ich erzähle in nächster Zeit einfach mal das, was ich für bedeutsam, ja, gar für lustig halte.

 

Beglückende Gespräche am Berg

Erhabener und etwas wolkiger Ausblick auf die Zentralschweizer Berge am vergangenen Wochenende.

Am letzten Wochenende kam meine Freundin Helga aus Deutschland zu Besuch. Wir hatten uns im September 2018 zum letzten Mal gesehen. Eine Epoche ist seither vergangen. Eine Zeit, die für mich trotz Aufruhr auf allen Seiten nicht arm war an beglückenden Erlebnissen – doch dieses Treffen war etwas vom Schönsten, was mir in den letzten fünf Jahren passiert ist.

Wir hatten während der Pandemie viel gechattet und – wenn ich gut genug hörte – auch telefoniert. Aber mich jetzt drei Tage lang von Angesicht zu Angesicht mit ihr  auszutauschen, was für eine Freude! Am zweiten Tag gingen wir in den Bergen spazieren. Gegen Abend bewegte uns eine dicke Wolke zum Umkehren – und als hätte das graue Gebilde uns dazu angeregt, kamen nun unsere düstersten Themen zur Sprache, auch meine Krebserkrankung im letzten Jahr. „Hast Du jetzt wieder Vertrauen in Deinen Körper gewonnen?“ fragte sie mich.

Ich antwortete spontan: „Ach weisst Du, ich habe nie sehr viel Vertrauen in meinen Körper gehabt!“ Was an sich nicht falsch ist, aber eben allzu düster und nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass ich während der Chemotherapie eine Kraft in mir entdeckte, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe. Ich kann sie nicht recht benennen, und ich weiss nicht, wie weit sie reichen wird. Aber es war gerade die Erkenntnis meiner Sterblichkeit, die etwas in mir veränderte. Ich meine: Wir alle wissen von Kindsbeinen an, dass wir sterben werden. Die Erkenntnis, dass es auch mir in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft passieren wird, scheint idiotisch. Und doch stand mir plötzlich klar vor Augen: Eines Tages wird alles von Dir ausgelöscht, sogar dein Bewusstsein! Das ist keine schöne Erkenntnis, aber er hat mir auch bewusst gemacht: Was Du jetzt nicht tust, tust Du vielleicht nie.

Ich habe den letzten Sommer schon fast vergessen, und auch die Kraft, die er mir geschenkt hat, droht manchmal verloren zu gehen. Danke Helga, dass Du sie mir noch einmal in Erinnerung gerufen hast!

Eine Erinnerung, die wirklich zählt

Im Spätsommer 1990 waren mein damaliger Liebster Konrad und ich nach mehr als 100 Radkilometern am Ziel: in Aberdaron, an einem der äussersten Nordwestzipfel von Wales. Wir verbrachten dort ein paar Tage mit meinem Freund Peter Cadle in einem Haus auf dem Hügel. In meiner Erinnerung ist der Sand dort strahlend hell. Aber es muss auch ein paarmal geregnet haben. Denn wir standen viele Stunden lang am Pool-Tisch im Pub.

Aberdaron, vor nicht allzu lange Zeit (Quelle: Wikipedia).

Im Haus auf dem Hügel waren wir zu fünft, und es gab eine einzige Regel: Wer hier zu Gast ist, muss mindestens einmal abends kochen. Damals war ich eine halbwegs kompetente Köchin, dennoch standen Konrad und ich vor einer Herausforderung. Denn Peter war Vegetarier, eine der Frauen dort vegan und eine weitere ass keinerlei Früchte. Das zog einen breiten Strich durch fast alles, was wir beiden so im Repertoire hatten.

Wir entschlossen uns, Bohneneintopf  zu machen. Wir fanden sogar riesige, getrocknete, Butterbohnen im Dorfladen. Wir hätten sie am Vorabend unseres Kochtermins in Salzwasser einlegen sollen, taten es aber erst am nächsten Nachmittag um 16 Uhr. So gab es an jenem Tag erst gegen 21.30 Uhr Dinner. Und die Bohnen waren immer noch nicht ganz weich.

Dennoch: Man verzieh uns, es wurde ein heiterer Abend. Es waren die Thatcher-Jahre. Wir diskutierten über die Poll Tax-Demos. Und Peter korrigierte auf liebenswürdige Weise mein Englisch, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen: „Pass auf, ‚backside‘ heisst: ‚der Hintern‘! Wenn du von der Hinterseite des Hauses sprichst, ist es einfach ‚the back‘!“ Es war eine wunderbare Gesellschaft.

Die Geschichte eignet sich auch, um zu erörtern, welche Reise-Momente zumindest mir oft nach vielen Jahren noch erinnerlich sind: ungewöhnliche Begegnungen oder besondere Treffen mit Freunden, klar. Aber bei Peter habe ich ganze Wochen in London verbracht, doch nur die Episode in Wales habe ich noch glasklar vor mir. Wir erinnern uns wohl eben auch gerne an Herausforderungen, die wir gemeistert haben, wenn auch vielleicht nicht mit Bestnoten. Bei den einen mag es eine Bergbesteigung sein. Bei mir war es halt der Bohneneintopf. Und dann habe ich mir die Episode wohl auch gemerkt, um es bei einem nächsten Mal besser zu machen, sprich: die Butterbohnen rechtzeitig einzulegen.

Obelix, aus dem bekannten Comic (Quelle: asterix.com)

Schliesslich gibt es das, was ich mittlerweile den Obelix-Moment nenne. Ihr wisst schon, Obelix, der Gallier, der auf seinen Reisen ins Ausland die Gewohnheiten der Menschen beobachtet und immer wieder sagt: „Die spinnen, die Römer!“ Oder: „Die spinnen, die Briten!“ In Aberdaron hatte ich den Obelix-Moment angesichts der für uns  skurrilen Essgewohnheiten unserer britischen Freunde. Obelix-Momente eignen sich auch hervorragend zur Unterhaltung einer Abendgesellschaft in der Heimat. So habe ich diese Anekdote oft wiedererzählt und dabei wohl neu im Gedächtnis abgespeichert.

Doch manche Obelix-Momente gehen tiefer. Ich glaube, sie sagen uns etwas darüber, wer wir sind und wie wir leben oder leben wollen. Über dieses Thema könnte ich Seiten füllen. Aber ich glaube, es reicht, wenn ich sage: In jenen Tagen habe ich gelebt, wie ich leben wollte – und ich hoffe, dass ich sie bis an mein Lebensende nicht vergessen werde.

Das Herz von England

    Die Kathedrale und Altstadt von Lincoln im Juni 2023

Das Herz von England liegt nicht in London. In London liegt das Hirn, liegen einige der wichtigsten Muskeln von England. Aber das Herz von England liegt in kleineren Städten, zum Beispiel in Lincoln, ungefähr in der Mitte zwischen London und Newcastle.  Wenn man im Herzen von England angelangt ist, sieht man das am Stadtbild. Meistens gibt es in solchen Städten eine Kathedrale und eine Burg oder wenigstens einen stolzen Landsitz. Es gibt Fachwerkhäuser, Pubs mit Butzenscheiben, Kopfsteinpflaster und sehr rote Postgebäude. Es gibt einen Fluss, in dem Trauerweiden ihre Äste baden und tief liegende Wolken. Es gibt Cafés, in denen man Dinge wie Cheddarkäse auf Früchtebrot, Scones mit sehr dicker Sahne oder Cheesecake essen kann. Es gibt ein sorgfältig gepflegtes Geschichtsbewusstsein.

Das sehr rote Postgebäude in der Altstadt von Lincoln.

Lincoln war im Mittelalter dank florierendem Export von Wolle eine reiche Stadt. Ab 1027 baute man eine Kathedrale, heute ein atemberaubender Anblick, aussen und innen. Die Hooligans hatten uns hergebracht, sie verwöhnten uns mit diesem Ausflug, wir genossen jede Minute. Die Altstadt ist richtig schnuckelig, mit verwinkelten Gässchen und hübschen Läden. Belebt, aber nicht überlaufen. „Ihr hättet das alles vor der Pandemie sehen sollen!“ sagte Diamond Eye. „Es waren so viele Leute in den Gassen, dass es  ein Fussgängerleitsystem gab. Links ging man hoch, rechts kam man herunter.“ War ich froh, dass wir nach der Pandemie gekommen waren!

Es gibt in Lincoln auch eine Burg mit Museum. Dort ist eine der vier ersten Abschriften der Magna Charta von 1215 zu sehen (was das für ein Dokument ist, ist hier einfach erklärt). Es wird auch im Museum selbst gut erklärt, weshalb dieses Dokument so bedeutsam ist, für die Rechtsordnung sehr vieler Staaten. Museumsdidaktisch sind sie im Vereinigten Königreich top. Da starrt man nicht einfach ehrfürchtig ein tintiges Stück Pergament in einer Vitrine an. Da gibt es immer auch kleine, gut verständlich geschriebene Texttäfelchen (ideal für Schwerhörige). Auf so einem Täfelchen stand, dass die Magna Charta der Anfang der Gleichheit aller vor dem Gesetz war.

Wir streiften weiter durch das Herz von England und stellten abseits der meistbegangenen Fussgängerpassagen fest: seine Kranzgefässe kränkeln ein bisschen. Am Rande der Altstadt und an den Ausfallstrassen: auffallend viele geschlossene Ladenlokale, die Schaufenster oft mit Brettern vernagelt. Auch in respektablen, gut erhaltenen Bauten. Herr T. erkundigte sich bei Eagle Nose nach den Gründen. Dieser gab sich wortkarg: „Ungünstiges ökonomisches Klima.“ Aber aus seinen Briefen weiss ich: Er denkt, dass es nicht zuletzt am Brexit liegt. Und er denkt, dass der Brexit mehr ist als ein kleiner Konjunkturknick, ein Klacks angesichts von Hunderten Jahren Geschichte. „Mir tun die jungen Leute leid, von denen so viele jetzt um ihre Zukunft betrogen werden“, hat er einmal geschrieben.