Heisst auf Hochdeutsch: „Das ist nicht mein Rechaud.“ Wobei mit „Rechaud“ vermutlich ein Fondue-Öfeli gemeint ist. Die Redensart ahmt im Spott eine ungebildete Person nach, die eigentlich sagen will: „Das gehört nicht in mein Ressort.“ Oder: „Davon verstehe ich nichts.“ Oder, selbstironisch: „Fremdwörter sind Glückssache.“
Erläuterungen 1: Neulich schrieb ich in einem Whatsapp an eine Freundin das Wort „Misogynie“ mit zwei „Y“, also: „Mysogynie“. Als ich den Fehler bemerkte, war es mir erst furchtbar peinlich. Dann hörte ich Geiste das Gelächter meiner leider im letzten Sommer verstorbenen Freundin Reni. Sie war etwas älter als die anderen in unserer Jugendclique. Irgendetwas hatte ihrem Selbstvertrauen schon schwer zugesetzt, als sie zu uns stiess. Sie beschränkte sich im Leben auf kleine Ressorts und sagte zu allem anderen oft: „Das esch ned mis Reschoo.“ Und dann lachte sie, ein Weltgelächter. Ich vermisse sie!
Erläuterungen 2: Wir leben gerade in einer Zeit, in der ein US-Medienunternehmer auch noch ein ganzes US-Ministerium zu seinen Rechauds zählen darf. Und jetzt masst er sich an, auch noch die europäische Politik zu seinem Rechaud zu erklären und giesst ungeheuerlich viel Sprit hinein. Ich fürchte, er setzt noch die ganze Stube in Brand!
Auf Hochdeutsch: Betrug, ähnlich wie im hochdeutschen Verb „jemanden bescheissen“. Bei uns gilt das Wort „Bschiss“ nicht eigentlich als vulgär. Wir brauchen es oft und haben auch gar kein stilvolles Synonym dafür.
Zum Deutschschweizer Wort des Jahres ist „Bschiss“ im Medienschlagwort „Unterschriften-Bschiss“ geworden, erkoren von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (mehr hier). Der so genannte „Unterschriften-Bschiss“ steht im Zusammenhang mit Volksabstimmungen in der Schweiz. Da mein werter Leser Rabi in den letzten Tagen besonderes Interesse an Volksabstimmungen gezeigt hat, hier ein paar Worte mehr zum Thema.
Wer in der Schweiz eine Volksabstimmung herbeiführen will, muss meist Unterschriften sammeln, das heisst: bei Regen und Kälte auf der Strasse herumstehen. Nun gibt es Firmen, die anbieten, Unterschriften zu bestimmten Themen gegen bares Geld zu beschaffen. Das schien unproblematisch, solange sicher war, dass diese Unterschriften von realen Personen stammten und zum beabsichtigten Zweck abgegeben wurden. Doch 2024 stellte sich heraus: Einige dieser Firmen hatten systematisch betrogen – sie schickten zum Beispiel Leute zu grossen Wohnblocks, um dort die Namen von den Klingelschildern abzuschreiben und dazu Unterschriften zu fälschen.
Das ist in der Tat empörend. Denn im Allgemeinen gelten Volksabstimmung in der Schweiz als verlässlichste Art, den Willen der Mehrheit zu ermitteln. Aber im Herbst 2024 stand plötzlich die Möglichkeit im Raum, dass jeder, der genügend Geld hat, sich eine Volksabstimmung kaufen könnte (und wer dann noch mehr Geld hat, könnte ja auch gleich noch den Volkswillen mit sehr viel Werbung zu seinen Gunsten beeinflussen). Mich wunderte daher eher, dass der Aufschrei über den „Unterschriften-Bschiss“ nicht noch lauter war.
Auf Wikipedia gibt es hier kurz und sachlich alle Einzelheiten zu Volksabstimmungen. Ein zweiter, guter Link zum Unterschriften-Bschiss hier.
Wenn Gespräche auf Donald Trump kommen, fühlte ich mich in letzter Zeit merkwürdig an die Pandemie erinnert. Ich höre Sätze, die klingen wie damals, als viele sagten: „Ach, das ist nur eine Grippe, das hatten wir doch auch schon!“ Der schmerzliche Unterschied ist: Damals kamen solche Sätze von Leuten, von deren Urteil ich eh wenig hielt. Jetzt kommen sie zum Teil von Freunden, vor deren Meinung ich jahrzehntelang grossen Respekt hatte. Sie sagen: „Donald Trump? Ach Gott, früher war es doch auch schlimm! Da hatten wir den Kalten Krieg und dann den Neoliberalismus.“ Hä?! Oder: „Ach, Du hast doch zu viel doomgescrollt!“ Nein, mein Lieber, ich habe nicht zu viel doomgescrollt. Ich habe mir einen erheblichen Wissenvorsprung verschafft, während Du Krimis geguckt hast!
Dennoch bin ich nicht ganz sicher, ob nicht doch ich in diesen Diskussionen die Querdenkerin bin. Ich war jedenfalls fast so unglücklich über die Schweizer Berichterstattung zu den US-Wahlen wie seinerzeit die Covidskeptiker bei ihrem Thema. Ich fand unsere Medien verharmlosend, weichgespült oder dann schockierend weit rechts. Das alles wäre einfacher zu ertragen gewesen, wenn ich knapp hätte artikulieren können, was ich an all dem so unerträglich finde.
Letzten Samstag las ich dann in der Republik die Samstagskolumne von Daniel Binswanger zur kommenden Trump-Ära, hier der Link. Sein Fazit: „Die US-Demokratie führt gerade mit krudestmöglicher Deutlichkeit vor Augen, dass auf die politischen Mechanismen zur Herstellung von sozialem Ausgleich und minimalster gesellschaftlicher Solidarität überhaupt kein Verlass mehr ist.“ Er findet Worte für genau das, was mich seit Wochen umtreibt. Ich atme erleichtert auf und witzle: „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor mir der Binswanger sagt, wie man es in Worte fasst?!“ Der Polit-Kolumnist der „Republik“ sagt übrigens auch, was das für Europa bedeutet und ob wir in der Schweiz noch Hoffnung haben können. Sehr zur Lektüre empfohlen.
Seit Wochen verfolge ich das Wahlgetöse in Amerika. Es fühlt sich an, wie sich in meinen Teenagerjahren Liebesbeziehungen anfühlten, die desaströs zu enden drohten. Man sass beim Telefon und fieberte: Wann ruft er endlich an?! Diesmal starrte ich ins Handy und fieberte: Wie stehen die Umfragen?! Wie sieht es aus für Kamala?! Genau wie damals ist das alles eine Etüde in Machtlosigkeit. Ein paar möglicherweise miserabel informierte Wechselwählerinnen und -wähler in Pennsylvania, Michigan oder Wisconsin werden über das Schicksal der amerikanischen Demokratie entscheiden, möglicherweise auch über die Zukunft von uns in Europa. „Machen Sie sich keine Sorgen, auch mit Trump kommt alles gut“, wiederholen die Schweizer Medien nun seit Wochen. Hallo?! Den 6. Januar 2021 schon vergessen?!
Seit Wochen scrolle ich abends stundenlang durch X. „Doomscrollen“ ist dafür das falsche Wort. Ich suhle mich nicht in Untergangsbotschaften. Im Gegenteil: Ich richte mich am unverwüstlichen Optimismus von Tausenden von demokratischen Wahlhelferinnen und -helfern drüben auf. Sie sind wunderbar! Hoffentlich behalten sie recht!
Und nun laufen die Wahlen und wir haben noch nicht mal erste Resultate! Ich will jetzt Resultate, verdammtnochmal!
Eben sagt Donald Trump in Florida, er würde eine Wahlniederlage diesmal akzeptieren. Wenn die Wahlen fair wären. Wenn. Und überhaupt: Wer glaubt Donald Trump auch nur ein einziges Wort? Mich muss er jedenfalls nicht anrufen, auch wenn er gewinnt.
Nachdem ich meinen letzten Post abgesetzt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich meine: Es war der 7. Oktober, die Welt gedachte der Anschläge der Hamas in Israel 2022 und ich hatte kein Wort darüber verloren. Als wäre es mir egal. Aber es ist mir nicht egal. Ich möchte weinen, wenn ich an die Opfer denke. Was sind das für Bestien, die unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten töten oder als Geiseln verschleppen?
Ich bin nur nicht sicher, was ich schreiben soll. Obwohl die Lage im Nahen Osten ein Thema ist, seit ich mich erinnern kann. Zu Hause lief bei uns den ganzen Tag Schweizer Radio, stündlich die Nachrichten. Täglich hörte ich schon als Fünfjährige am Radio das Wort „Telawiif“ und wusste lange nicht, was es bedeutete. Erst mit der Zeit lernte ich, dass aus Tel Aviv die News über die Lage im Nahen Osten kamen. Tel Aviv, das hiess Kämpfe, Todesopfer, hastige Beschwichtigungsreisen von US-Aussenministern und UNO-Generalsekretären.
Beiläufig lernte ich das Wesentliche über Auschwitz. Mir zerstörte dieses Wissen jeden Ansatz eines kindlichen Gottvertrauens. Wenn Gott Auschwitz zugelassen hatte, dann war Gott böse, oder es gibt ihn nicht. Ich wuchs in einer katholischen Gegend auf, es gibt hier einen tief sitzenden Antisemitismus, der auch Israel trifft. Vor allem Israel. Damit wollte ich nie etwas zu tun haben. Wohin es führt, wenn man pauschal gegen bestimmte Gruppen von Menschen ist, hatten wir ja gesehen. Die Israelis haben ein Recht auf ihren Staat. Aber ich sah mich gerne auf der Seite der Unterdrückten, Benachteiligten. Im Nahost-Konflikt sollte ich alle paar Jahre die Seiten wechseln.
In der Schule lernten wir: Nach dem Horror von Auschwitz gab die UNO den Zionisten ein paar Territorien für einen eigenen Staat in Palästina. Die arabischen Staaten rundum bekämpften die Israelis, aber diesen gelang es, ihre Territorien auszudehnen. Die Palästinenser kamen unter die Räder. Ich begab mich auf die Seite der Palästinenser. Als Teenager besass ich sogar eines dieser rotweiss gemusterten Tücher.
1986 flog ich nach Tel Aviv. Ich war 21. Mein damaliger Freund studierte in Jerusalem Theologie. Ich hatte einen Wecker und ein Büchlein von Noam Chomsky im Gepäck, einem harten Kritiker der US-Politik im Nahen Osten (auch noch viele Jahre später, siehe hier). Als ich ankam, schenkte mein Freund mir eine Kerze. Drei Wochen später wollten wir in Haifa mit dem Schiff ausreisen. Die Zollbeamten sahen die Kerze, den Wecker und das Büchlein von Noam Chomsky. Sie nahmen meinen Koffer mit und blieben so lange weg, dass wir das Schiff erst im allerletzten Moment und mit zittrigen Knien besteigen konnten. War es eine Machtdemonstration oder hatten sie wirklich Angst?
Ich war vage pro-palästinensisch, bis ein Kollege aus Tel Aviv bei uns im Büro zu Besuch war. Er war nach der Pensionierung ausgewandert. Das war nach 9/11. In Israel hatten Palästinenserinnen und Palästinenser begonnen, Sprengstoffgürtel an ihren Leib zu kleben und sich in Jerusalem oder Haifa in die Luft zu jagen. Mein Kollege erzählte, wie er in Tel Aviv jedes Mal voller Angst aus dem Bus floh, wenn ein arabisch aussehender Mensch mit einer dicken Jacke einstieg. Ich dachte: Die Palästinenser tun aber auch alles, um ein friedliches Zusammenleben in der Region zu verunmöglichen. Selbstsabotage. Wie war Friede möglich, wenn der gute Wille auf beiden Seiten so zweifelhaft schien? „Es ist kompliziert“, sagte ich einmal. „Wenn ich noch lange darüber nachdenke, werde ich wahnsinnig.“
Nach dem 7. Oktober 2022 war ich fest auf der Seite der Israelis. Dann kam die Rache im Gaza-Streifen. Jetzt die Eskalation im Südlibanon. Und allmählich fürchte ich, dass es vollkommen sinnlos ist, auf einer Seite zu stehen. Man kann nur das Beste hoffen für jene, die jetzt unschuldig unter die Räder kommen.
Ihr erinnert Euch: Ich begann meine Serie über Gespräche in der Kaffee-Ecke mit einem Zitat von Franz Kafka. Dieser beklagte, dass die Freiheit des einzelnen gestört werde „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Wie aber unterscheiden wir, ob ein Beisammensein notwendig oder nicht notwendig ist? Sind Kaffee-Ecken-Gespräche notwendig oder nicht?
Ich glaube, sie sind es. Nicht immer, aber oft. Denn ich kann auch als Schwerhörige nicht von den Menschen wegdriften, mit denen ich das Grossraumbüro teile. Es reicht heute nicht mehr, dass ich einfach allen „hoi!“ zuflöte, wie ich das in den letzten Jahren oft getan habe. Wir sind heute soweit, dass wir sogar über die Wirklichkeit verhandeln müssen, in der wir leben (siehe weiblich gelesene Menschen und Stechmücken). Sonst wissen wir nicht, was läuft, handeln unangemessen, prallen unnötig heftig aufeinander. Dann werden wir unfrei, indem wir unsere Kräfte verschwenden.
Nun ist für uns Schwerhörige fast jede Plauderei anstrengender als für andere. Daher meiden wir oft Alltagskonversationen. Und ob wir in der Kaffee-Ecke gleich eine notwendige oder eine nicht-notwendige Begegnung haben werden, lässt sich schwer vorhersagen. Deshalb habe ich für mich jetzt folgende Regeln aufgestellt:
1) Es herrscht ungewöhnlicher Lärm in der Cafeteria: Da reicht in der Regel Hallosagen.
2) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon freundliche, anregende Gespräche gehabt habe. Dann suche ich den Austausch. Falls nicht die Regel 1) zur Anwendung kommen muss.
3) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon bedeutsame, aber kontroverse Auseinandersetzungen gehabt habe. Dann erst mal fragen, wie es ihr geht und abwarten, was passiert.
4) Ich kenne die Person in der Kaffee-Ecke nicht: Dann stelle ich mich vor und sage, dass ich schwerhörig bin. Ich sage ihr auch, dass sie mich beim Sprechen bitte anschauen und deutlich artikulieren soll.
5) Ich bin mit den Gedanken ganz woanders oder habe eh wenig Zeit: Hallosagen muss reichen.
6) Mit der Person, die vor mir steht, bin ich in den letzten Jahren nie in ein bedeutsames Gespräch gekommen: Da reicht wohl Hallosagen.
7) Wenn möglich: spontan bleiben.
Das klingt jetzt banal. Aber, Freund*innen, ich frage mich gerade, ob das nicht so schon ein Rezept für ein Burn-out ist!
Sprechen wir also über die Kaffee-Ecke! An einem Vormittag letzte Woche fand ich dort eine zierliche Gestalt mit hell gesträhnter Mähne vor. Sie beugte sich mit dem Rücken zu mir über die Abwaschmaschine. Ach, der weiblich gelesene Mensch II, dachte ich. Aber manchmal besiegt mein spontaneres Ich meine Ressentiments. Es sagte freundlich: „Oh, hallo Carmen, Du bist also die tapfere Seele, die diese Abwaschmaschine ausräumt!“ Ich wusste, dass das Geschirr in der Maschine zwar sauber war – aber das Ding so voll, dass ich bei meinem vorherigen Besuch nicht genügend Zeit gehabt hatte, es auszuräumen. Dabei stapelten sich neu verschmutzte Tassen schon in der Spüle. „Kann ich Dir helfen?“ fragte ich.
Sie lehnte ab. Aber dann hatten wir eine nette Konversation über das viele Geschirr überall. Das ist schon wegen meiner Schwerhörigkeit nicht selbstverständlich. Und dann hatte ich ja auch noch Ressentiments, und die reichten bis zum Frauenstreiktag 2024 zurück. Damals, am 14. Juni, hatte ich als Frau und potenzielle Teilnehmerin am feministischen Streik mich in unserer Zeitung als „weiblich gelesener Mensch“ bezeichnen lassen müssen. Zuoberst im Frontkommentar! Ich war so wütend, dass ich an jenem Tag nicht einmal den Frontkommentar zu Ende las, geschweige denn den Rest der Zeitung. Ich beschwerte mich sogar bei der Autorin des Kommentars.
Ich meine: Die Abschaffung des generischen Maskulinums ist eine 40 Jahre alte feministische Forderung. Doch bei unserer Zeitung war dessen Gebrauch bis 2021 Vorschrift. In den zehn Jahren vor der Pandemie mogelte ich mich um diese Regel herum (warum, siehe hier). Ich war mir aber stets bewusst, dass unsere Hausregeln die Existenz des weiblichen Geschlechts in der Sprache eigentlich nur in Ausnahmefällen vorsah. Und nun werden wir Frauen schon wieder überfahren, erst noch von so genannten Feminist*innen! Sorry, aber da finde ich sehr wohl, dass man uns Frauen „etwas wegnimmt“!
An jenem Tag also begegneten mir in der Kaffee-Ecke Carmen Zimmerhäckel und ihre Kollegin, Marina Hartkiesel, beide junge Redaktorinnen. Seither heissen die beiden bei mir der weiblich gelesene Mensch II und der weiblich gelesene Mensch I. Denn an jenem Tag sprach ich sie an, vielleicht zum ersten Mal ohne äussere Notwendigkeit. Ich nahm all meinen Mut zusammennehmen und fragte: „Sagt mal, fühlt ihr Euch angesprochen, wenn man Euch als weiblich gelesene Menschen bezeichnet?“
Sie sahen mich an, als wäre ich vom Mars und von oben bis unten grün. Dann sahen sie einander an, lächelten, liessen beim Nicken ihr Frisuren wippen und sagten: „Ja.“
Die 900-jährige Kirche St. Jacques steht mitten im Städtchen Perros-Guirec, ein kaum beachtetes, kleines Bijou. Rechts neben dem Portal der übliche Gedenkstein mit den Namen der im Ersten und Zweiten Weltkrieg verstorbenen Soldaten aus der Gegend. Früher glaubten wir, sie gingen uns nichts mehr an, diese Steine, die Kriege in Europa seien vorbei. Aber diesmal begann ich die eingravierten Namen zu zählen – es waren allein im Ersten Weltkrieg gegen 180, in einem Städtchen, das 1911 lediglich 3500 Einwohner zählte. Vielleicht gab mir das so zu denken, weil ich kurz zuvor bei Geert Mak ein eindrückliches Kapitel über den Ersten Weltkrieg gelesen hatte. Vielleicht, weil ich oft meinem 19-jährigen Gottenbub über die Armee, Putins Krieg und die Nato diskutiere.
Später streiften wir über Land und fanden das verträumte Kirchlein St. Quay Peros, mit einem Soldatenfriedhof, mitten in einem Dörfchen. Auch hier etwa 20 Namen auf dem Gedenkstein. Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es hier sicher Familien mit neun bis zwölf Kindern. Aber hat man auch nur eines mit leichtem Herzen für’s Vaterland hergegeben? Auf den Steinen stehen Namen wie Désiré, Amédé, oder Aimée (ein Mädchen?). Ich sehe die Schatten dieser nie alt gewordenen Kinder durch das Dorf huschen, mit schalkhaften oder forschen oder unendlich verletzlichen Gesichtern, wie die Kleinen unserer Nachbarn im Hof.
Herr T mag es überhaupt nicht, wenn ich da so stehe. Er war selbst in der Armee – gegen seinen Willen. Er sagt, er finde jede Art von Militarismus daneben. Aber ich glaube nicht, dass ich Militaristin bin. Ich hoffe nur immer, dass sich dieser unerträgliche Widerspruch in mir auflöst, wenn ich nur lange genug dort stehe: dass ich fürchte, dass wir in Europa uns vielleicht gegen Putin wehren müssen. Und dass ich dafür kein einziges Menschenleben hergeben will.
Am vierten Tag warten wir in Rennes auf den TGV für die Weiterreise. Er hat eine halbe Stunde Verspätung. Herr T. geht ein Sandwich kaufen, ich passe auf das Gepäck auf und lasse den Blick schweifen. Bis jetzt habe ich das mit der Verständigung meist Herrn T. überlassen. Oft verstehe ich gehörbedingt die Leute eh nicht, wenn sie eine Antwort auf eine Frage nuscheln. Aber jetzt lese ich auf einem Netflix-Werbeplakat den Titel „L’envers du sport“ und übersetze spontan: „Die Hölle des Sports“, in Erinnerung an ein Zitat aus einem Stück von Jean-Paul Sartre, … aber nein, das kann nicht sein, das Zitat heisst nicht „l’envers c’est les autres“, sondern „l’enfer, c’est les autres“, die Hölle sind die anderen.
Mensch! Dann: Wenn aber „l’enfer“ die Hölle heisst, muss „l’envers“ etwas anderes heissen. „Die Kehrseite“ vielleicht? Die Kehrseite des Sports, das klingt doch gut. Ich kann also noch Französisch, denke ich und plötzlich wird mir klar: Ich kann in diesem sprachlosen Zustand nicht weitermachen. Als wir die Chance haben, mündliche Auskunft über die bänglich erwartete Zugsabfahrt zu bekommen, gehe ich hin und frage den Mann mit der Uniform selbst. Und weil ich so stockend gesprochen habe, antwortete er auch sehr deutlich. Dann ist das Französisch plötzlich wieder da in meinem Hirn, wie angeknipst.
Und seit gestern weiss ich sogar: Die Plakate warben für eine neue Staffel der Netflix-Serie „Untold“. Ob sie auch einen deutschen Namen hat, weiss ich aber nicht.
Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.
Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.
Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?
Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.
Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute auslassen, Grund: der Brexit.
Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.
Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.
Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.
Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.