Schwerhörig: Sieben Regeln für Gespräche in der Kaffee-Ecke

Ihr erinnert Euch: Ich begann meine Serie über Gespräche in der Kaffee-Ecke mit einem Zitat von Franz Kafka. Dieser beklagte, dass die Freiheit des einzelnen gestört werde „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Wie aber unterscheiden wir, ob ein Beisammensein notwendig oder nicht notwendig ist? Sind Kaffee-Ecken-Gespräche notwendig oder nicht?

Ich glaube, sie sind es. Nicht immer, aber oft. Denn ich kann auch als Schwerhörige nicht von den Menschen wegdriften, mit denen ich das Grossraumbüro teile. Es reicht heute nicht mehr, dass ich einfach allen „hoi!“ zuflöte, wie ich das in den letzten Jahren oft getan habe. Wir sind heute soweit, dass wir sogar über die Wirklichkeit verhandeln müssen, in der wir leben (siehe weiblich gelesene Menschen und Stechmücken). Sonst wissen wir nicht, was läuft, handeln unangemessen, prallen unnötig heftig aufeinander. Dann werden wir unfrei, indem wir unsere Kräfte verschwenden.

Nun ist für uns Schwerhörige fast jede Plauderei anstrengender als für andere. Daher meiden wir oft Alltagskonversationen. Und ob wir in der Kaffee-Ecke gleich eine notwendige oder eine nicht-notwendige Begegnung haben werden, lässt sich schwer vorhersagen. Deshalb habe ich für mich jetzt folgende Regeln aufgestellt:

1) Es herrscht ungewöhnlicher Lärm in der Cafeteria: Da reicht in der Regel Hallosagen.
2) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon freundliche, anregende Gespräche gehabt habe. Dann suche ich den Austausch. Falls nicht die Regel 1) zur Anwendung kommen muss.
3) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon bedeutsame, aber kontroverse Auseinandersetzungen gehabt habe. Dann erst mal fragen, wie es ihr geht und abwarten, was passiert.
4) Ich kenne die Person in der Kaffee-Ecke nicht: Dann stelle ich mich vor und sage, dass ich schwerhörig bin. Ich sage ihr auch, dass sie mich beim Sprechen bitte anschauen und deutlich artikulieren soll.
5) Ich bin mit den Gedanken ganz woanders oder habe eh wenig Zeit: Hallosagen muss reichen.
6) Mit der Person, die vor mir steht, bin ich in den letzten Jahren nie in ein bedeutsames Gespräch gekommen: Da reicht wohl Hallosagen.
7) Wenn möglich: spontan bleiben.

Das klingt jetzt banal. Aber, Freund*innen, ich frage mich gerade, ob das nicht so schon ein Rezept für ein Burn-out ist!

Carmen an der Abwaschmaschine

Sprechen wir also über die Kaffee-Ecke! An einem Vormittag letzte Woche fand ich dort eine zierliche Gestalt mit hell gesträhnter Mähne vor. Sie beugte sich mit dem Rücken zu mir über die Abwaschmaschine. Ach, der weiblich gelesene Mensch II, dachte ich. Aber manchmal besiegt mein spontaneres Ich meine Ressentiments. Es sagte freundlich: „Oh, hallo Carmen, Du bist also die tapfere Seele, die diese Abwaschmaschine ausräumt!“ Ich wusste, dass das Geschirr in der Maschine zwar sauber war – aber das Ding so voll, dass ich bei meinem vorherigen Besuch nicht genügend Zeit gehabt hatte, es auszuräumen. Dabei stapelten sich neu verschmutzte Tassen schon in der Spüle. „Kann ich Dir helfen?“ fragte ich.

Sie lehnte ab. Aber dann hatten wir eine nette Konversation über das viele Geschirr überall. Das ist schon wegen meiner Schwerhörigkeit nicht selbstverständlich. Und dann hatte ich ja auch noch Ressentiments, und die reichten bis zum Frauenstreiktag 2024 zurück. Damals, am 14. Juni, hatte ich als Frau und potenzielle Teilnehmerin am feministischen Streik mich in unserer Zeitung als „weiblich gelesener Mensch“ bezeichnen lassen müssen. Zuoberst im Frontkommentar! Ich war so wütend, dass ich an jenem Tag nicht einmal den Frontkommentar zu Ende las, geschweige denn den Rest der Zeitung. Ich beschwerte mich sogar bei der Autorin des Kommentars.

Ich meine: Die Abschaffung des generischen Maskulinums ist eine 40 Jahre alte feministische Forderung. Doch bei unserer Zeitung war dessen Gebrauch bis 2021 Vorschrift. In den zehn Jahren vor der Pandemie mogelte ich mich um diese Regel herum (warum, siehe hier). Ich war mir aber stets bewusst, dass unsere Hausregeln die Existenz des weiblichen Geschlechts in der Sprache eigentlich nur in Ausnahmefällen vorsah. Und nun werden wir Frauen schon wieder überfahren, erst noch von so genannten Feminist*innen! Sorry, aber da finde ich sehr wohl, dass man uns Frauen „etwas wegnimmt“!

An jenem Tag also begegneten mir in der Kaffee-Ecke Carmen Zimmerhäckel und ihre Kollegin, Marina Hartkiesel, beide junge Redaktorinnen. Seither heissen die beiden bei mir der weiblich gelesene Mensch II und der weiblich gelesene Mensch I. Denn an jenem Tag sprach ich sie an, vielleicht zum ersten Mal ohne äussere Notwendigkeit. Ich nahm all meinen Mut zusammennehmen und fragte: „Sagt mal, fühlt ihr Euch angesprochen, wenn man Euch als weiblich gelesene Menschen bezeichnet?“

Sie sahen mich an, als wäre ich vom Mars und von oben bis unten grün. Dann sahen sie einander an, lächelten, liessen beim Nicken ihr Frisuren wippen und sagten: „Ja.“

Perros-Guirec: Die Soldaten von damals

Die 900-jährige Kirche St. Jacques steht mitten im Städtchen Perros-Guirec, ein kaum beachtetes, kleines Bijou. Rechts neben dem Portal der übliche Gedenkstein mit den Namen der im Ersten und Zweiten Weltkrieg verstorbenen Soldaten aus der Gegend. Früher glaubten wir, sie gingen uns nichts mehr an, diese Steine, die Kriege in Europa seien vorbei. Aber diesmal begann ich die eingravierten Namen zu zählen – es waren allein im Ersten Weltkrieg gegen 180, in einem Städtchen, das 1911 lediglich 3500 Einwohner zählte. Vielleicht gab mir das so zu denken, weil ich kurz zuvor bei Geert Mak ein eindrückliches Kapitel über den Ersten Weltkrieg gelesen hatte. Vielleicht, weil ich oft meinem 19-jährigen Gottenbub über die Armee, Putins Krieg und die Nato diskutiere.

Später streiften wir über Land und fanden das verträumte Kirchlein St. Quay Peros, mit einem Soldatenfriedhof, mitten in einem Dörfchen. Auch hier etwa 20 Namen auf dem Gedenkstein. Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es hier sicher Familien mit neun bis zwölf Kindern. Aber hat man auch nur eines mit leichtem Herzen für’s Vaterland hergegeben? Auf den Steinen stehen Namen wie Désiré, Amédé, oder Aimée (ein Mädchen?). Ich sehe die Schatten dieser nie alt gewordenen Kinder durch das Dorf huschen, mit schalkhaften oder forschen oder unendlich verletzlichen Gesichtern, wie die Kleinen unserer Nachbarn im Hof.

Herr T mag es überhaupt nicht, wenn ich da so stehe. Er war selbst in der Armee – gegen seinen Willen. Er sagt, er finde jede Art von Militarismus daneben. Aber ich glaube nicht, dass ich Militaristin bin. Ich hoffe nur immer, dass sich dieser unerträgliche Widerspruch in mir auflöst, wenn ich nur lange genug dort stehe: dass ich fürchte, dass wir in Europa uns vielleicht gegen Putin wehren müssen. Und dass ich dafür kein einziges Menschenleben hergeben will.

Rennes: Wieder Französisch können

Am vierten Tag warten wir in Rennes auf den TGV für die Weiterreise. Er hat eine halbe Stunde Verspätung. Herr T. geht ein Sandwich kaufen, ich passe auf das Gepäck auf und lasse den Blick schweifen. Bis jetzt habe ich das mit der Verständigung meist Herrn T. überlassen. Oft verstehe ich gehörbedingt die Leute eh nicht, wenn sie eine Antwort auf eine Frage nuscheln. Aber jetzt lese ich auf einem Netflix-Werbeplakat den Titel „L’envers du sport“ und übersetze spontan: „Die Hölle des Sports“, in Erinnerung an ein Zitat aus einem Stück von Jean-Paul Sartre, … aber nein, das kann nicht sein, das Zitat heisst nicht „l’envers c’est les autres“, sondern „l’enfer, c’est les autres“, die Hölle sind die anderen.

Mensch! Dann: Wenn aber „l’enfer“ die Hölle heisst, muss „l’envers“ etwas anderes heissen. „Die Kehrseite“ vielleicht? Die Kehrseite des Sports, das klingt doch gut. Ich kann also noch Französisch, denke ich und plötzlich wird mir klar: Ich kann in diesem sprachlosen Zustand nicht weitermachen. Als wir die Chance haben, mündliche Auskunft über die bänglich erwartete Zugsabfahrt zu bekommen, gehe ich hin und frage den Mann mit der Uniform selbst. Und weil ich so stockend gesprochen habe, antwortete er auch sehr deutlich. Dann ist das Französisch plötzlich wieder da in meinem Hirn, wie angeknipst.

Und seit gestern weiss ich sogar: Die Plakate warben für eine neue Staffel der Netflix-Serie „Untold“. Ob sie auch einen deutschen Namen hat, weiss ich aber nicht.

Geert gegen Geert – zu den Europawahlen

Geert Wilders, Rechtspopulist; Jahrgang 1963 (Quelle: Wikipedia)

Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.

Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.

Geert Mak, Journalist, geboren 1946 (Quelle: geertmak.nl)

Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?

Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.

Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute  auslassen, Grund: der Brexit.

Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.

Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.

Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.


Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.

Wie ich eine Frau wurde

Als ich „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler zum ersten Mal las, durchquerte ich das Buch so eilig wie man einen Bahnhof im Umbau durchquert, Wände voller Gerüste, Räume voller Lärm. „Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion“, schreibt Butler (S. 209). Aha. Mir hatte der Feminismus nicht nur ein „Wir“, sondern sogar ein Ich geschenkt. Ich erklärte Butler zum Nicht-Ort der feministischen Auseinandersetzung, eilte zum nächsten Zug und fuhr woanders hin. Aber seit ein paar Jahren ist dieser Bahnhof ein fertig ausgebauter Verkehrsknotenpunkt der Gender-Debatte. Daher hielt ich diesmal inne und betrachtete Fassaden, Stützpfeiler und Fahrpläne genau.

Ich sah mir Butler’s These an, dass der herrschende Diskurs das Körper zu Männern und Frauen formt, und dass es mehr als zwei Geschlechter und ein frei schwebendes Begehren geben könnte. Ob es das biologische Geschlecht in Wirklichkeit gibt oder nicht – Butler schreibt sich um diese Frage herum, egal, was sie später behauptete (siehe zum Beispiel hier). Sie interessierte sich für den „herrschenden Diskurs“ und jene, die in irgendeiner Form von der Binarität abwichen. Das hatte und hat seine Berechtigung. Aber ist das ein feministischer Ort? Nicht unbedingt.

Dennoch liess ich im Namen der Gender-Debatte die Szenen meiner eigenen Frauwerdung Revue passieren, die himmlischen und die hässlichen. Ja, es gab hässliche Szenen. Ich muss es deutlich sagen: Teenager Frogg hatte eine Phase der Genderdysphorie. Als ich zwölf war, schleppten meine Mutter und meine Grossmutter mich und meine schmerzenden Brüste in den Lingerie-Laden und zwangen mir den ersten Büstenhalter auf den Leib. „Hör auf zu jammern, Du hast ja einen Busen wie einen überhängenden Balkon! Glaub mir, Du wirst Dich so an  den BH gewöhnen, dass Du bald nicht mehr ohne kannst“, sagte meine Mutter. Als ob mich das davon hätte überzeugen können, dass ich so ein Gstältli* brauchte. Und das war nur das, was sich an der Oberfläche abspielte.

Aber damals sagte man nicht: „Genug! Ich bin ab jetzt ein Junge und kein Mädchen. Die Brüste müssen weg!“ Ich gewöhnte mich an den Büstenhalter und basta. Damit will ich mich nicht zum Opfer stilisieren. Auch die Mannwerdung war vor 40 Jahren Jahren kein Zuckerschlecken, mit 20 mussten sie alle ins Militär. Und was Lesben und Schwule damals durchmachten, war mitunter schwierig, das habe ich in meinem Bekanntenkreis mitbekommen. Auch wenn es allmählich leichter wurde, offen homosexuell zu leben. Ungefähr 2002 begegnete ich erstmals einer Trans-Frau. Trans-Männer kenne ich noch heute nur vom Hörensagen.

Heute bin ich froh, dass meine Mutter und meine Grossmutter mich damals in den Lingerie-Laden und nicht zum Arzt schleppten. Ich bin froh, dass ich keine Pubertätsblocker nahm und dass ich meine Brüste noch habe (und weiss spätestens seit 2022, dass ich mich nie freiwillig einer Brustoperation unterziehen werde). Ich bin froh, dass ich kein Coming-out als Trans-Mann durchmachen musste. Ich habe grossen Respekt vor Trans-Menschen, die das alles gemacht haben und dabei stärker geworden sind. Aber ich bin eine Frau, und in meinem Leben gab es auch viele himmlische Momente. Und deshalb wünsche ich allen Teenager-Mädchen mit BH-Aversion jemanden, der zuerst einmal zuhört und nachfragt, was unter der Oberfläche wirklich los ist.

*Ein Gerüst, das den Körper stützt oder einengt, etwa ein Klettergurt oder ein Hundegeschirr.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991

 

 

 

 

Was mein Gottenbub über Nemo denkt

Gesangstalent Nemo wird die Schweiz am Eurovision Song Contest vertreten (Quelle: srf.ch)

Am Osterspaziergang mit einem Gottenbub, neu 19, frage ich ihn über seine Haltung zur Genderfrage aus. Tim ist Jungpolitiker, parteilos, mit einem Hang zu den Grünen. Er ist ein ausgezeichneter Diskussionspartner.

Die Genderdebatte beginnt er jedoch mit einer ungemütlichen Schelte ausgerechnet derjenigen Zeitung, bei der ich seit 23 Jahren meinen Lebensunterhalt verdiene. Ihn hat unsere Berichterstattung über Nemo gestört, jene nonbinäre Person, die die Schweiz am Eurovision Song Contest am 7. Mai vertreten wird. In unserem Bericht wurde diese Person offenbar schon im ersten Abschnitt mit „er“ bezeichnet. „Wo doch klar ist, dass Nemo keine Pronomen will! Das ist doch respektlos gegenüber Nemo.*“

Unsere Berichterstattung zum European Song Contest hatte ich nicht einmal gelesen. Musik zu ignorieren ist eine meiner Überlebensstrategien als Schwerhörige (für Euch geht’s hier zum Song)! Mein erster, innerer Seufzer ist: Ach, da haben meine Kolleginnen und Kollegen ein reaktionäres Statement gemacht, womöglich unfreiwillig! Aber ich gebe dem Reflex nach, sie in Schutz zu nehmen und erinnere Tim an die Regeln des guten Stils: Dreimal im selben Abschnitt denselben Eigennamen zu wiederholen, ist unschön. Viele unserer Leserinnen und Leser würden es lachhaft oder anbiedernd finden. Wir behalten bei der Zeitung ausserdem kritische Distanz zu den Leuten, über die wir berichten.

Aber das kann Tim nicht akzeptieren. Er sagt: „Da schimpft Ihr immer, dass die jungen Leute keine Zeitung mehr lesen! Und dann tut Ihr etwas, was wir jungen Leserinnen und Leser überhaupt nicht cool finden.“

Mir bleibt da nur noch der Verweis auf unser Redaktions-Reglement für den Umgang mit dem Geschlecht in der Sprache. Dieses wurde ungefähr 2017 renoviert, vor dem Auftauchen nonbinärer Personen an der Öffentlichkeit. „So ein Reglement zu ändern, braucht seine Zeit“, versichere ich ihm. Seltsamerweise versteht Tim, dass es solche Reglemente braucht und auch Zeit, sie zu verändern. Ich verspreche ihm dann immerhin, seine Reklamation an meinen Chef weiterzuleiten. Als Input für künftige Reglements-Änderungen.

Später stellte ich fest, dass die Musikredaktionen landesweit seither schon eine gewisse Geschicklichkeit im Umgang mit den wegzulassenden Pronomen entwickelt haben. Üblich ist zum Beispiel geworden, Nemo „das Gesangstalent aus Biel“ zu nennen. Und in einem späteren Bericht eines unserer Autoren über Nemo habe ich einen Abschnitt gefunden, in dem sich der Kollege offiziell dazu bekennt, Nemos Non-Binarität zu akzeptieren. Im folgenden Abschnitt mit 36 Wörtern kommt das Wort Nemo sechsmal vor.

*Ich bin nicht mehr ganz sicher, wie Tim das formuliert hat. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er selbst ein männliches Pronomen verwendet hat. Einfach, weil es auf Schweizerdeutsch noch viel schwieriger ist, Sätze ohne solche zu machen. Da steht sogar vor Eigennamen eines, wie in: „De Tim hed gseid… . D’Frau Frogg hed gseid…“

Brief von meinem jüngeren Selbst

Bertolt Brecht, den mein jüngeres Ich sehr verehrt hat.

Es ist Mode geworden, dass man Briefe an sein jüngeres Selbst schreibt. Man tut es in der Psychotherapie, man tut es auf X (vormals Twitter). Meist tut man es, um die Ängste seines jüngeren Ichs zu beschwichtigen und ihm zuzuzwinkern: Ist ja alles besser herausgekommen als man mit 20 befürchtet hat. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten war mir aber plötzlich, als bekäme ich einen Brief von meinem jüngeren Selbst. In einem Couvert aus in den achtziger Jahren gebräuchlichem, rauem Recycling-Papier. Als erstes fiel mir daraus ein Blatt mit einem Gedicht von Bertolt Brecht entgegen: An die Nachgeborenen. Ich schmunzelte. Die junge Frau Frogg war eine grosse Verehrerin von Bertolt Brecht. Unterstrichen hatte sie die Verse: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Daneben hingekritzelt die Fragen meines jüngeren Selbst an mich: „Also, dass zu meinen Lebzeiten ähnlich kriegerische Zeiten ausbrechen werden wie damals bei Brecht, damit habe ich nicht gerechnet. Darf man bei Euch jetzt auch nicht mehr ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden? Belastet Euch die Nachrichtenlage? Muss ich mir Sorgen um Euch machen?“

„Gemach! Gemach!“ antwortete ich meinem jüngeren Selbst unverzüglich. „So schlimm ist es jetzt doch noch nicht. Bedenke doch: Brecht schrieb dieses Gedicht im Exil in den dreissiger Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, die ihn wegen seiner kommunistischen Haltung staatenlos gemacht hatten. Die Verhältnisse waren damals für ihn und für viele in Europa unmittelbar und existenziell bedrohlich. Natürlich sind wir aufgewühlt, natürlich denken wir an die Opfer dieser entsetzlichen Hamas-Verbrechen. Natürlich streiten wir darüber, auf welcher Seite wir stehen. Aber wir erleben auch (leider), wie man gegen schlechte Nachrichten unempfindlich wird, wenn sie nicht gleich aus dem Nachbardorf kommen. Die Lage in der Ukraine? Im Moment eher nebensächlich. Und am letzten Wochenende verfolgten wir geradezu euphorisch ein Gott sei Dank stinklangweiliges Ritual: Parlamentswahlen in der Schweiz. Die Stimmung in den Fernsehstudios war ¨überschwänglich, dabei waren die Wähleranteilverschiebungen minim (und fielen leider zugunsten der Rechtsbürgerlichen SVP aus). Das Hochgefühl mag – zugegeben – auch damit zusammenhängen, dass Wahlen, deren Resultate niemand in Zweifel zieht, auch in so genannt demokratischen Staaten keine Selbstverständlichkeit mehr sind. (Edit: Kurz nachdem ich das hier geschrieben hatte, kam heraus, dass man auch den Schweizer Wahlen nicht mehr trauen kann: Das Bundesamt für Statistik  hatte sich um ein paar Promillepünktchen verrechnet. Kurze Entrüstung in den Medien, mehr nicht).

Haben wir deshalb aufgehört, über Bäume zu reden? Oder über das Wetter? Nein, im Moment dürfen wir zum Glück wieder freundlich sein zu unseren Bekannten. Zugegeben: Während der Pandemie war das manchmal anders. Aber das vergessen wir jetzt lieber.“

Im Nebel des Vergessens

Neulich kaufte ich in einer Confiserie ein paar Schöggeli. Ich nahm gerade meine Karte zum Bezahlen aus dem Portmonee, als die Kassiererin zu jemandem hinter mir sagte: „Bitte warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich bei Ihnen.“ Ich zahlte, drehte mich um und sah hinter mir eine alte Frau mit wirrem Haar. Sie hatte ein Vollkornbrötchen schon halb verschlungen und riss mit den Zähnen gerade ein weiteres Stück Krume ab. Ein verstörender Anblick – weil die Frau so gierig ass und auch, weil sie gegen drei Regeln des Verhaltens im Laden einer europäischen Stadt verstiess: Man hält sich dort nach Möglichkeit frisiert auf. Wenn man etwas zu Essen kauft, bezahlt man, bevor man isst. Man schlingt unter den Blicken anderer nicht gierig Dinge in sich hinein. Die Frau sah nicht aus, als wäre sie soeben aus einem Land mit komplett anderen Regeln in unsere Stadt gekommen. War sie derart hungrig? War sie dement? Hatte sie einfach vergessen, wie man sich im Laden benimmt? Ich vermutete letzteres. Sie tat mir leid, aber ich sah nur eine Handlungsmöglichkeit: aus dem Weg gehen und sie ihr Brötchen bezahlen lassen.

Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, 1818 – wenn wir älter werden, versinkt die Welt immer mehr im Nebel. Da fragen wir uns manchmal, ob wir noch über der Sache stehen. (Quelle: Wikipedia).

Ich habe in letzter Zeit beruflich viel mit älteren Menschen zu tun. Viele der Kundinnen und Kunden, die bei mir schriftlich ihre Meinung zum Tagesgeschehen deponieren, sind über 80. Einige beliefern mich seit einem Jahrzehnt oder mehr. Ich kann aus der nachlassenden Kohärenz ihrer Texte, aus ihren Wiederholungen ablesen, wie bei vielen die geistigen Kräfte nachlassen. Auch im Familienleben: mehr alte Leute, bei denen die immer gleichen, alten Ängste und Kümmernisse aus dem Nebel des Vergessens ragen. Ich frage mich oft, ob das bei mir jetzt auch anfängt.  Zum Beispiel dann, wenn ich nachts nicht schlafen kann und mich wieder mal eine unerklärliche Wut auf jemanden packt, der mich – so sehe ich das um fünf Uhr morgens – irgendwann in meinem Leben gekränkt hat. Als ich jung war, war Erinnerung für mich vieles: Identität, Nostalgie, Verbindung mit meiner Grossmutter. Als ich  fünfzig geworden war, zählte Erinnerung für mich ein Jahrzehnt lang gar nicht. Die Welt veränderte sich schnell, und nur zu gerne liess ich manche Dinge im Nebel des Vergessens ruhen. Jetzt tauchen zwischendurch Geschichten aus meinem Leben wieder auf, die es wert sind, von der Sonne des neuen Tages neu beleuchtet zu werden. Deshalb habe ich hier eine neue Kategorie erstellt: die Nebel des Vergessens.

September, früher

3. September 2022 im Aargauer Wasserschloss. Der September versucht hier noch einmal, einen Sommertag hinzubekommen.

Normalerweise dauern die Hundstage bis zum 23. August. Dieses Jahr enden sie (hoffentlich) am kommenden Dienstag, 12. September. Mein Schlafzimmer hat nachts immer noch 24 Grad. In den Bergen steigt die Nullgradgrenze gerade auf Rekordwerte. Sie lag am 6. September bei über 5000 Metern (siehe hier). Das gab’s bislang nur zweimal seit Messbeginn, im Juli oder August, noch überhaupt nie im September. Ich liege wach und grüble. „Ach, jammert doch nicht so, wenn es endlich mal ein bisschen warm ist!“ sagt meine Nichte Carina. Sie ist 18, sie mag die Hitze. Mit 18 mochte ich die Hitze auch. Mit 58 finde ich sie an guten Tagen etwas mühsam. In schlechten Nächten verschafft sie mir eine Ahnung von der Apokalypse.

Oft denke ich darüber nach, was Carina mich eines Tages fragen könnte. Falls sie überhaupt Zeit und Lust hat, Fragen zu stellen. Sie wird mich wohl nicht danach fragen, wie Klimawandel sich anfühlt. Davon wird sie selbst noch genug bekommen. Aber vielleicht wird sie mich fragen, was früher normal war. Als das Wetter noch „normal“ war. Als wir jung waren. Damit kann ich dienen. Man muss es erinnern und kurz festhalten, bevor es vergessen und verschwunden ist.

Als ich am Gymnasium war, endete der Sommer mit den Schulferien. Mit den langen Nachmittagen im Schwimmbad war es dann vorbei – obwohl wir am Mittwochnachmittag ja frei hatten. Aber es war dann meist doch zu kühl zum Baden. Wenn ich am ersten Schulmorgen Ende August mit dem Fahrrad den Hang hinunter Richtung Gymnasium sauste, musste ich eine leichte Jacke tragen und hatte kalte Finger. Die Wiese unterhalb der Strasse trug oft einen weisslichen Tauschleier. Erste Frostnächte in der zweiten Monatshälfte waren nichts Unerhörtes. Später am Tag versuchte der September oft noch einmal einen richtigen Sommernachmittag hinzubekommen, aber es fühlte sich wehmütig an. In den Gärten begannen die Äpfel rötlich zu schimmern, die ersten Blätter bekamen einen Gelbstich.

Für den Büromenschen Frogg war der September draussen meist unauffällig. Die Arbeit drinnen beschäftigte uns stärker als das Wetter. Die Sommerstürme waren vorbei, wir klagten über den ersten Hochnebel, den Inbegriff von Nicht-Wetter. Sehr regnerisch war es selten. Oft lockten herrliche Tage, ich erinnere mich an 9/11, draussen ein kobaltblauer Himmel, diese Farbe, die wie ein Sog den Blick in sich hineinzieht und die Seele mit hochwirbeln lässt. Drinnen flimmerten die Bildschirme und zeigten das Grauen. Unwirklich.

In meiner Erinnerung war es mit dem Septemberwetter jeweils um den 2. Oktober herum zu Ende. Der 2. Oktober ist der Feiertag des Luzerner Stadtheiligen Leodegar, den wir nur noch wegen der Määs kennen, wegen des Jahrmarktes. Als Carina klein war, ging ich mit ihr und Tim jeweils dort auf wilde Bahnfahrten. Oft begleitete ein Kälteeinbruch mit Regen diese Ausflüge an die Määs. Wir hatten nach vier Monaten ausserhalb der Heizperiode vergessen, was kühles Wetter ist und waren dann richtig froh um wärmere Jacken und Schals.