Londongrad

Roman Abramowitsch, Russe und bis letztes Jahr Besitzer des Fussballclubs Chelsea (Quelle: zdf.de).

Wenn man heute nach London fährt, muss man darüber sprechen, dass dort zahlreiche vermögende Russinnen und Russen leben – oder vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gelebt haben. Es waren so viele, dass die Stadt den Spitznamen Londongrad bekommen hat („grad“ heisst „Stadt“ auf Russisch). Laut BBC sollen es um die 100000 russische Staatsangehörige sein oder gewesen sein. Einige von ihnen gehören zu den vermögendsten Oligarchen Russlands, immer wieder liest man in diesem Zusammenhang die Namen Roman Abramowitsch, Alischer Usmanow und Andrej Gurjew. 1200 russische Staatsangehörige sind im Vereinigten Königreich mittlerweile sanktioniert. Seit Wochen durchforste ich das Internet, um mehr über diese Leute zu erfahren. Ich will meinem Patensohn – und wenn möglich seiner Schwester – berichten, was in der Stadt unserer Träume in Tat und Wahrheit vor sich geht. Die Recherche hat mir ein paarmal die Haare zu Berge stehen lassen und meinen Blick auf den Kapitalismus und die englische Kapitale ganz neu ausgerichtet.

Warum kamen so viele reiche Russinnen und Russen nach London? Diese Frage wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 18. März 2018 hier präzis beantwortet. Zusammenfassung: Putin-Freunde kamen, weil sie im Vereinigten Königreich problemlos ihr Geld anlegen konnten – die Behörden interessierten sich kaum für eine mögliche kriminelle Herkunft. Dazu kam in den neunziger Jahren das Goldene Visum: Wenn jemand mehr als 2 Millionen Pfund im Land zu investieren versprach, bekam er anstandslos eine Aufenthaltsbewilligung. Und dann sind da die renommierten Schulen, die tollen Partys und die tollen Läden.

Es kamen aber auch Putin-Gegner. Sie kamen, weil sie sich hier sicher fühlten vor dem langen Arm des russischen Diktators. Irrtümlich, wie sich in mehreren Fällen herausstellte. Einige starben unter mysteriösen Umständen oder wurden vergiftet. Das brachte auch Risiken für Jenny Normalverbraucherin mit sich, die zum Beispiel mal eben ein seltsames Parfümfläschchen fand.

Hier gibt’s eine bitterböse Satire der Schriftstellerin A. L. Kennedy darüber, wie Durchschnitts-Britinnen und Briten Londongrad kurz nach Kriegsausbruch erlebten. Bis vor kurzem konnte man auch eine Kleptokraten-Tour machen, über die ARD hier berichtete. Sie führte zu den Anwesen reicher Russen, findet jedoch aus unbekannten Gründen nicht mehr statt.

Ich werde aber versuchen, meinen Begleitern zu erklären, weshalb das alles so grauenhaft unfair ist: Weil die meisten Oligarchen den Grundstein ihres Reichtums mit Geld gelegt haben, das eigentlich allen Russinnen und Russen gehören würde – wahrscheinlich oft mit unsauberen Methoden. Das habe ich schon irgendwie gewusst, aber ich habe nicht so genau hingeschaut. Mittlerweile bin ich aber überzeugt, dass der ganze russische Staat auf mafiösen Strukturen aufgebaut ist – mit Wladimir Putin als oberstem Gangster.

Für die Menschen in Grossbritannien sind die Gäste aus dem Riesenreich durchaus auch eine Belastung. Sie machen das Leben in der Hauptstadt fast unerschwinglich. Russinnen und Russen haben zudem den Tories viel Geld gespendet, der Partei, die das Vereinigte Königreich seit langem regiert. Ex-Premierminister Boris Johnson kann sich noch so sehr als Freund der Ukraine aufführen. Fakt ist, dass seine Partei Spenden von Russen im Wert von Dutzenden Millionen Pfund erhalten hat (Quelle: ein sehr informativer Bericht des Schweizer Fernsehens: Hier). Ob die feinen Milliardäre wohl eine Gegenleistung dafür bekommen haben?

Doch nicht nur Russinnen und Russen leben in London in Saus und Braus. Der Buchautor Oliver Bullough sagt über das Geld, das in Londoner Immobilien und im Londoner Luxuskonsum steckt: „Es wurde aus Staaten gesaugt, die es wirklich, wirklich gut brauchen könnten, und die Reichen werfen hier damit um sich.“ Er nennt als Herkunftsländer dieser Hyperkapitalisten auch Angola, Nigeria und auch die Ukraine.

Sehr schnell stiess ich auf die Oligarch Files der englischen Zeitung The Guardian. Dort ist Roman Abramowitsch der meistgenannte Name. Kein Wunder, denn dieser besass von 2003 bis 2022 den Fussballclub Chelsea und verfügte auch über eine luxuriöse Villa in Kensington Palace Gardens. Er war dort Nachbar der Royal Family. Das Abramowitsch-Vermögen vor Kriegsausbruch wurde auf 17,3 Milliarden Dollar geschätzt. Wie er sich solche Unsummen zusammengerafft hat, erklärt dieser Bericht gut verständlich. Zusammenfassung: Der Milliardär hat sich um die Jahrtausendwende massiv an russischen Staatsbetrieben bereichert.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass Abramovitsch 2016 in die Schweiz ziehen wollte, jedoch von Bundesamt für Polizei abgewiesen wurde. Dieses urteilte Anfang 2017, „dass Abramowitschs Anwesenheit in der Schweiz als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sowie als Reputationsrisiko für die Schweiz einzuschätzen sei. Abramowitsch sei Fedpol wegen Verdachts auf Geldwäsche bekannt“ (soweit Wikipedia). Dennoch sind wir hierzulande nicht fein raus, denn Abramowitsch hatte laut einem im Januar 2023 im „Guardian“ publizierten Leak bis 2022 Vermögenswerte im Umfang von 920 Millionen Dollar unter anderem auf der UBS – einer Schweizer Bank.

Eines Tages werde ich über Kleptokraten in der Schweiz schreiben müssen. Aber das muss noch warten. Im Moment tue ich etwas anderes: Ich versuche aus diesem Wust von Informationen eine Londongrad-Tour zusammenzustellen. Hier habe ich schon mal eine brauchbare Skizze gefunden, hier gibt’s weitere Infos vom „Guardian“.

Bleibt die Frage, was aus dem FC Chelsea wurde nach den Sanktionen gegen Abramowitsch. Hier die ausführliche Antwort. Zusammenfassung: Der US-Multimilliardär Todd Boehly hat ihn jetzt gekauft, für 5,25 Milliarden Dollar. Es sei die teuerste Fussballtransaktion der Geschichte gewesen, heisst es.

Zu Schweizer Bankendebakel

Eine der beiden grossen Schweizer Banken, die Crédit Suisse (CS), muss gerade gerettet werden. Als Schweizerin sollte ich schweigen und mich schämen. Aber ich muss feststellen, dass wir gerade dabei sind, in der Öffentlichkeit einen völlig falschen Eindruck entstehen zu lassen. Jetzt wird nämlich in den Medien behauptet, die CS sei eigentlich eine kommunistische Bank gewesen.

Am Freitagabend etwa sagte der rechtsnationale SVP-Banker Thomas Matter am Fernsehen, die CS-Manager hätten halt gehandelt, wie es im Kommunismus üblich sei: Sie hätten die Bank als Selbstbedienungsladen benutzt.

Doch nicht nur die gescheiterte Bank, nein, auch die Schweizer Regierung und die Schweizerische Nationalbank bediene sich sozialistischer Praktiken, steht heute im Frontkommentar der in den letzten Jahren weit nach rechts gerückten „Sonntagszeitung“:  „Dass Planwirtschaft nicht funktioniert, das zeigte sich dann bei der CS.“ Kritisiert wurde mit diesem Satz die Kommunikation des Nationalbank-Direktors und der zuständigen Ministerin (ganzer Kommentar hier).

Da muss ich einschreiten und Zweifler, ja, eventuell verunsicherte Anlegerinnen und Anleger beruhigen: Die Schweiz ist und bleibt ein hyperkapitalistischer Staat. Wir haben lediglich ein Wahljahr. Klar, dass Skepsis über das Funktionieren der so genannten freien Marktwirtschaft da schon zerstreut werden müssen, bevor sie überhaupt entstanden sind.

Mein neuer Job

Vom Bildschirm lächelt mich ein junger Mann an, höchstens 30, durchtrainiert bis in die Wangenmuskeln. Was um alles in der Welt macht sein Bild bei mir?!

„Passt auch ein .tif-Format auf die Seite?“ frage ich den Chef. „Ja, sollte gehen“, kommt postwendend die Antwort. Ich kopiere den Text ins Layout, ziehe das Porträtbild ins richtige Feld. Ja, .tif geht.

Dann lese ich den Text. Schnell wird klar: Der junge Mann ist bei einem Skitouren-Unfall ums Leben gekommen, 31-jährig. Er war die Aufstiegshoffnung eines KMU am Alpenrand, vor kurzem mit „der Frau seines Lebens“ in die gemeinsame Wohnung gezogen. Dann der letzte, grandiose Sonnenaufgang vor der Berghütte. Beim Abstieg ging etwas fürchterlich schief. Deshalb ist sein Bild hier, bei mir.

Das ist also die neue Aufgabe, die ich seit unserem letzten Stellenabbau zusätzlich habe: Nekrologe in die Zeitung packen. Wir haben auf dem Land noch diesen alten Brauch – man gedenkt der Verstorbenen mit einem Nachruf in der  Zeitung, maximal 5000 Zeichen (mit Leerschlägen). Die Hinterbliebenen schreiben den Text selbst. So geistern ¨die Verblichenen über meinen Bildschirm, mit einem kleinen Bild – immer schwarzweiss, wie es zum Genre gehört. Frauen, die zehn Kinder getragen haben. Männer, deren knapp bemessene Freizeit dem Jodlerchor gehörte, meist mit vom Alter gezeichneten Gesichtern. Es ist eine monotone Textsorte, die Stationen eines Lebens werden vorschriftsgemäss abgehakt. Doch oft ist viel Liebe zwischen den Zeilen, viel Familiensinn. Und dann und wann eine schockierende Geschichte.

Ich bearbeite ab jetzt um die drei Texte dieser Art, pro Woche. Auftrag ist, den Aufwand möglichst gering zu halten. Mein Chef erwartet von mir, dass ich diese neue Aufgabe mit gleichmütigem Achselzucken annehme, wie ich alles andere in den letzten Jahren angenommen habe. Sie hätten mich auch entlassen können. Diese Lösung gut für mein Portmonee, aber anspruchsvoll für mein Gemüt. Ich bin sonst die Frau für den Ärger und die Kontroversen. Damit kann ich umgehen. Dazwischen plötzlich umschalten auf Trauer und Weichheit? Ich weiss ja nicht.

Diese Nachrufe gehen mir aussergewöhnlich nahe. Ich möchte meinem Chef sagen, dass ich dem Tod eben selbst von der Schippe gekrochen bin, und dass ich Sehnsucht nach etwas anderem habe. Nach blühendem, lebendigem Leben.

Alteisen und künstliche Intelligenz

Einmal im Jahr noch sehe ich Veronika, weil ihr Sohn Tim mein Patensohn ist. Ich begegne ihr jeweils, wenn ich ihm am ersten Weihnachtstag sein Geschenk überbringe. Er wird bald 18. Sie arbeitet mit 57 an ihrer Doktorarbeit und redete mir an unserem halbstündigen Treffen die Ohren voll über künstliche Intelligenz.

Selten fühle ich mich jeweils so sehr zum alten Eisen versetzt wie bei diesen jährlichen, kurzen Treffen mit Veronika. Ich meine: Seit Jahr und Tag versehe ich, auch 57, ein- und denselben Job. In meinen Lebensumständen die Stelle wechseln zu wollen, wäre – vorsichtig ausgedrückt – bekloppt. Daneben spaziere, fotografiere und meditiere ich, ohne grössere Ambitionen. Einfach, weil es mich glücklich macht. Jaja, künstliche Intelligenz habe ich auch schon ausprobiert. Ich bin ja auch noch Hobby-Schriftstellerin.

Aber wenn Veronika zu mir spricht, dann fühle ich mich abgehängt wie ein rostender Bahnwaggon auf einem Abstellgleis – ein Memento des Industriezeitalters inmitten herumsausender Bytes und Bits. Und wer „Memento“ denkt, denkt auch gleich „memento mori“ – vergiss nicht, dass Du sterben wirst. Ob sich meine früheren Freundinnen an ihre Hinfälligkeit erinnern, wenn sie mich sehen?

Zum Glück fand ich wenig später ersten Trost bei meinem Lieblingskolumnisten Daniel Binswanger in der „Republik“. Sein Text vom 7. Januar, Die Ökologie des Verschwendens, ist ein einziger Aufruf dazu, den zweckfreien Genuss wieder zu erlernen. Denn nur wenn wir uns der kapitalistischen Logik des ständigen persönlichen und materiellen Maximaleinsatzes entzögen, könnten wir die Welt vor dem Klimakollaps retten, so seine These: „Um Ressourcen zu sparen, müssen wir wieder lernen, zu verschwenden: unsere Zeit. Wir müssen die Welt so annehmen, wie sie ist. Bei ihr verweilen. Um sie zu betrachten und zu feiern.“ Das ist ja ungefähr das, was ich tue. Und es hat also durchaus einen Sinn. Es ist eigentlich sogar das einzig richtige.

Ich wollte mir aber beweisen, dass ich dennoch auf der Höhe der Zeit stehe und befragte künstliche Intelligenz zum Thema, genauer, GPT-3, hier zu finden. Ich frage: „Gehören Menschen ab 57 zum alten Eisen, wenn sie seit Jahren den gleichen Job haben?“

GPT-3 antwortet spitz: „Nein, das denken nur diejenigen, die selbst alt und eingeschlafen sind.“

Spenden oder nicht spenden?

Wie eine Lawine ergossen sich in den letzten Wochen Bettelbriefe auf meinen Schreibtisch. Neulich habe ich eine Stunde damit verbracht, die meisten Briefe zu entsorgen und jene zu retten, die ich für beachtenswert halte. Wir sind von der Krise bislang zum Glück nur marginal betroffen, daher können wir spenden und tun dies auch.

Eins der Couverts enthält den Spendenaufruf einer schweizerisch-russischen Stiftung, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Ich kenne dessen Schweizer Gründer. Er lebt in einem russischen Landstädtchen südlich von Moskau und hat sich in den neunziger Jahren in ein Hilfsprojekt für die von der Staatskrise Betroffenen dort gestürzt. 1998 oder 1999 war ich mit Freunden bei ihm zu Besuch. Ich hatte die Gelegenheit, mit zahlreichen Russinnen und Russen zu sprechen – etwa mit einer Uni-Professorin, die beim Zerfall der Sowjetunion aus Tadschikistan hatte fliehen müssen. Sie gehörte dem sowjetischen Mittelstand an, doch durch die Währungskrise hatte sie nun auch noch ihre Ersparnisse verloren. Ich sprach mit Lehrpersonen, deren Löhne nur sporadisch ausgezahlt wurden – weshalb sie im Herbst oft nicht in die Schule gingen, sondern auf ihren Datschen Kartoffeln ausgruben. Ich hörte von Korruption, Armut und Alkoholismus. Ich sah traumatisierte Menschen und einen kaputten Staat. Und doch: Ich habe dort zum ersten Mal gesehen, wie Leute in wirklicher Not zusammenhalten und einander in Wärme verbunden sind. Es war eine hervorragende Lebensschule für mich.

Aus Dankbarkeit habe ich der Stiftung seither Jahr für Jahr vor Weihnachten einen nicht zu knappen Beitrag zukommen lassen. Die Probleme in Russland wurden zwar weniger, aber es gab immer noch die Ärmsten, die Essenspakete mit Grundnahrungsmitteln gut brauchen konnten und Invalide, die von der Stiftung Brennholz bekamen – Überlebenshilfe im russischen Winter.

Dieses Jahr drehte ich den Bettelbrief unschlüssig in den Händen, legte ihn zu den zu bezahlenden Rechnungen und zahlte dann doch nicht. Statt dessen las ich den Begleitbrief der früheren Stiftungspräsidentin. Sie betont die politische Neutralität der Stiftung, erwähnt, dass auch in Russland die Preise dramatisch gestiegen sind und schreibt: „So treffen die Sanktionen auch diesmal diejenigen am Härtesten, die am allerwenigsten Schuld tragen.“

Beim Lesen bricht mir fast das Herz – aber ich weiss immer noch nicht, ob ich spenden soll oder nicht. Was würdet Ihr tun?

Wovor wir uns in der Politik wirklich fürchten sollten

In der vergangenen Woche tauchte in den Medien kurz die Meldung auf, immer weniger junge Menschen würden sich für News interessieren (siehe zum Beispiel hier). 38 Prozent der jungen Menschen seien „news-depriviert“. „Depriviert“ kommt vom Lateinischen „privare“, zu Deutsch „berauben“. Fast die Hälfte unserer jungen Erwachsenen sind also der News beraubt. Das warf keine hohen Wellen, denn die Beraubten fühlen sich nicht beraubt, im Gegenteil: News, gerade über Politik, finden sie langweilig und zu traditionellen Massenmedien haben sie wenig Vertrauen.

Meldungen dieser Art kommen einmal im Jahr, und weil ich selbst einmal eine politisch höchst naive junge Erwachsene war, haben sie mir früher auch kaum Sorgen bereitet. „Diese jungen Leute werden schon noch richtig erwachsen“, dachte ich jeweils. Ausserdem habe ich einen Patensohn, der Co-Präsident eines Jugendparlamentes ist. Es gibt also auch politisch aktive junge Leute. Solange der Staat funktioniert und fast alle einen Job und eine Wohnung haben, ist das Desinteresse an News auch kein politisches Problem, sondern lediglich ein wirtschaftliches, für die Medienhäuser. Dachte ich.

Aber dann kam die Pandemie, während der viele Menschen erstmals die Existenz des Staates überhaupt bemerkten, und zwar negativ. Da haben wir schmerzlich erfahren, was Leute anrichten können, die plötzlich und aus kompletter Ahnungslosigkeit heraus politisiert werden. Sie wollten „selber denken“. Sie informierten sich auf Plattformen, die elementare Anforderungen an die Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit nicht erfüllten. Anforderungen, denen ausgebildete Journalistinnen und Journalisten normalerweise schon aus Professionalität gerecht werden – und wenn dies einmal nicht der Fall ist, sorgt das zu Recht für Empörung, etwa im Fall Relotius.

Die Selber-„denker“ bildeten eine Bewegung, wurden zur Machtbasis der Libertären und Rechtsextremen und merkten es nicht mal. In der Schweiz war der Höhepunkt, dass sich eines Donnerstagnachts in der Hauptstadt ein paar Leute – vom Mob geschützt – mit Brechstangen an den Absperrgittern vor dem Bundeshaus  zu schaffen machten. Ich habe in meinem Leben ab und zu demonstriert – aber diesmal stand ich auf der Seite jener, die froh waren, dass ein paar kräftige Wasserwerfer die Angreifer wegfegten.

Die breite Öffentlichkeit hat das schon fast wieder vergessen. Ich nicht, und ich fürchte, dass die Pandemie ein laues Lüftchen gewesen sein könnte im Vergleich zu dem, was uns die Zukunft bringen wird. Ausserdem weiss ich dank meiner Hannah Arendt-Lektüre, dass politisch desinteressierte Menschen, die von allen anderen Parteien als „zu dumm und apathisch aufgegeben worden waren“*, zur bevorzugten Zielgruppe faschistischer Demagogen werden. Man kann in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ nachlesen, wie diese Demagogen dann arbeiten, um durch Wahlen legitimierte Parlamente lächerlich aussehen zu lassen. Mit Hilfe der Bewegung reissen sie Macht an sich. Danach sind ihnen die Bewegten meist herzlich egal. Diese Demagogen gibt es schon, sie heissen zum Beispiel Trump oder Orban oder – in der Schweiz – Roger Köppel.

Ich warf einen Blick in die News und stellte fest: Vielleicht stehe ich auf verlorenem Posten, vielleicht haben die Libertären und Faschistinnen in Europa schon gewonnen. Dennoch setzte ich mich hin und schrieb meinem Gottenbuben ein Whatsapp: „Lieber Tim, bitte sag mir: Was sagst Du zu jungen Leuten, die sich für Politik überhaupt nicht interessieren?“

Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, Serie Piper, 1986, S. 668.

I Got Life, Mother!

Seit Anfang Woche arbeite ich wieder im Büro. Das ist schwieriger als ich gedacht habe. Ich fühle mich wie abgeschnitten von den anderen, die ich zum Teil monatelang nicht gesehen habe. Ein Neuanfang, auf den niemand gewartet hat.

Aber gestern Mittag ging ich mit dem Herrn Grossstadtrat zu Mittag essen. Wir speisten im Bistro an der Tagblattstrasse. Er ist ein langjähriger Kunde, und mit den Jahren sind unsere Treffen ungeschäftlicher und unsere Gespräche entspannter geworden.  Hinter uns sassen zwei pensionierte Herren Stadträte, die ich früher interviewt habe, und ihre ebenfalls pensionierten Chefbeamten. Niemand kann so viel Heiterkeit verbreiten wie Politiker, die ihre Arbeit getan haben und sich endlich in Ruhe ein Gläschen gönnen dürfen. Es ist sogar für die Leute am Nebentisch ansteckend.

Später traten der Herr Grossstadtrat und ich auf die Strasse, die Bäume am Strassenrand waren gelb, der Himmel strahlte. Als wir uns verabschiedeten, parkierte gerade eine junge Frau ihr Fahrrad beim Veloständer nebenan. Es war die Frau SP-Regierungsratskandidatin, nach der sich der Herr Grossstadtrat verstohlen umblickte.

Ich blickte in den Himmel und fühlte mich wie eben geboren. In meinem Kopf erschallte plötzlich ein Song, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe. Aber ich hörte ihn klar, jede Modulation in der Stimme des Sängers, und ich konnte erstaunlicherweise weite Strecken des Textes auswendig: „I got life, mother; I got laughs, sister; I got freedom, brother; I got good times, man.

I got crazy ways, daughter; I got million dollar charm, cousin; I got headaches and toothaches; And bad times too like you!

I got my hair; I got my head; I got my brains; … I got my ass; I got my arms; I got my hands; I got my fingers; I got my legs; I got my feet; I got my toes; I got my liver; I got my blood;  got my guts; got my muscles I got life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)“
Hier und hier alles darüber.

Wenn ein Tisch dagewesen wäre, hätte ich glatt darauf zu tanzen begonnen.

 

Dostojewski lesen

Eines Sonntags im Juli  traf ich bei der nachbarschaftlichen Kehrichtsammelstelle den Doppelbuddha. Damals war ich noch kahl, hatte aber vergessen, mir einen Hut aufzusetzen. Ich hatte nur ein Käppi aus Strumpfstoff an, wie man es unter Perücken trägt.

„Meine Güte, hast Du Chemo?!“ rief der Doppelbuddha aus. Er tat dies derart spontan, dass ich sehr berührt war. Ich bejahte, wir redeten, und irgendwann sagte ich:  „Ach, weisst Du, das Gute daran ist: Man hat viel Zeit zum Lesen. Ich nehme mir gerade so richtig dicke Wälzer vor.“ Er sagte: „Na, dann könntest Du ja mal Dostojewski lesen. Ich leihe Dir ‚Der Idiot‘ aus, wenn Du willst.“ Weil er so nett gewesen war, sagte ich nach einigem Zögern: „Ok, sehr gerne! Wenn Du ihn vorbeibringst, dann komm doch gleich mit Frau Doppelbuddha zum Apero!“ So machten wir es und hatten einen sehr vergnüglichen Abend.

Dann begann ich, den Roman zu lesen, 950 Seiten. Ein Stück Weltliteratur, dem – so hatte ich im Literaturstudium gelernt – mit grösster Hochachtung zu begegnen ist. Ich befürchtete gepflegte Langeweile, aber „Der Idiot“ elektrisierte mich am Anfang geradezu. Die zwei Fremden, die im Zug nach St. Petersburg Bekanntschaft schliessen!  Die mysteriöse Schönheit Nastasja Filippowna! Als Teenager von ihrem Adoptivvater sexuell missbraucht, wird sie von der Gesellschaft als gefallene Frau behandelt. Dass man ihren Stiefvater ins Gefängnis stecken sollte, kommt niemandem in den Sinn! Was für eine Welt!

Die zwei Männer aus dem Zug verfallen Nastasja Filippovna schnell mit Haut und Haaren: der reiche Kaufmannssohn Rogoschin sowie der als Idiot bezeichnete Protagonist des Romans, der junge Fürst Myschkin. Myschkin ist Epileptiker und gerade von einem jahrelangen Kuraufenthalt in den Schweizer Bergen zurückgekehrt. Er ist ein herzensguter, aber in gesellschaftlichen Dingen total unbeholfener Jüngling.

Es ist kein familientauglicher Gesellschaftsroman, wie wir sie sonst aus dem 19. Jahrhundert kennen. Myschkin denkt viel über Grausamkeit, Armut und Tod nach. Auch das packte mich. Ich hatte mich selbst mit Fragen zu beschäftigen, die man nicht so leicht familientauglich abhandeln kann.

Am 31. August ging ich mit meinem alten Freund, dem Slawisten und Zweifler Chäppeli, spazieren. Wir diskutierten zuerst ein bisschen über den Zustand der Welt, den Krieg und all das. Dann erzählte ich ihm freudig von meiner Dostojewski-Lektüre und fragte ihn, was er von dem Roman gehalten habe. Er zögerte, wie es seine Art ist und sagte dann: „Nun ja, Dostojewski sollte man ja jetzt auch nicht mehr lesen.“

Es war die Zeit, als alle Welt über „Der junge Winnetou“ und andere Arten kultureller Aneignung diskutierte, und ich dachte: „Oh nein, nicht noch mehr Zensur! Man kann doch einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nicht für die Verbrechen des 21. schuldig sprechen!“ Aber Chäppelis Bemerkung sollte meinen Blick auf das Buch erheblich verändern.

 

Stromfresser Staubsauger

Heute Morgen loteten Herr T. und ich die Grenzen unserer Stromspar-Manie aus. Herr T. testete mit seinem Messgerät den Stromverbrauch des Staubsaugers. Sein „Du meine Güte!“ übertönte das Sausen des Motors im himmelblauen Gehäuse. Es stellte sich heraus: Das Ding verbraucht 3300 Watt! „Das ist ein Grund, weniger staubzusaugen“, meinte er. Er hasst das Geräusch von Staubsaugern. Ich bringe unser Teil meist zum Einsatz, wenn er gerade einkaufen geht. „Nein, nein, nein“, sagte ich. Wahrlich, ich bin als Putzfrau Minimalistin aus Überzeugung – schon daher können wir bei der Haushalts-Hygiene keine weiteren Abstriche machen.

Letzte Woche haben wir erschreckende Geschichten über die Steigerung der Strom- und Gaspreise in Deutschland gehört. Hierzulande fallen die Nachrichten zu diesen Themen etwas gemässigter aus – die Teuerung beim Strom liegt in einigen wenigen Gemeinden bei maximal 230 Prozent, in anderen sind es 2 Prozent oder weniger. Es hat auch damit zu tun, dass bei uns der Strommarkt nicht vollständig liberalisiert ist wie in den Staaten der EU. Wir haben das 2002 bei einer Volksabstimmung verhindert. Für Ottilia Normalverbraucherin gibt es bei uns immer noch in jedem Dorf höchstens drei, meistens nur einen Stromanbieter. Unter anderem wegen dieser fehlenden Strommarkt-Liberalisierung hatten wir dann aber Unstimmigkeiten mit der EU, die zum Abbruch der Verhandlungen über einen Rahmenvertrag geführt haben. Zum ersten Mal bin ich gerade froh, dass wir  den nicht haben.

 

Wie wir Strom sparen

Ich muss hier vorausschicken, dass die Strompreise in unserer Stadt lediglich um rund 33 Prozent steigen werden. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird uns das nicht in existenzielle Schwierigkeiten bringen. Unser Versuch, weniger Strom zu verbrauchen, ist daher eher ein Beitrag an das Wohlergehen der Allgemeinheit: Damit „der Pfuus“ für alle länger reicht. Damit wir weniger das Gefühl haben, in dieser Krise ohnmächtig dazusitzen. Und das tun wir:

  • Schon seit August spare ich täglich früh morgens beim Zeitungsholen eine Liftfahrt aus dem fünften Stock nach unten ein. Aufwärts klappt’s noch nicht so mit dem zu Fuss gehen. Einmal täglich keuche stur treppauf, seit wir hier wohnen. Aber für mehr bin ich noch zu faul.
  • Ich separiere meine 30-Grad-Wäsche nicht mehr nach hellen, roten und blau/schwarzen Kleidungsstücken, sondern wasche kunterbunt alles miteinander. Meist nehme ich auch noch Sachen von Herrn T. dazu, damit die Trommel voll wird. Das habe ich früher nicht gemacht, wir hatten einen emanzipierten Haushalt, Herr T. machte seine Wäsche selbst. Ich füllte die Trommeln oft nur zu einem Drittel. Mit dem neuen Regime haben wir die verbrauchte Waschenergie wahrscheinlich um ungefähr ein Drittel reduziert. Farbunfälle gab’s bis jetzt keine.
  • Ich stelle alle meine Computer abends ab, und die Steckerleisten ebenfalls. Herr T. macht das auch beim Fernseher.
  • Wenn ich sehe, dass eine Lampe brennt, die wir gerade nicht brauchen, schalte ich sie sofort aus. Ich habe von Leuten gehört, die mit solchen Massnahmen ihren Verbrauch halbiert haben.
  • Ich habe einfach mal ein bisschen drauflos gespart. Herr T. war gründlicher und hat ein Gerät gekauft, mit dem er den Verbrauch eines jeden einzelnen Teils messen kann, das wir in die Dose stecken. Erfreulich: Mein Homeoffice verbraucht wenig Strom – lediglich um die 60 Watt, was gleich viel ist wie Grossmutters Lampenbirnen anno dazumal – und das mit zwei Monitoren.  Extrem sparsam sind die Lampenbirnen der neuesten Generation, sie verbrennen gerade noch 4 Watt pro Stück. Aber die unangenehme Überraschung: Die Design-Lampe in unserer Küche (ein Herzstück unseres Haushalts und täglich morgens und abends im Gebrauch) frisst nicht weniger als 122 Watt. Wir versuchen jetzt, sie nicht einfach  brennen zu lassen wie früher.

Ich dachte, solcherlei Sparübungen würden ein bisschen einschenken. Ich dachte, viele würden dasselbe tun wie wir. Aber am 19. September gab’s vom Bund Zahlen über den Stromverbrauch der Schweiz im August 2022: Er ist im Vergleich zum Vorjahr lediglich um 1 Prozent gesunken.

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