Schwerhörigkeit: Gefahren im Strassenverkehr 1

Es ist Aschermittwoch. Ich war vor 8 Uhr in einer Gasse im alten Teil der Stadt Luzern unterwegs. Der Lärm war beträchtlich, die Aufräumarbeiten nach dem gestrigen Massenbesäufnis in vollem Gang. Vor der Franziskanerkirche ging ich auf der linken Strassenseite. Die Stelle vor dem Portal ist eng, es gibt keinen Gehsteig, deshalb marschierte ich nahe an der Häuserzeile. Beim Restaurant an der engsten Stelle hatte jemand eben die Frontscheibe mit Seifenwasser abgespült, Schaum und Nässe lagen 70 Zentimeter breit auf der Strasse. Ob da jemand hingekotzt hatte? Ohne Kontrollblick nach hinten (ich glaubte mich in der Fussgängerzone) machte ich einen leichten Ausfallschritt nach rechts. Da zog ein grosser Kehrichtlastwagen wenige Zentimeter an meiner rechten Schulter vorbei.

Meine schwerhörige Bekannte Ursula hat einmal gesagt: „An so einer Stelle werden sie mich eines Tages unter einem Auto hervorziehen.“

Schweizerdeutsch 23: Auf dem Bauernhof

Zobig (N, m oder n)

Standarddeutsch wörtlich: „Zu Abend“, eine Zwischenmahlzeit.

Erläuterung: Wir Städter essen kaum noch Zobig, die Leute auf dem Land schon, meist so um 16 oder 17 Uhr. Auf dem Bauernhof wird nach dem Zobig noch gemolken, erst dann gibt es Znacht. Als ich ein Kind war, waren wir manchmal bei meinem Onkel auf der Winterweid zum Zobig. Dort war mein Vater aufgewachsen.

Es kamen alle, die dort wohnten, bei der Ernte geholfen hatten oder sonst gerade in der Gegend waren : „de Vatter“ (Grossvater), „de Onku Wiisu“ (Grossonkel Alois, der Knecht), Onkel Jakob, Tante Lisebeth oder Tante Theres, in den siebziger Jahren nach und nach drei kleine Cousinen und ein kleiner Cousin und wir vier aus der Stadt. Oft rumpelte auch noch Onkel Kari mit seinem alten Chlapf durch die Einfahrt, manchmal waren Handwerker da oder weitere Verwandte. Es konnte laut und fröhlich werden.

Die Leute kamen vom Heuen oder aus dem Stall, durch die Haustür direkt in die grosse Küche. Ein langer Tisch füllte den Raum, hinten links war „de Füürhärd“, die eiserne Feuerstelle, die zugleich Kochherd und Heizung war. Es gab Most, Brot und Käse aus der nahen „Chääsi“, „und weissen Kaffee“, erinnert sich mein Vater, also Kaffee mit Rahm von der eigenen Milch. „Anke“, also Butter, gab’s auch. „Aber damit waren sie sparsam“, sagt mein Vater heute. Und: „Überhaupt: Alles andere wäre Luxus gewesen.“

An der Decke hingen klebrige Fliegenfänger wie Zapfenlocken, Fliegen hatte es trotzdem, und unter dem Tisch tummelten sich Katzen jeden Alters, mehr oder weniger gesund. Ich liebte die Katzen.

Danke Edith, Du hast mit Deiner Frage nach dem Zobig eine Flut von Erinnerungen ausgelöst! Falls jemand Fragen hat: gerne!

Schweizerdeutsch 22: Nachhilfe für den Hamburger Kollegen

Znüni (N, n)

Wörtlich: „Zu neun Uhr“

Standarddeutsch: kleine Zwischenmahlzeit am Morgen, oft verbunden mit einer kurzen, geselligen Pause.

Erläuterung 1: Mein Gottenbub ist jetzt Zivi. Er arbeitet in einer Werkstätte für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf dem Land. Auch einen jungen Betreuer aus Hamburg hat es in die Institution verschlagen, berichtet Tim. „Er versteht Schweizerdeutsch. Was er aber gar nicht verstanden hat, ist das Wort Znüni. Dabei ist es so einfach. Funktioniert doch genau gleich wie Zvieri.“ Überhaupt heissen unsere Mahlzeiten: Zmorge, Znüni, Zmittag, Zvieri, auch Zobig, und Znacht.

Erläuterungen 2: Über das Znüni im Handwerksbetrieb singt die unvergessliche Band Stiller Has, hier geht’s zum Video.

An meine Zürcher Leserinnen

Zürcherinnen und Zürcher würden „schlüüsse“ sagen, schrieb ich in meinem letzten Beitrag über den Befehl einer Dentalhygienikerin – und nicht „schliesse“ wie wir in Luzern. Sofort bekam ich zwei liebenswürdige, aber bestimmte Rückmeldungen von Zürcherinnen aus meiner Leserschaft. Einhellig gaben sie mir zu verstehen: Nie und nimmer würde jemand in Zürich sagen, man solle den Mund „schlüüsse“. Auch dort würde man „zuemache“ oder „zuetue“ sagen.

Ich habe mich sehr über die beiden Kommentare gefreut – die friedvolle, gemeinsame Wahrheitssuche gehört zu den Dingen, denen wir im Blog noch frönen können, anders als in gewissen sozialen Medien.

Ich war aber auch verunsichert. Das Wort „schlüüsse“ glaubte ich von meinem Eheman, dem Kulturflaneur, zu kennen, der Züritüütsch spricht. Ich fragte bei ihm nach. Er schimpfte geradezu: „Nein, natürlich sagt beim Zahnarzt kein Mensch ’schlüüsse‘!“ Er räumte aber ein: „An einer Sitzung würde ich sagen: ‚Mier beschlüüssed das jetz!'“ Ok, ich habe verstanden. Ich hoffe, ihr auch. Sonst bitte melden.

Und noch etwas: Zum ersten Mal habe ich in meinem letzten Beitrag vage Ressentiments angesprochen, die wir in der Schweiz mitunter jenen gegenüber haben, die einen anderen Dialekt sprechen als wir. Als ich die beiden  Kommentare meiner Zürcher Leserinnen las, wurde mir wieder einmal klar, wie dumm das ist. Ich gelobe hiermit, in Zukunft um dieses Thema einen weiten Bogen zu machen.

Bei der Dentalhygienikerin

„Schl¨üüsse!“ sagt die Dentalhygienikerin. Ich mache gehorsam den Mund zu, aber ich bin befremdet. Wir sagen beim Zahnarzt nicht „schlüüsse“, sondern „zuemache!“* oder eben „uufmache!“** Mein früherer Zahnarzt, Dr. Schlosser, tat das unnachahmlich gelangweilt bei jeder Behandlung drei- bis fünfmal. Er muss in seinen Jahren in der Praxis jedes der beiden Wörter grob geschätzt 400’000mal ausgesprochen haben. Jetzt ist er pensioniert, ich vermisse ihn.

Ist die Dentalhygienikerin etwa Zürcherin? Die Zürcher sagen „schlüüsse“, und vor Zürchern sind wir in Luzern auf der Hut. Sie sind uns wirtschaftlich überlegen, deshalb haben wir oft Abwehrreflexe, wenn sie uns mit ihrem Dialekt auf den Leib rücken. Aber, nein, sie ist keine Zürcherin, sie spricht sonst wie ich.

Allerdings ist sie noch in Ausbildung. Wahrscheinlich hat sie den Befehl „schlüüsse!“ in der Berufsschule gelernt, oder er kommt aus dem Marketing. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die  Gesundheitsbranche in der Werbung stets Peinlichkeit vermeiden will – und uns deshalb mitunter sprachliche Monstrositäten auftischt, die dann eben auch peinlich sind. In einem Fernsehspot für ein Zahnreinigungsprodukt etwa fiel das unerhörte Wort „de Mund“. Als ob man nicht einfach „s’Muul“ sagen dürfte, wie uns allen der Schnabel gewachsen ist. Der Neologismus erwies sich als nicht mehrheitsfähig und verschwand.

Bei der der Handarbeit ist die Dentalhygienikerin zum Glück viel subtiler als in der Sprache. Deshalb verbringe ich die ganze Stunde in ihrem Sessel ungestört damit, im Kopf diese Kolumne zu komponieren. Viel schneller als befürchtet stehe ich wieder auf der Schwelle der Praxis. Die Kolumne ist fast fertig gedacht, ich gehe vorwärts, nehme den Türknauf in die Hand und höre, wie Doktor Schlosser zu mir sagt: „Zuemache!“

*Zumachen, Mund schliessen, im Alltag meist „zuetue“
** Aufmachen, Mund öffnen, im Alltag auch „uuftue“

Schweizerdeutsch: Hausaufgaben mit Béla und Emil

Ich habe schon darüber nachgedacht, Hörproben für meine Schweizerdeutsch-Lektiönli zu machen. Aber das wäre aufwändig geworden, und aufwändig herzustellen sollen diese Lektiönli eben nicht sein. Also keine Hörproben. Obwohl die meisten von Euch gar nicht wissen, wie Luzerndeutsch klingt. Damit Ihr Euch das – gewissermassen im Selbststudium – mal anhören könnt, poste ich heute ein paar Links zu Luzerndeutsch gesprochenen YouTube-Videos.

Béla Rothenbühler (Quelle: Verlag der gesunde Menschenversand).

Aktuell und cool: Béla Rothenbühler. Dieser hat es mit seinem zweiten Luzerndeutschen Roman „Polyphon pervers“ 2024 auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises gebracht und spricht hier über das Buch. Im Film zeigt er auch gleich, dass man auf Schweizerdeutsch locker über Kultur spricht – was, soweit ich informiert bin – Dialekt Sprechende in Deutschland lieber auf Hochdeutsch tun.

Emil Steinberger (Quelle: Wikipedia)

Die älteren von Euch haben Nummern von Emil Steinberger** gehört, jenem Schweizer Comedian, der in den achtziger Jahren auch in Deutschland und Österreich Furore machte. In seinen Programmen für das nicht-schweizerische Publikum sprach er aber gar nicht Luzerndeutsch, sondern Standarddeutsch mit einem Schweizer Akzent, der mit das Ulkige an der Sache war. Wir fanden dann die Deutschen ulkig, oder vielmehr „zum Giggele“, die in die Schweiz kamen und dachten, wir würden hier so sprechen wie der Emil, den sie gehört hatten. Unser Emil aber klingt so; so; oder so.

*Hier habe ich schon über Béla Rothenbühlers ersten Roman geschrieben.
** Emil wuchs 200 Meter von der Stelle auf, wo ich gerade sitze. Wie es damals in unserem Quartier war, lässt sich hier nachlesen.

Schweizerdeutsch 12: Neujahrswunsch

 

Luzerner Altstadt, im Jahre 2024

Es guets Nöis

Oder, auf Hochdeutsch und diesmal: Ich wünsche allen, die ab und zu hier landen, ein heiteres, sorgloses Jahr 2025.

 

Schweizerdeutsch – Lektiönli 1

„Hender chönne riite?“

Bedeutet: „Habt Ihr eine Mitfahrgelegenheit bekommen?“
Direkte Übersetzung ins Hochdeutsche: „Habt Ihr reiten können?“
Wohl verwandt mit „did you get a ride?“ im Amerikanischen

Diese wahrscheinlich aussterbende Redensart stammt aus meiner Kindheit. Sie erinnert mich an das Gefühl, wohlig im Fond eines Autos zu kuscheln, während vorne eine kompetente, erwachsene Person das Steuer hält.

In der neuen Rubrik „Schweizerdeutsch-Lektiönli“ schreibe ich in unregelmässigen Zeitabständen über Redensarten in der Schweiz. Viele stammen aus meiner Familie, unser Dialekt: Luzerndeutsch, teils geprägt durch die Herkunft meines Vaters, der als Bauernbub im Nordwesten des Kantons aufwuchs. Ich tue es ohne System oder didaktische Absicht, die Methode ist heuristisch. Kommentare jederzeit willkommen.

Seltsame Begegnung im zertrümmerten Paradies

Heute führte mich ein ein Spaziergang an die Drachenfliegenstrasse. 18 Jahre lang hatten Herr T. und ich dort gewohnt, bevor wir im Juni 2019 wegzogen. Es war unser Paradies, aber jetzt gehe ich nur noch selten dort vorbei. Wir sind glücklich an unserer neuen Adresse. Wenn es doch tue, sehe ich manchmal nach, ob die früheren Nachbarn noch dort wohnen. Oder ob es Anzeichen gibt, dass die Bauherrin endlich die Abbruchpläne ins Werk setzen kann, wegen denen wir weggezogen sind.

Das Projekt war jahrelang blockiert. 2022 zogen ukrainische Familien in die schon leergekündigten Häuser auf der anderen Strassenseite. Auf unserer Seite blieben einige Alteingesessene noch lange. Heute jedoch sind die Bäume am Strassenrand: abgesägt. Alle Wohnungen auf unserer Seite: leer. Verwunschene Gärten und geheime Pfade: planiert. Es riecht nach niedergemähtem Bärlauch. An den Hausecken: Lose Haufen aus Wohntrümmern und abgesägten Ästen. Ich irre umher, die Gespenster der Vergangenheit überwältigen mich.

Hier. An dieser Ecke habe ich einmal ein paar Worte mit Herrn Rüedi gewechselt, der gerade sein Gartenbeet pützelte. Seine Frau sah mich vom Liegestuhl aus böse an. Glaubte sie wirklich, ich wolle mit ihrem Ehemann schäkern? Wenige Jahre danach fuhr Herr Rüedi eines Morgens mit dem Velo aus und kam nicht zurück – ein tödlicher Herzinfarkt riss ihn unterwegs vom Rad. Das weiss ich, weil ich mich später, zunächst widerwillig, mit Frau Rüedi anfreundete. Sie hiess mit Vornamen Katharina, er hatte Karl geheissen, und einmal hat sie mir ihre hinreissende Liebesgeschichte erzählt (hier und hier und hier). Katharina ist auch weggezogen, aber ich finde sie unter ihrer neuen Adresse nicht mehr. Ob sie zu ihrem Karl heimgegangen ist?

Eine alte Frau mit einer sorgfältig toupierten, mahagonifarbenen Frisur tappt mir am Gehstock entgegen. „Verrückt, nicht?“ sage ich, als wir uns begegnen. Sie lächelt. Sie hat dritte Zähne und ein leeres Gesicht und bleibt stumm. Schwerhörig? Dement?

Ich gehe weiter, und hier! Hier hatte ein korpulenter, älterer Herr sein Gärtchen. Er grüsste nur mürrisch, kultivierte ungewöhnliches Gemüse, Catalogna vielleicht, und bewässerte es mit blauen PET-Wasserflaschen aus Italien. Jetzt: nur noch Dreck und Trümmer, ein paar Buben spielen im Unrat. Und hier: Hier hatte Mahika ihr Beet mit Himbeerstauden. Direkt vor dem Zimmer ihrer Tochter Sita im Erdgeschoss. Das Zimmer, ach Gott, es hatte Schimmel an den Wänden und Sita ständig Bronchitis, und so zogen die beiden weg. Sita sehe ich manchmal in der Stadt und Mahika …, ich sollte sie besuchen, aber sie wohnt so weit weg. Ich blicke zum Fenster von Sitas einstigem Zimmer. Die Scheibe ist kaputt.

Da kommt wieder die Frau mit dem mahagonifarbenen Haar. Ich versuche es noch einmal. „Haben sie auch hier gewohnt?“ frage ich. Sie lächelt wieder ihr leeres Lächeln. Dann sagt sie: „Russia.“ Hä!?` „Sie sind Russin?“ Sie nickt.

Was macht eine Russin hier? Ukrainerin, ja. Aber eine Russin? Misstrauen, Neugier und Freundlichkeit streiten kurz in mir, es gewinnen Neugier und Freundlichkeit. Ich recke meinen Zeigefinger Richtung andere Strassenseite, wo die Häuser noch bewohnt sind. Sie nickt. Ich kann es mir nur so erklären: Sie ist eine geflüchtete Ukrainern russischer Herkunft, die dort drüben wohnt. Ich versuche, mit ihr zu sprechen, in allen Sprachen, die ich kann. Ich hätte hundert Fragen. Sie schüttelt nur den Kopf. Russisch kann ich nicht, verdammt!

Auf dem Nachhauseweg schwelge ich in meinem Schmerz, aber dann fällt mir die alte Russin ein und dass sie tausendmal mehr verloren hat als ich. Und  vielleicht noch nicht einmal ein neues Zuhause.

Glücklich

Er lächelte, ich auch.

Am vergangenen Samstag, 14.15 Uhr, packte ich meine Kamera ein und eilte an die Strassenfasnacht. Ich liess mich von der Menschenmenge treiben und knipste. Und lächelte. Und knipste. Schaltete die Hörgeräte aus und hörte nur noch ferne Rhythmen, keinerlei Lärm. Nach einer Stunde wusste ich: Ich bin genau jetzt der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich muss gar nichts. Ich muss keinen Mann suchen, der sich mir an den Hals wirft wie als ich 16 war. Ich muss nicht meine Kreativität unter Beweis stellen wie mit 22. Ich muss die Fasnacht nicht zu meinem Beruf machen und tagelang konfettibedruckte Seiten zutexten wie mit 35. Ich kann genau das tun, was ich an der Fasnacht am liebsten tue. Ich kann zuschauen und diese leicht surrealen Momente geniessen, in denen der Alltag dem Ausnahmezustand weicht – oder umgekehrt.

„Verkauf bitte meine Bitcoins, und zwar sofort.“

Bei der Brücke steht ein unten als Clown verkleideter Mann – und spricht oben so dringlich ins Handy, als würde er zu seinem Gesprächspartner sagen: „Bitte verkauf meine Bitcoins, und zwar sofort!“ Oder da sind diese beiden kleinen, drahtigen Frauen im kleidsamen Matrosenkostüm. Ihnen winken zwei aufwändig und wunderschön herausgeputzte Piraten in mittleren Jahren zu – „hallo, winkt doch zurück, wir sind schliesslich auch in der Hochseeschifffahrt tätig!“ Ich konnte sehen, wie die beiden Frauen nicht sicher waren, ob sie belästigt wurden, oder ob es einfach Spass war. Sie entschieden sich nach kurzem Zögern für „einfach Spass“ und winkten zurück. Ich schaute und hatte keine einzige Sorge auf der Welt. Und als mir nach einer Stunde das Gedränge unangenehm wurde, konnte ich einfach nach Hause gehen und ein Buch lesen – und das war dann auch schön.