Schweizerdeutsch 45: Einen gangbaren Weg finden

De Rank fende

Standarddeutsch: Die Kurve kriegen, sinngemäss: in einer schwierigen Lebenslage oder mit einer mühsamen Person einen gangbaren Weg finden.

Franz Kurzmeyer 1991 (Quelle: Wikipedia).

Gestern Abend sahen wir „Von vielen Franz genannt“, über den liberalen Politiker Franz Kurzmeyer, der von 1984 bis 1996 Luzerner Stadtpräsident war. Letztes Jahr starb er mit 88 Jahren. Bei vielen älteren Semestern (auch mir) gehört er quasi zur Lebensgeschichte (ich habe im Film auch einen schattenhaften Drei-Sekunden-Auftritt in einem Nachrichtenbeitrag von 1995). Sie nennen Kurzmeyer im Streifen oft „Stadtvater“. Aber beleibt, wie er eben auch war, wirkte er manchmal wie die vor Lebensfreude fast überquellende Verkörperung der Stadt: Majestät, Naturgewalt und Saftwurzel.

Es waren die 80er-Jahre, auch Luzern hatte Wohnungsnot und eine offene Drogenszene. Aber Franz setzte nicht auf die Polizei, sondern liess sein soziales Gewissen walten. „Es ged so vell Lüüt, wo de Rank em Läbe ned fendid“, sagt er immer wieder in alten Interviews – Menschen eben, die im Leben nicht zurechtkommen. Man müsse auch ihnen etwas anbieten. Er brachte es fertig, dass solche Leute wenigstens nicht obdachlos wurden, sondern in besetzten Häusern Notmietverträge bekamen.

Der Film ist himmeltraurig (so viele alte Bekannte, die darin vorkommen, sind schon tot – besonders bei den Journalisten hat der Sensemann viel zu früh und viel zu reichlich geerntet). Aber er macht auch glücklich. Vielleicht auch deshalb, weil es – jedenfalls im Rückblick – in jenen Jahren so viel einfacher schien „de Rank z’fende“. Die Stadt war klein, man kannte einander. Wenn man ein Problem hatte, griff man zum Telefonhörer und musste sich nicht mit einem Chatbot herumschlagen, alles hatte seine Ordnung und die Stadtpräsidenten waren liberal, seit über hundert Jahren. Erst am Ende von Kurzmeyers Amtszeit fand seine Partei den Rank nicht mehr, sie wollte einen rechten Hardliner als Nachfolger für ihn. Das Volk aber wollte einen zweiten Franz, so kam es zum Rennen Studer gegen Studer. Der linksliberale Urs W. siegte, musste dafür aber aus der Partei austreten.

Schweizerdeutsch 42: Tödlich

S’esch scho äine gschtorbe bem Warte!

Standarddeutsch: Es ist schon einer gestorben beim Warten!

Wenn ich zu Fuss ins Spital gehe, muss ich die vierspurige Pilatusstrasse beim Hotel Anker überqueren. Das braucht Geduld. Man wartet zweimal, bis es grün wird, beim zweiten Mal auf einer zu kleinen Mittelinsel im tosenden Verkehr. Wenn ich da so stehe, denke ich an die obige Redensart meiner Mutter. Sie sagte das immer, wenn sie irgendwo unsinnig lange warten musste. Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, wie man sterben kann beim Warten. Aber jetzt kann ich es. Ich stelle mir diesen beim Ausharren Verblichenen vor, wie er auf der Mittelinsel steht und steht, wie er immer hohläugiger wird, seine Kleider zerfetzt und seine Haare zerzaust, wie ihm nie jemand auch nur „es Kafi verbiibrengt“ und wie er in einer Novembernacht einem Herzversagen erliegt. Und am nächsten Tag lerne ich dann, wo der perfekte Ort ist, den einsamen Tod der Wartenden zu erleiden: in der Warteschlaufe am Telefon des Hausarztes, bei breiiger Klaviermusik.

Flanieren und in den Armen von Werther landen

Vorstadt-Aphrodite in der Moosmatt.

Im Schaufenster des Coiffeurs d’Oro, an der Ecke zur Voltastrasse, sehe ich eine klassizistische Aphroditestatue sich räkeln. Da zieht mir ein Textfragment durch den Kopf wie eine Songzeile „… un confiseur: Aux armes de Werther“. Es ist Samstagmittag an der Moosmattstrasse. Hier, in der früheren Vorstadt von Luzern, sind rund um eine Kreuzung in letzter Zeit 100 oder 200 Einkaufsmeter mit Cachet entstanden. Die Ladenlokale wurden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erbaut, es gibt sogar noch einen Schuhmacher, gleich daneben die Blumensaison, an der Nummer 24 das Restaurant Moosmatt und, schräg vis à vis, das Schaufenster mit den gediegenen Polster- und Vorhangstoffen von Monig Z’Rotz.

Weil das alles so einen feierlich bourgeoisen Touch hat vielleicht, muss ich an jene Confiserie in Paris denken, die „In den Armen von Werther“ hiess. Der Name stammt aus einer Aufzählung von Ladengeschäften im Passagen-Werk* von Walter Benjamin. Durch dieses Buch flaniere ich gerade bezaubert (der Pedestrian hat mir geraten, es flanierend zu erforschen, vielleicht die einzige Art, in diesem umfangreichen Werk überhaupt vom Fleck zu kommen). Mit den Passagen sind die mit Glaskonstruktionen überdeckten Einkaufsarkaden des 19. Jahrhunderts in Paris gemeint. Benjamin erforschte sie, entdeckte in ihnen die Trugbilder des kapitalistischen Warenmarktes und später wurden die Fragmente seiner Überlegungen zu einem traumartigen Text gefügt und veröffentlicht.

Wer aber würde in den Armen von Werther liegen wollen, noch dazu bei einem Confiseur? Zu Hause stelle ich Nachforschungen an, und siehe da, es handelt sich tatsächlich um eine Songzeile – aus einer nach dem unglücklich liebenden Deutschen benannten Oper von Jules Massenet (hier mehr).

  • *Walter Benjamin: Das Passagen-Werk ; Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, edition Suhrkamp 1200, S. 84

Schweizerdeutsch 40: Dieses Frühlingsgemüse

Schpargle (N, hier im Plural)

Standarddeutsch: Spargeln, zum Beispiel in „Es gibt Spargeln zum Abendessen“

Eines Tages vor vielen Jahren lud meine deutsche Freundin Helga uns zum Essen ein. „Es gibt Spargel“, sagte sie. Ich war befremdet, denn bis zu jenem Tag hatte ich nicht gewusst, dass „Spargel“ für Deutsche etwas Unzählbares ist, wie für Engländer „fish“ oder „sheep“. Wo doch die Zahl der weissen oder grünen Gemüsepfähle, die man beim Spargelessen auf dem Teller hat, meist gut überschaubar ist. In der Schweiz kommt die Spargel daher im Plural auf den Tisch, das lässt sich unschwer in schweizerischen Internet-Kochrezepten nachprüfen, zum Beispiel hier. Wir sagen: „Zom Znacht gits Schpargle.“ Es hat möglicherweise auch damit zu tun, dass das Wort „Schpargel“ für uns ein Zungenbrecher wäre, gewiss würden wir – jedenfalls im Luzernischen – schnell vom „Schpargu“ sprechen, das könnte dann auch singular sein, und so wüssten wir nicht sicher, ob wir vielleicht nur einen Spargel auf den Teller bekommen, was auch einen kleinen Hunger niemals stillen würde.

Spazieren: Der Hauch der Erinnerung im Strassendorf

Neulich hörte ich auf, über die schwierige Sache mit dem Club der Flaneure und der Schwerhörigkeit nachzudenken. Ich stieg in Ebikon aus einem Bus und spazierte einfach los. Ebikon ist ein Strassendorf mit zahlreichen berotlichterten Übergängen, deshalb auch Amplikon genannt. An den Hängen stehen Neu- und Altbauten kreuz und quer wie wild parkierte SUVs an einem Grümpeltournier. Ich marschierte los und flüsterte: „Oh Agglo, offenbare Deine Geheimnisse!“ Aber der Ort blieb öd und verlassen.

Bis ich an die Strassenecke kam, an der einst Herr und Frau Nitroglyzerin  – kurz: Nitro – gewohnt hatten, in einem von der Bauwut vergessenen Bauernhaus. Hier pflegten die beiden in den neunziger Jahren einen Salon abzuhalten. Herr T. und ich waren oft dort. Es kamen allerhand Intellektuelle, zum Teil von weit her. Wir diskutierten über Paul Virilio, über Utopien und über die Genderfrage. Wir assen und rauchten und tranken und lachten, bis tief in die Nacht.

In den nuller Jahren mussten Herr und Frau Nitro dann doch ausziehen, das alte Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie zog in einen anderen Vorort, er verliess die Gegend ganz. Jetzt stehen dort gesichtslose Wohnblocks. Mir aber hauchte mit einem Mal aus dem Keller des Betonklotzes, der genau an der Stelle des alten Holzhauses steht, der dionysische Geist von damals entgegen. Er warf mich beinahe um. Ob dieser Geist abends auch in die Wohnungen der Menschen steigt, die in den neuen Häusern wohnen? Beschleicht sie nachts manchmal geistige Unruhe und eine seltsame schöpferische Gefrässigkeit? Hören sie ferne Stimmen über Paul Virilio reden? Riechen sie gar Wein? Oder – Gott bewahre! – Zigarettenrauch?

Ist die Erinnerung mächtiger, wenn man schwerhörig ist? Ich weiss es nicht.

Schweizerdeutsch 37: Wenn die Obstbäume blühen

Machemer es Blueschtfährtli!

Standarddeutsch: Machen wir doch eine kleine Blustfahrt!

Wenn die Obstbäume blühen, fahren Herr T. und ich manchmal mit der S-Bahn hinaus ins Seetal. „Machemer es Blueschtfährtli!“ sagen wir, bevor wir in den Zug steigen. „Blueschtfährtli“ klingt, als käme es aus dem Vokabular unserer Grosseltern, und so stellen wir uns denn Grosseltern vor, die nach Jahren harter Arbeit wohl verdiente Zeit haben, um mit einem altmodischen Auto über noch einspurige Landstrassen zu tuckern. Links und rechts nicken ihnen Kirschbäume mit himmlisch weissen, wogenden Frisuren zu. Grossvater sagt fachmännische Dinge über Chlöpfer und Brönner und irgendwo besuchen sie ein Kapälleli, vielleicht dasjenige in Ursmu, danach kehren sie in einer Gartenbeiz ein, er gönnt sich ein Rivella, sie eine Cremeschnitte.

Für ein Blueschtfährtli hatte ich dieses Jahr noch keine Zeit, aber für ein Blueschtschpaziergängli am 11. April im Maihof Luzern.

 

Schweizerdeutsch 36: Zipperlein

Was emmer echli lödeled, lod ned.

Standarddeutsch: „Was immer ein wenig klapprig ist, geht nicht kaputt.“ Oder, sinngemäss: „Unkraut vergeht nicht!“ Ältere Leute brauchten diesen Aphorismus früher, wenn sie Zipperlein hatten und unsere Sorge um sie beschwichtigen wollten.

Was „lödele“ heisst, habe ich hier erklärt. Das Verb „lo“ brauchen wird, wenn ein Gebrauchsgegenstand kaputtgeht, zum Beispiel: Der Tragriemen meiner Tasche „hed glo“ – er ist abgerissen.

Ich möchte unbedingt auf den nicht ganz reinen Binnenreim „lödeled – lod“ hinweisen, der hier – vielleicht allzu zweckoptimistisch – einen Gegensatz zwischen klappern und kaputtgehen behauptet.

Schwerhörigkeit: Gefahren im Strassenverkehr 1

Es ist Aschermittwoch. Ich war vor 8 Uhr in einer Gasse im alten Teil der Stadt Luzern unterwegs. Der Lärm war beträchtlich, die Aufräumarbeiten nach dem gestrigen Massenbesäufnis in vollem Gang. Vor der Franziskanerkirche ging ich auf der linken Strassenseite. Die Stelle vor dem Portal ist eng, es gibt keinen Gehsteig, deshalb marschierte ich nahe an der Häuserzeile. Beim Restaurant an der engsten Stelle hatte jemand eben die Frontscheibe mit Seifenwasser abgespült, Schaum und Nässe lagen 70 Zentimeter breit auf der Strasse. Ob da jemand hingekotzt hatte? Ohne Kontrollblick nach hinten (ich glaubte mich in der Fussgängerzone) machte ich einen leichten Ausfallschritt nach rechts. Da zog ein grosser Kehrichtlastwagen wenige Zentimeter an meiner rechten Schulter vorbei.

Meine schwerhörige Bekannte Ursula hat einmal gesagt: „An so einer Stelle werden sie mich eines Tages unter einem Auto hervorziehen.“

Schweizerdeutsch 23: Auf dem Bauernhof

Zobig (N, m oder n)

Standarddeutsch wörtlich: „Zu Abend“, eine Zwischenmahlzeit.

Erläuterung: Wir Städter essen kaum noch Zobig, die Leute auf dem Land schon, meist so um 16 oder 17 Uhr. Auf dem Bauernhof wird nach dem Zobig noch gemolken, erst dann gibt es Znacht. Als ich ein Kind war, waren wir manchmal bei meinem Onkel auf der Winterweid zum Zobig. Dort war mein Vater aufgewachsen.

Es kamen alle, die dort wohnten, bei der Ernte geholfen hatten oder sonst gerade in der Gegend waren : „de Vatter“ (Grossvater), „de Onku Wiisu“ (Grossonkel Alois, der Knecht), Onkel Jakob, Tante Lisebeth oder Tante Theres, in den siebziger Jahren nach und nach drei kleine Cousinen und ein kleiner Cousin und wir vier aus der Stadt. Oft rumpelte auch noch Onkel Kari mit seinem alten Chlapf durch die Einfahrt, manchmal waren Handwerker da oder weitere Verwandte. Es konnte laut und fröhlich werden.

Die Leute kamen vom Heuen oder aus dem Stall, durch die Haustür direkt in die grosse Küche. Ein langer Tisch füllte den Raum, hinten links war „de Füürhärd“, die eiserne Feuerstelle, die zugleich Kochherd und Heizung war. Es gab Most, Brot und Käse aus der nahen „Chääsi“, „und weissen Kaffee“, erinnert sich mein Vater, also Kaffee mit Rahm von der eigenen Milch. „Anke“, also Butter, gab’s auch. „Aber damit waren sie sparsam“, sagt mein Vater heute. Und: „Überhaupt: Alles andere wäre Luxus gewesen.“

An der Decke hingen klebrige Fliegenfänger wie Zapfenlocken, Fliegen hatte es trotzdem, und unter dem Tisch tummelten sich Katzen jeden Alters, mehr oder weniger gesund. Ich liebte die Katzen.

Danke Edith, Du hast mit Deiner Frage nach dem Zobig eine Flut von Erinnerungen ausgelöst! Falls jemand Fragen hat: gerne!

Schweizerdeutsch 22: Nachhilfe für den Hamburger Kollegen

Znüni (N, n)

Wörtlich: „Zu neun Uhr“

Standarddeutsch: kleine Zwischenmahlzeit am Morgen, oft verbunden mit einer kurzen, geselligen Pause.

Erläuterung 1: Mein Gottenbub ist jetzt Zivi. Er arbeitet in einer Werkstätte für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf dem Land. Auch einen jungen Betreuer aus Hamburg hat es in die Institution verschlagen, berichtet Tim. „Er versteht Schweizerdeutsch. Was er aber gar nicht verstanden hat, ist das Wort Znüni. Dabei ist es so einfach. Funktioniert doch genau gleich wie Zvieri.“ Überhaupt heissen unsere Mahlzeiten: Zmorge, Znüni, Zmittag, Zvieri, auch Zobig, und Znacht.

Erläuterungen 2: Über das Znüni im Handwerksbetrieb singt die unvergessliche Band Stiller Has, hier geht’s zum Video.