Am Morgen lese ich jetzt oft noch drei, vier Seiten aus einem Reisebericht von Patrick Leigh Fermor. Man darf sich in diesen Tagen nicht schon um 8.30 Uhr von den News erschlagen lassen. Ich lese, wie der Brite am Ostersonntag 1934, gerade 19-jährig, aus der ungarischen Stadt Esztergom aufbricht und donauabwärts wandert. Vor wenigen Tagen ist das Eis auf dem Fluss geborsten, tags zuvor sind die Störche aus dem Süden zurückgekehrt, es ist magisch. Und kaum hat Fermor die Stadt verlassen, ist da nur noch Natur im Frühlingsrausch. Er schreibt:
„Die Vögel sangen um die Wette, überall wurden fieberhaft Nester gebaut, Schwalben und Mauersegler schlugen ihre Haken am Himmel. Mehlschwalben besserten alte Bauten aus, Eidechsen huschten zwischen den Steinen, überall in den Binsen tauchten neue Nester auf, im Wasser wimmelten Fischschwärme, und die Frösche, die mit einem langen Sprung im Wasser verschwanden, wenn ein Fremder kam, waren sogleich wieder da, und es klang, als würde ihr Chor von Stunde zu Stunde um tausend neue Stimmen verstärkt; sie sorgten dafür, dass die Nistplätze der Reiher verwaist lagen, bis das letzte Abendlicht schwand.“*
Während ich das lese, erhebt sich eine grosse Wehmut in mir, höher als der Raum, in dem ich sitze. Sie reicht bis in den Himmel, ich kann Schwalben sehen. Dann frage ich mich: Welches Stilmittel hat der Autor eingesetzt, um mir dieses Gefühl zu vermitteln? Ist es die schiere, episch dahinfliessende Länge des zweiten Satzes? Schwingt da Fermor’s Heimweh nach seiner Jugend mit (er stellte das Buch spät im Leben fertig, es erschien erstmals 1986). Oder Sehnsucht nach der Zeit, bevor der Eiserne Vorhang niederrasselte und dieses Flussparadies vom Westen trennte? Oder empfinde nur ich hier Wehmut? Habe ich einen Anfall von Solastalgie, also Trauer um die verschwundene Überfülle der Natur? Bin ich nur so wehmütig, weil dieser Text mich an einen viel neueren Text erinnert, über einen Fluss und eine Welt, in diesem Fall ganz sicher nach einer Katastrophe?
„Einst gab es Bachforellen in den Bergflüsschen. Du konntest sie in der bernsteinfarbeben Strömung stehen sehen, wo die weissen Ränder ihrer Flossen zart die Strömung fächelten. Wenn du sie in der Hand hieltest, rochen sie nach Moos. Poliert und muskulös und zapplig. Auf dem Rücken hatten sie wurmartige Muster, Karten der Welt in ihrem Werden. Karten und Labyrinthe. Von etwas, was man nicht rückgängig machen konnte. Nicht wieder in Ordnung bringen konnte. In den tiefen Schluchten, in denen sie lebten, war alles älter als die Menschen und summte vor lauter Geheimnissen.“**
* Patrick Leigh Fermor: „Zwischen Wäldern und Wasser“; Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2010 (S.26-7)
** Cormack McCarthy: „The Road“; Picador Paperback, London, 2007 (S.307-8, meine Übersetzung)