Früchtchen und Fragen 2

Aus winzigen, grünen Knoten sind orange Früchtchen geworden.

Die Zeit vergeht, es ist ein grosses Werden und Vergehen rundum. Mein Körper ist ein altes Haus und braucht Sanierungsarbeiten oben, in der Mitte und unten. Er ächzt, aber er lebt.

Und es hat sich gelohnt, dass ich das Kumquat-Bäumchen auf unserem Balkon einen Winter und Frühling lang liebevoll angeschaut, gegossen und gedüngt habe. Aus grünen Knöllchen sind orange Früchte geworden, zwei bis vier Zentimeter lang. Sie schmecken säuerlich, herb und süss zugleich.

Der Mann, der ein Frauenleben führte

Kein Roman hat mich in letzter Zeit mehr beschäftigt als dieser hier. Der englische Starautor Ian McEwan schildert darin die Biografie des Babyboomers Roland Baines. Die Geschichte fordert mich als Post-Babyboomerin und Hobby-Genderforscherin geradezu heraus. Denn Roland führt in mehreren Hinsichten das Leben einer Frau – jedenfalls nach Babyboomer-Massstäben. Es ist beinahe, als würde McEwan sagen: „So, jetzt nehmen wir mal einen männlichen Charakter und stülpen ihm ein paar weibliche Erfahrungen über.“ So wird Roland mit 14 im Internat von einer Klavierlehrerin sexuell missbraucht – eine Erfahrung, die seine Biografie entscheidend prägen wird. Nun passiert zwar sexueller Missbrauch in den Teenagerjahren tatsächlich ab und zu bei Jungs – sehr viel häufiger ist er aber bei Mädchen (und bei Knaben sind die Täter häufig Männer).

Später dann, als Roland 38 ist und einen Sohn im Babyalter hat, wird er von seiner Frau verlassen. Fortan ist er alleinerziehender Vater. Eine Situation, die unzählige Babyboomer-Frauen kennen, Männer sehr viel seltener.

Dass er nun allein für ein Kind sorgen muss, haut einen weiteren Knick in seine ohnehin zögerlich einsetzende Karriere als Dichter. Überhaupt findet Roland beruflich nie so richtig den Tritt. „Er ist ein Fantast, Mutti, er kann sich auf nichts konzentrieren. Er hat Probleme in seiner Vergangenheit, über die er nicht einmal nachdenkt. Er kann nichts erreichen“, wird die Frau einmal sagen, die ihn als alleinerziehenden Vater zurückgelassen hat. Auch die meisten Kritiker sind sich einig, dass Roland gescheitert ist. Hätten sie das auch so gesehen, wenn die Hauptfigur in dieser Geschichte nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen wäre? Wenn sie Orlanda geheissen hätte und nicht von einer Frau, sondern von einem Mann missbraucht und später allein erziehende Mutter geworden wäre?

Überhaupt: Dieses Spiel mit der Geschlechterfrage überzeugt mich nicht. Zum Beispiel erlebt Roland das erste Mal mit seiner Klavierlehrerin als sexuelles Erweckungserlebnis, hinter dem alles andere verschwindet: „Ihre Rollen, Lehrerin und Schüler, die Ordnung und Selbstgefälligkeit der Schule, Stundenpläne, Fahrräder, Autos, Kleider, sogar Worte – nur dazu da, alle von dem hier abzuhalten.“ Das ist in meinen Augen eine reine Männerphantasie, stark beeinflusst von McEwan’s Sigmund Freud-Lektüre. Meine eigene, zum Glück recht harmlose Erfahrung mit sexuellem Missbrauch im Teenageralter, war nicht einmal ansatzweise eine sexuelle Erweckung, sondern erfüllte mich nur mit Scham und Ekel.

Vielleicht ist das Urteil der Literaturkritikerin Bernadette Conrad das einzig richtige: Sie schreibt, der Roman funktioniere am besten als Chronik eines Zeitgenossen. „Lässt man sich tiefer auf die Krisen ein, gerade des sexuellen Missbrauchs, die Rolands Leben geprägt haben, dann vermisst man die gründliche Auseinandersetzung.“ (Die ganze Kritik gibt’s hier).

Und doch hat die Lektüre mich dazu getrieben, mich vertieft mit dem Erlebnis auseinanderzusetzen, das ich selbst vor bald 44 Jahren hatte. Und sie hat mich mit der Frage konfrontiert: Was bedeutet es, beruflich vielleicht nicht jene Marke zu setzen, die man hätte setzen können? Ist das wirklich ein Scheitern? Und wie hängt es tatsächlich mit misslichen und vielleicht sehr geschlechtsspezifischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend zusammen? Und, nein, ich bin nicht damit einverstanden, dass man es als Scheitern einstuft, wenn sich jemand um sein Kind kümmert und daher vielleicht ein bisschen weniger weit nach oben kommt auf der Karriereleiter.

Heimkehr ins Wasseramt

wasseramt
Das Wasseramt heisst so, weil es durchzogen ist von idyllischen Flüsschen wie diesem. Was man auf dem Bild nicht sieht: den Autoparkplatz gleich zur Linken.

Ich bin nicht ganz sicher, weshalb ich im Titel dieses kleinen Essays unbedingt das Wort „Wasseramt“ stehen haben will (hier steht alles zur Geografie der Region). Es geht in diesem Text nur teilweise um Wasser. Es geht vor allem um Benzin und um die Zeit. Vielleicht muss es so sein, weil mir der Besuch hier beinahe die Tränen in die Augen getrieben hätte.

Denn am hier abgebildeten Bächlein im Dorf Recherswil, genau links vom linken Bildrand, stand einst das Haus meines Urgrossvaters. Ich habe die Stelle nicht fotografiert, heute liegt dort nichts als ein Parkplatz, und wer will schon einen Parkplatz anschauen? Das Haus meines Urgrossvaters aber war ein stattliches Holzhaus mit dem hier üblichen, mächtigen Bogengiebel, der Menschen und Dinge einrahmt, schützt und birgt – oder wenigstens so aussieht, als würde er das tun. Im Haus war eine Bäckerei, davor stand ein Brunnen mit Pflaumenbäumen. Hier war so etwas wie der Dorfplatz. Mein Urgrossvater war der Dorfbäcker. Es ist ein wenig ironisch, dass alles, was er hatte und war, von ein paar Blechkarrossen ersetzt worden ist. Er war einer der ersten im Dorf, die überhaupt ein Automobil besassen. Sonntags machte er dann und wann eine schmucke Passfahrt, an Werktagen fuhr er Brot hinaus zu den Bauernhöfen. Im Zweiten Weltkrieg liess er sich einen Holzvergaser in den Wagen einbauen.

Er starb 1965, kurz vor meiner Geburt. Aber wir besuchten als junge Familie noch oft seine Witwe. Sie, das Kläri, war nicht meine richtige Urgrossmutter, sondern Urgrossvaters zweite Frau. Die Fahrten zu Kläri waren für mich Reisen in eine mythische Vergangenheit, zu der wir schon selbst nicht mehr gehörten. Wir reisten im Kleinwagen an, mieden die Autobahn, sahen links und rechts Getreidefelder, auf den Hügeln reckten sich alte Bäume gen Himmel, Eichen oder Linden. Man wäre gerne zu ihnen hochgestiegen, hätte sich unter sie gelegt und sich geborgen gefühlt. Die ländliche Schweiz von anno dazumal, die wir gerne als unsere ferne Heimat sehen.

Im Gespräch mit Kläri fielen die Ortsnamen rundum: „Chriägschtette, Choppige, Gerläfingä, Biberischt, Zuchu.“ In diesen Gemeinden hatten sich unsere zahlreichen Verwandten niedergelassen, von denen wir aber kaum jemanden kannten. Es ist kein Zufall, dass sie vor allem nach Gerlafingen und Biberist zogen und dort, so hörten wir, ihren Wohlstand mehrten. Denn dort war die Industrie – in Biberist die Papierfabrik, in Gerlafingen das Stahlwerk.

Als Kläri um das Jahr 2000 starb, erbte Onkel Eugen das Haus in Recherswil. „Und er hat es einem Itsch verkauft!“ schimpft meine Mutter gerne. Ein „Itsch“ ist ein Mann, dessen Name auf „ic“ endet, und von dem meine Mutter folglich nichts weiss und nichts wissen will, als dass er aus Ex-Jugoslawien stammt, von wo die Menschen um das Ende des letzten Jahrhunderts in grosser Zahl in die Schweiz kamen. Dieser „Itsch“ habe das Haus dann abreissen lassen und einen Parkplatz aus der Parzelle gemacht.

Seien wir ehrlich: Der Bau hatte knarzende Böden, eine halsbrecherische Treppe in den ersten Stock, und im Winter fror man sich im Bad den Allerwertesten ab. Klärli hatte dort ein Vierteljahrhundert lang geputzt und gebohnert, aber baulich verändert hatte sie nichts, wahrscheinlich war kein Geld dafür da. Man kann es dem Herrn Itsch nicht ganz verdenken, dass er nichts mit der Immobilie und der in ihr konservierten Heimat anzufangen wusste, die nicht die seine war.

Herr T. und ich warfen einen letzten Blick auf den einstigen Dorfplatz. Auch das behäbige Haus auf der anderen Strassenseite sah verlassen aus. Rund um das übernächste ragen Baugespanne gen Himmel. Das hier ist ein Dorf ohne Dorfplatz, nur mit Verkehr, das goldene Zeitalter der Landwirtschaft ist vorbei.

Wir zogen weiter, durch Gerlafingen und Biberist. Hier trafen wir das Industriezeitalter an, doch auch dieses neigt sich dem Ende zu. In der Stahlfabrik Gerlafingen arbeiteten einst 5000 Leute, heute sind es noch 500. Nun, das Unternehmen rentiert, das ist die Hauptsache. Am Eisenhammer-Kreisel bei der Zufahrt zur Fabrik steht noch die Skulptur eines Eisenschmieds und verkündet  Büezer-Stolz. Aber sonst ist das hier ein gewöhnlicher Agglo-Kreisel, umgeben von einer Beiz mit blätternder Fassade, einem Kleider-Outlet und einer Fast Food-Bude im amerikanischen Stil. Es könnte Bülach, Schönbühl oder Ebikon sein. Eine Welt überrollt von den Möglichkeiten der Benzingesellschaft. Niemand erwartet hier Heimat, alle suchen bloss einen Parkplatz.

Der Eisenhammer-Kreisel von Gerlafingen, Kanton Solothurn.

Wer hat die bessere Zukunftsvision?

Aus der angelsächsischen Popkultur kennen wir diese merkwürdigen Entweder-Oder-Fragen: Cat Person oder Dog Person? Beatles oder Stones? Ich kann solche Fragen nie eindeutig beantworten. Ich weder eine Hunde- noch eine Katzenperson, aber ich liebe meine Zimmerpflanzen. Und was die Musik betrifft, fand ich mal: Die Beatles sind etwas für die obere Körperhälfte, die Stones eher für die untere – warum also nicht beides? Richtig kompliziert wird’s indes bei der Frage: Wer hat die bessere Dystopie geschrieben? Aldous Huxley oder George Orwell? Die beiden Autoren werden immer wieder verglichen, denn es sind ja beide Engländer – und beide haben vor bald 100 Jahren grosse Romane über den Zustand der Welt in einer damals unheimlich erscheinenden Zukunft verfasst. In einer Zeit, die vielleicht jetzt unsere sein könnte.

Ich habe kürzlich beide wieder mal gelesen, Orwell und Huxley, und ich muss sagen: Was den politischen Riecher betrifft, bin ich eindeutig im Orwell-Team. Im Moment vergeht kein Tag, an dem ich nicht an seinen Roman „1984“ denke. Orwell beschreibt darin, wie sich die drei Machtblöcke USA, Russland und China in wechselnden Bündnissen gegenseitig bekriegen. Das klingt geradezu unheimlich aktuell. Ausserdem kann man bei Orwell viel über die Lüge in der Politik lernen. Er beschreibt Phänomene, die wir seit Donald Trump’s Präsidentschaft sehr gut kennen. Etwa dieses seltsame Flimmern im Kopf, wenn man das, was man für wahr hält und die Lüge des einstigen US-Präsidenten vergleicht. Und dann die Möglichkeiten der totalen Überwachung und was daraus werden könnte! Schauderhaft.

Viele Leute im Huxley-Team finden, der grosse Zukunftsroman „Brave New World“ aus dem Jahre 1932 porträtiere genau den ungehemmten Hedonismus unserer Zeit: Alle haben ständig Sex mit ständig wechselnden Partnern, Partys ohne Ende und alle nehmen eine Droge, die legal, unschädlich und erst noch gratis ist. Alle sind unerhört sensationslüstern. Alle shoppen ständig, damit alle anderen Arbeit haben.

Aber dieses Urteil dünkt mich oberflächlich, denn hier hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Die Menschen in Huxley’s Welt leben unter komplett anderen Voraussetzungen als wir. Damit ihr Wohlstand und ihr ungehemmter Hedonismus überhaupt möglich sind, wachsen sie nicht im Mutterleib heran, sondern werden vom Staat im Labor nach Bedarf gezüchtet.  Sie werden für ein Leben in einem strikten Klassensystem mit medizinischen Eingriffen vorprogrammiert. Alle müssen also schon als Embryonen schwerwiegende Verletzungen ihrer Grundrechte hinnehmen – sie werden geklont, an ihnen wird herumgedoktert, als Kinder werden sie alle im gleichen Schlafsaal gleich indoktriniert, denn keines von ihnen wird je eine Familie haben. Also wird sich auch niemand je Sorgen über Kinder oder kranke Angehörige machen müssen. Und den wenigsten  wird je ein individueller Gedanke durch den Kopf gehen. All das ist von wohlmeinenden Staatsvätern so eingerichtet, (Staatsmütter gibt es keine. Denn nur Männer werden so konditioniert, dass sie den nötigen Grips haben, einen Staat zu lenken).

Um es etwas polemisch zu sagen: Bei uns ist die Welt doch genau umgekehrt: Unsere Grundrechte sind einigermassen intakt und wir sind Individuen oder fühlen uns wenigstens als solche. Dafür haben wir ständig Geld- und Familiensorgen, fürchten um unseren Job und unseren gesellschaftlichen Status und den unserer Kinder. Unsere Drogen sind nicht besonders wirksam, gefährlich oder illegal. Und unser Hedonismus ist vielleicht einfach Ablenkung.

Und dennoch: Der Roman ist brilliant und packt und sorgt für Diskussionsstoff. Vielleicht muss man die beiden Autoren gar nicht gegeneinander ausspielen – vielleicht hat Orwell mehr über das schlimmstmögliche politische System nachgedacht und Huxley mehr über das Wesen und die Möglichkeiten des Menschen überhaupt. Aber das geht definitiv weiter als die angelsächsische Popkultur so allgemein.

Blutwurst auf Schweizerdeutsch – eine Leseprobe

Leserin piri hat neulich um eine Leseprobe aus meinen schweizerdeutschen Texten geben. Hier ist sie. Es ist ein Ausschnitt aus dem Gedicht, das den Arbeitstitel „E Tag im Läbe“ trägt. Der Text ist zum Vorlesen gedacht. Eine sinngemässe Übersetzung gibt’s bereits hier. Wer es präziser will, soll sich bitte melden.

Denn legg ech de Streamer a,

Das esch das Grätli

Wo mer de Ton vom Telifon

Öber ne Schtick mit Bluetooth

Diräkt of’s Hörgrät leitet.

Aso «diräkt» esch jetz velecht echli schönfärberisch

Well «diräkt» esch’s eher

Wenn zom Telifoniere jede nor eis Grät brucht.

Aber ech elei bruche drü.

Henu, es fonktioniert, emel meischtens.

S’Komische esch nor:

Wenn ech fertig telifoniert ha ond s’ Telifon wägklicke

De seid e Schtemm,

esone blasierti Fraueschtemm i dem Streamer jedesmol:

«Blutwurst audio.»

«Was, Bluetworscht?!» hanech am afang immer dänkt.

«Nüd Bluetworscht, ech ha kei Honger, es gohd do nor oms Rede!»

Aber ned emol das met em Rede,

esch sälbschtverschtändlich gsii,

will die Bluetworscht entkopplet sech gärn.

Drom han ech es Zitlang gmeint,

Die Tusse em Telifon sägi „Blutwurst audio“

Wel ech ere Worscht be, sogar Bluetworscht,

Läck, esch die unprofessionell! hanech tänkt.

Also item,

Wenn sech die Bluetworscht entkopplet,

De muess me si neu kopple,

das esch es Gnifel, e Baschtelei ond au echli Glöckssach.

Am Afang hanech das sälber ned chönne,

emel ned a dem blöde Compi-Telifon em Gschäft.

De hed amigs de Supporter müesse cho.

Aber de Supporter,

dä hed mi mängisch vergässe, ignoriert oder kei Ziit gha.

Ond so

Esch’s amigs wuchelang nüd gsi met «Blutwurst audio».

Jetz chan is sälber, emel meischtens.

Ond well de Schtick zom «Blutwurst audio» eso blau lüchtet

Emel wenner lauft ond kopplet esch,

Esch mer ergendwenn de blau Geischtesbletz cho ond ech ha gwösst:

Das heisst ned «Blutwurst audio», sondern «bluetooth audio”.

Wo ist bloss Frau Frogg geblieben?

Einige von Euch haben sich wahrscheinlich gefragt, warum ich schon seit mehr als einem Monat nichts mehr geschrieben habe. Vorweg: Es geht mir gut. Ich habe wieder Tritt im Leben gefunden. Ich schreibe, schweizerdeutsch und für ein irrwitziges Projekt mit einer Freundin. Ich lese viel. Ich denke nach, ich instagramme. Manchmal fehlt mir das Bloggen, aber ich habe einfach keine Zeit.

Der Teufel als Hoteldirektor

Laird Cregar am Empfang zur Hölle im Hollywoodfilm „Ein himmlischer Sünder“, (1943)

Mein persönliches Ende scheint wieder in die Ferne gerückt zu sein – daher mutet es vielleicht merkwürdig an, wenn ich mich jetzt mit Jenseitsvorstellungen auseinandersetze. Aber ich finde das Bild oben aus dem Film von Ernst Lubitsch einfach zu köstlich, um es Euch vorzuenthalten. Daher dieser Blogbeitrag.

Es stellt Luzifer am Empfang zur Hölle so dar, wie man sich in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen Bank- oder Hoteldirektor vorstellte – jovial, aber höchst seriös führt er ein exklusives Etablissement. „Einen Pass zur Hölle bekommt man nicht auf Grund von Allgemeinplätzen“, sagt er zum Protagonisten des Films, der den Empfang eben betreten hat und merkwürdigerweise in der Hölle Einlass begehrt.

Der Streifen basiert auf einer volkstümlichen Jenseitsvorstellung des 20. Jahrhunderts. Sie besagte ungefähr, dass wir armen Sünder nach dem Hinschied erst mal bei Petrus an die Himmelstür klopfen. Petrus wird uns entweder einlassen oder – falls wir auf Erden zu sehr gesündigt  haben – zur Hölle schicken. Diese Vorstellung bot sich im 20. Jahrhundert auch für zahlreiche Witze an. Wer einen erzählt bekommen will, melde sich bitte – das hier ist eine ernste Sache.

Warum also meldet sich Henry van Cleve, Held von Lubitschs Film, nicht zuerst bei Petrus an, sondern kommt bussfertig gleich in den unteren Stock? Er beteuert, habe ein Leben dauernder Verfehlungen geführt. Doch muss er das erst genauer erklären, denn der satanische Herr am Empfang will ihm nicht glauben.

Henry breitet also seine Vita aus, die eines reichen Schürzenjägers, der seine Ehefrau verschiedene Male betrog.

Der Film kam neulich auf Arte, und schnell wurde mir klar, dass man ihn für militante Twitterblasen wohl mit einem Warnhinweis versehen müsste – er ist getragen von einem höchst altmodischen Frauen- und Männerbild. Zum Glück haben die Mitglieder der militanten Twitterblasen keine Zeit, solche alten Streifen auf Arte anzuschauen – und wir Ü50 haben gelernt, dass es keinen Sinn macht, die Filme vergangener Generationen unbesehen zur Hölle zu schicken, nur, weil sie andere Gender-Vorstellungen vertreten als wir. Es ist eine charmante Komödie, ein Zeitvertreib für Menschen, die für ein paar Stunden ihre Ängste vergessen wollen (es war gerade Zweiter Weltkrieg, als er in die Kinos kam). Er legt nahe, dass wir es auch im Jenseits einmal mit kompetentem und verständnisvollem Personal zu tun haben werden. Das ist doch tröstlich.

Weniger tröstlich, aber irgendwie doch plausibler dünkt mich die Jenseitsvorstellung der Stoiker, die Ferdinand von Schirach neulich in einem Interview zusammenfasste. Er bewies im Gespräch ebenfalls viel Stil. Den Tod müsse man nicht fürchten, sagt er. Der Tod sei „ein Zustand wie vor der Geburt. Epikur sagte, solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, sind wir es nicht mehr.“ Mit dem glauben an Hölle und Fegefeuer sei es vorbei, sagt Schirach. „Ich habe lange darüber nachgedacht, warum wir den Tod trotzdem noch fürchten. Ich glaube, es ist nur der Neid, dass die anderen weiterleben dürfen, man selbst aber nicht.“ Das ganze Interview findet sich hier.

Alteisen und künstliche Intelligenz

Einmal im Jahr noch sehe ich Veronika, weil ihr Sohn Tim mein Patensohn ist. Ich begegne ihr jeweils, wenn ich ihm am ersten Weihnachtstag sein Geschenk überbringe. Er wird bald 18. Sie arbeitet mit 57 an ihrer Doktorarbeit und redete mir an unserem halbstündigen Treffen die Ohren voll über künstliche Intelligenz.

Selten fühle ich mich jeweils so sehr zum alten Eisen versetzt wie bei diesen jährlichen, kurzen Treffen mit Veronika. Ich meine: Seit Jahr und Tag versehe ich, auch 57, ein- und denselben Job. In meinen Lebensumständen die Stelle wechseln zu wollen, wäre – vorsichtig ausgedrückt – bekloppt. Daneben spaziere, fotografiere und meditiere ich, ohne grössere Ambitionen. Einfach, weil es mich glücklich macht. Jaja, künstliche Intelligenz habe ich auch schon ausprobiert. Ich bin ja auch noch Hobby-Schriftstellerin.

Aber wenn Veronika zu mir spricht, dann fühle ich mich abgehängt wie ein rostender Bahnwaggon auf einem Abstellgleis – ein Memento des Industriezeitalters inmitten herumsausender Bytes und Bits. Und wer „Memento“ denkt, denkt auch gleich „memento mori“ – vergiss nicht, dass Du sterben wirst. Ob sich meine früheren Freundinnen an ihre Hinfälligkeit erinnern, wenn sie mich sehen?

Zum Glück fand ich wenig später ersten Trost bei meinem Lieblingskolumnisten Daniel Binswanger in der „Republik“. Sein Text vom 7. Januar, Die Ökologie des Verschwendens, ist ein einziger Aufruf dazu, den zweckfreien Genuss wieder zu erlernen. Denn nur wenn wir uns der kapitalistischen Logik des ständigen persönlichen und materiellen Maximaleinsatzes entzögen, könnten wir die Welt vor dem Klimakollaps retten, so seine These: „Um Ressourcen zu sparen, müssen wir wieder lernen, zu verschwenden: unsere Zeit. Wir müssen die Welt so annehmen, wie sie ist. Bei ihr verweilen. Um sie zu betrachten und zu feiern.“ Das ist ja ungefähr das, was ich tue. Und es hat also durchaus einen Sinn. Es ist eigentlich sogar das einzig richtige.

Ich wollte mir aber beweisen, dass ich dennoch auf der Höhe der Zeit stehe und befragte künstliche Intelligenz zum Thema, genauer, GPT-3, hier zu finden. Ich frage: „Gehören Menschen ab 57 zum alten Eisen, wenn sie seit Jahren den gleichen Job haben?“

GPT-3 antwortet spitz: „Nein, das denken nur diejenigen, die selbst alt und eingeschlafen sind.“

„Lieber blind oder taub?“ Die schlagfertige Antwort

Jede Schwerhörige kennt folgende Stelle in einer Konversation. Nachdem sie sich als Schwerhörige geoutet hat, kommt sofort: „Ach, nein sowas! Aber stell Dir vor: Du könntest blind sein! Das wäre ja noch viel schlimmer.“ Ich nicke dann meist nachsichtig und wechsle das Thema. Oft geht es ja nur um Small Talk. Outet man sich da als Schwerhörige, muss die Hörende unversehens darüber nachdenken, ob sie jetzt Mitleid aufbringen sollte. Das ist eine Zumutung, die augenblicklich abgewehrt gehört. Dabei geht gerne vergessen, dass die Schwerhörige in der Regel gar kein Mitleid will – sondern nur Nachsicht dafür, dass sie im Gespräch vielleicht nicht sofort alles versteht.

An Weihnachten hatte ich die Gelegenheit, bei einer Verwandten eine schlagfertige Antwort auf das Taubheits/Blindheits-Konversationshäppchen auszuprobieren – sie stammt  von Peter Lienhard, einer Schweizer Kapazität in der Forschung über Sinnesbehinderungen. In seinem Buch „Ertaubung als Lebenskrise“ (1992) setzt er sich genau mit dieser Frage auseinander, die, so schreibt er, schon Kinder stellen würden.

Wenn es diese Entscheidungsmöglichkeit gäbe, wäre sie absurd, fügt er korrekt hinzu. Aber er beantwortet die Frage dann doch: Wer sie hätte, täte gut daran, als Kind die Blindheit und als Erwachsene die Taubheit zu wählen. Denn die Lautsprache sei für ein Kind ein enorm wichtiges Vehikel der Kognition – könne es sie nur mit Mühe lernen, bringe das grosse Nachteile. Wer erst als Erwachsene ertaubt, beherrscht die Lautsprache meist weiterhin. Während Blindheit die Orientierung auf sehr einschränkende Weise erschwere.

Für manche Menschen mit Seh- und Hörbehinderung liest sich das jetzt vielleicht abwertend – gerne öffne ich meine Kommentarspalte zu diesem Thema. Aber der Verwandten warf ich den fett gedruckten Satz vor, mitsamt Begründung. Ich erzielte die erhoffte Wirkung (jedenfalls teilweise): Sie lächelte respektvoll und wechselte das Thema.

 

 

 

Vier Lieblingsbücher des Jahres 2022

In normalen Jahren kreise ich mit meinen Lesegewohnheiten um die westlichen Obsessionen von Selbstwerdung, Rasse, Gender und Klasse.  Doch 2022 war kein normales Jahr. 2022 fühlten sich diese Themen plötzlich seltsam irrelevant an, irgendwie lauwarm. Auf Twitter tat ich etwas, was ich mir nie im Leben hätte vorstellen können: Ich folgte Strategie-Experten. Auch bei der Wahl meiner Bücher liess ich mich vom Krieg in der Ukraine leiten.

Ich gehöre zwar nicht zu jenen, für die Romane aus der Ukraine plötzlich zur Mode wurden – spätestens ab Oktober wollte ich aber wenigstens etwas fundierter verstehen, was dort vor sich geht. Und so beginnt meine Bestenliste mit einem 395 Seiten starken Geschichtsbuch. Ich stehe auf Seite 259 und beisse mir daran zuweilen fast die Zähne aus. Aber es ist extrem lohnende Lektüre. Weil es den eisernen Vorhang aufreisst, der vielen von uns noch immer den Blick auf Osteuropa verstellt. Weil es schlüssig zeigt, dass die Bestrebungen der Ukrainer nach Unabhängigkeit bis mindestens ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Weil es zwar staubtrocken ist, zuweilen aber auch deftige Geschichten erzählt, manchmal lustig, oft grausam. Zum Beispiel, wie die Heilige Olga von Kiew um 945 ihre Widersacher in der Sauna zu Tode schmoren liess.

Vor Oktober war ich dieses Jahr weitgehend mit meinem Krebs beschäftigt. Um die verstörende Diagnose irgendwie einzuordnen, bohrte mich wie besessen durch die Klassiker der Krankheit – von Dostojewski über Thomas Mann bis Audre Lorde. Was mir aber auf ganz besondere Weise half, war „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Die Geschichte von zwei Jugendlichen, die mit einem alten Lada ausbüxen, hat direkt nichts mit Krebs zu tun. Ihre Entstehungsgeschichte indes schon. Autor Wolfgang Herrndorf vollendete es, nachdem er die Diagnose Hirntumor erhalten hatte. „Ich werde noch ein Buch schreiben“, sagte er sich, „egal wie lange ich noch habe.“ Nachzulesen in seinem Krebsjournal „Arbeit und Struktur“ (Seite 107), auch ein bemerkenswertes Buch. „Tschick“ wird oft an Schulen gelesen, und die zum Lesen Verdonnerten finden es dann gekünstelt. Ich fand es melancholisch und heiter und sehr liebenswürdig. Beim Lesen habe ich einmal abends so laut gelacht, dass Herr T. erschrocken ins Zimmer kam und fragte, ob alles in Ordnung sei.

Es waren meine Buchclub-Freundinnen, die meine Aufmerksamkeit wieder gen Westen richteten und mich auf mein absolutes Lieblingsbuch 2022 stossen liessen. „Shuggie Bain“ ist so vieles aufs Mal, dass ich gar nicht weiss, wo ich anfangen soll – unglaublich traurig, unglaublich lustig, unglaublich eklig, brutal und weise. Die perfekte Lektüre gegen Selbstmitleid – denn wer glaubt, sein Leben sei krass schwierig, wird es sich beim Lesen dieser Geschichte vielleicht nochmals überlegen. Der Protagonist, klein Shuggie, wächst in den 1980er-Jahren in den Arbeitervierteln von Glasgow auf, seine Mutter ist Alkoholikerin und er selbst entspricht so gar nicht den brutalen Männlichkeitsvorstellungen, die unter seinen Schulkameraden vorherrschen. Autor Stuart weiss, wovon er spricht – die Geschichte, obwohl fiktiv, hat starke autobiografische Züge. Wer kann, sollte es auf Englisch lesen – die Dialoge, die in schottischem Dialekt gesprochen sind, klingen wie  dreckigster Rock ’n‘ Roll.

Ein riesiges Schloss mit unzähligen Zimmern. Der erste Stock wird regelmässig von den Gezeiten überflutet. Mitten drin ein sympathischer Ich-Erzähler, der dort ganz allein und total verloren ist und doch alles mit liebender Neugier und analytischem Verstand erforscht. Und der geheimnisvolle Andere, der gelegentlich auftaucht und vielleicht ein Helfer ist, vielleicht aber auch eine tödliche Bedrohung – „Piranesi“ ist ein rätselhaftes Buch, auch ein tröstliches, halb literarischer Fantasy-Roman, halb Thriller. Es dreht sich um die Frage, was uns in extremer Isolation zurechtkommen lässt – eine Frage, die mich ein Leben lang beschäftigt hat, mit zunehmender Schwerhörigkeit wieder mehr und anders als noch in meinen jungen Jahren.

Sind das hier Lesetipps? Oder ist es diesmal einfach ein in Bücher gepackter, persönlicher Jahresrückblick? Beides, denke ich. Und verabschiede mich erst mal bis zum nächsten Jahr. Rutscht gut, Freundinnen und Freunde! Und bis 2023.

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