Das Doppelleben meines Deutschlehrers

Mein Deutschlehrer am Gymnasium war ein grauer Funktionär. Während jeder Deutschstunde sagte er irgendwann: „Nehmen Sie Ihre Hefte zur Hand.“ Dann diktierte er uns durch die Geschichte der deutschsprachigen Literatur von Walther von der Vogelweide bis ungefähr Uwe Johnson. Er diktierte uns durch Metrik und Rhetorik. Wir schrieben, und an den Prüfungen mussten wir das alles nur detailgetreu wiederholen können, dann war’s gut. Er hatte etwas Gütiges im Gesicht, aber er vermittelte staubtrockenes Wissen, keine Neugier und nie Begeisterung. 1985 machten wir die Matura, er wurde pensioniert. Er hiess Linus Spuler. Das ist sein Klarname, und wenn ihm jemand hier ein ehrerbietigeres Denkmal setzen möchte, so ist er oder sie in den Kommentarspalten sehr willkommen. Es hat sich ohnehin gezeigt, dass mein Bild von ihm nicht annähernd vollständig war.

Ich ging an die Uni, studierte trotzdem Germanistik (im Nebenfach) und dachte selten an ihn. Bis an einem Morgen in der vergangenen Woche. Ich lag kränkelnd im Bett und las „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach“ von Dieter Kühn. Ein Buch, das das Mittelalter sehr anschaulich macht, auch für Nicht-Germanisten. Obwohl Kühn gelegentlich akademische Quellen zitiert. Auf S. 148 etwa eine Arbeit von „Judy Mendels und Linus Spuler“. Linus Spuler! Ich stiess einen Überraschungsruf aus. War es möglich, dass ich in einem Werk der deutschen Literatur aus den neunziger Jahren eben meinem Lehrer aus der Schweizer Provinz begegnet war?! Es kann doch im 20. Jahrhundert nicht mehrere Germanisten mit diesem Namen gegeben haben! Hatte mein Gymi-Lehrer einst kühne akademische Träume gehabt und gar eine kongeniale Forschungsgemeinschaft mit einer Frau namens Judy Mendels?!

Ich begann, meinen 2014 mit 93 Jahren verstorbenen Deutschlehrer im Internet zu stalken, und siehe da: Er war’s. Er hat zwischen 1959 und 1965 mehrere Artikel mit Mendels veröffentlicht, unter anderem über einen Hof in Thüringen, an dem Wolfram sein Talent entfalten konnte. Aber auch über Rainer Maria Rilke. Judy Mendels lehrte damals an einer Hochschule in Buffalo, NY, USA. Er war in Luzern. Lernten die beiden sich an einer Fachtagung kennen? Verliebten sie sich? Reisten sie zusammen nach Thüringen? Ach Gott, nein, wahrscheinlich nicht! Thüringen lag damals in der DDR und dort kann ich ihn mir nicht vorstellen. Die letzte Publikation der beiden erschien 1965 und trägt den häuslichen Titel: „Sour Apples – Cooked Sweet“, eine deutsche Grammatik für Anfänger. Erschienen im Eigenverlag in Luzern. Aha, Ende des Thüringer Abenteuers, fabulierte ich. Da haben sie sich wohl zusammen niedergelassen und waren fortan mit ihrem Nachwuchs beschäftigt.

Aber je länger ich forschte, desto unwahrscheinlicher wurde diese These. Denn Mendels schien auch nach 1965 in Buffalo gewesen zu sein. Erst nach längerer Recherche fand ich ihre Biografie auf einer niederländischen Website. Mendels wurde 1906 in Zaandam geboren, war also 15 Jahre älter als Spuler. Während ich das mit Hilfe von ChatGPT übersetzte, rauschte das 20. Jahrhundert an mir vorüber. Mendels war Jüdin, überlebte den Holocaust in den Niederlanden, als Pflegemutter von Waisen im Durchgangslager Westerbork. Sie emigrierte erst 1947 in die USA. An ihrer Uni war sie eine der ersten weiblichen Lehrkräfte. Eine resolute, engagierte, wohl oft auch strenge Frau. Sie kam erst 1972 nach Luzern, mit ihrer Pflegetochter, die eine renommierte Musikerin geworden war.

Was nicht erklärt, wie sie mit Linus Spuler verbunden war. Aber einerlei. Ihn sah ich in seinen letzten Arbeitsjahren in den Pausen oft bewegungslos am grossen Nordwestfenster stehen, allein. Er blickte hinaus in den Herbst oder Frühling oder Winter. Träumte er? Wartete er auf die Pensionierung? Ging er im Kopf seine nächste Stunde durch? Hatte er noch Kontakt mit Judy Mendels? Kann es sein, dass wir ahnungslosen Teenager ihn mehr gelangweilt haben als er uns?

September, früher

3. September 2022 im Aargauer Wasserschloss. Der September versucht hier noch einmal, einen Sommertag hinzubekommen.

Normalerweise dauern die Hundstage bis zum 23. August. Dieses Jahr enden sie (hoffentlich) am kommenden Dienstag, 12. September. Mein Schlafzimmer hat nachts immer noch 24 Grad. In den Bergen steigt die Nullgradgrenze gerade auf Rekordwerte. Sie lag am 6. September bei über 5000 Metern (siehe hier). Das gab’s bislang nur zweimal seit Messbeginn, im Juli oder August, noch überhaupt nie im September. Ich liege wach und grüble. „Ach, jammert doch nicht so, wenn es endlich mal ein bisschen warm ist!“ sagt meine Nichte Carina. Sie ist 18, sie mag die Hitze. Mit 18 mochte ich die Hitze auch. Mit 58 finde ich sie an guten Tagen etwas mühsam. In schlechten Nächten verschafft sie mir eine Ahnung von der Apokalypse.

Oft denke ich darüber nach, was Carina mich eines Tages fragen könnte. Falls sie überhaupt Zeit und Lust hat, Fragen zu stellen. Sie wird mich wohl nicht danach fragen, wie Klimawandel sich anfühlt. Davon wird sie selbst noch genug bekommen. Aber vielleicht wird sie mich fragen, was früher normal war. Als das Wetter noch „normal“ war. Als wir jung waren. Damit kann ich dienen. Man muss es erinnern und kurz festhalten, bevor es vergessen und verschwunden ist.

Als ich am Gymnasium war, endete der Sommer mit den Schulferien. Mit den langen Nachmittagen im Schwimmbad war es dann vorbei – obwohl wir am Mittwochnachmittag ja frei hatten. Aber es war dann meist doch zu kühl zum Baden. Wenn ich am ersten Schulmorgen Ende August mit dem Fahrrad den Hang hinunter Richtung Gymnasium sauste, musste ich eine leichte Jacke tragen und hatte kalte Finger. Die Wiese unterhalb der Strasse trug oft einen weisslichen Tauschleier. Erste Frostnächte in der zweiten Monatshälfte waren nichts Unerhörtes. Später am Tag versuchte der September oft noch einmal einen richtigen Sommernachmittag hinzubekommen, aber es fühlte sich wehmütig an. In den Gärten begannen die Äpfel rötlich zu schimmern, die ersten Blätter bekamen einen Gelbstich.

Für den Büromenschen Frogg war der September draussen meist unauffällig. Die Arbeit drinnen beschäftigte uns stärker als das Wetter. Die Sommerstürme waren vorbei, wir klagten über den ersten Hochnebel, den Inbegriff von Nicht-Wetter. Sehr regnerisch war es selten. Oft lockten herrliche Tage, ich erinnere mich an 9/11, draussen ein kobaltblauer Himmel, diese Farbe, die wie ein Sog den Blick in sich hineinzieht und die Seele mit hochwirbeln lässt. Drinnen flimmerten die Bildschirme und zeigten das Grauen. Unwirklich.

In meiner Erinnerung war es mit dem Septemberwetter jeweils um den 2. Oktober herum zu Ende. Der 2. Oktober ist der Feiertag des Luzerner Stadtheiligen Leodegar, den wir nur noch wegen der Määs kennen, wegen des Jahrmarktes. Als Carina klein war, ging ich mit ihr und Tim jeweils dort auf wilde Bahnfahrten. Oft begleitete ein Kälteeinbruch mit Regen diese Ausflüge an die Määs. Wir hatten nach vier Monaten ausserhalb der Heizperiode vergessen, was kühles Wetter ist und waren dann richtig froh um wärmere Jacken und Schals.

 

 

 

 

Eine Erinnerung, die wirklich zählt

Im Spätsommer 1990 waren mein damaliger Liebster Konrad und ich nach mehr als 100 Radkilometern am Ziel: in Aberdaron, an einem der äussersten Nordwestzipfel von Wales. Wir verbrachten dort ein paar Tage mit meinem Freund Peter Cadle in einem Haus auf dem Hügel. In meiner Erinnerung ist der Sand dort strahlend hell. Aber es muss auch ein paarmal geregnet haben. Denn wir standen viele Stunden lang am Pool-Tisch im Pub.

Aberdaron, vor nicht allzu lange Zeit (Quelle: Wikipedia).

Im Haus auf dem Hügel waren wir zu fünft, und es gab eine einzige Regel: Wer hier zu Gast ist, muss mindestens einmal abends kochen. Damals war ich eine halbwegs kompetente Köchin, dennoch standen Konrad und ich vor einer Herausforderung. Denn Peter war Vegetarier, eine der Frauen dort vegan und eine weitere ass keinerlei Früchte. Das zog einen breiten Strich durch fast alles, was wir beiden so im Repertoire hatten.

Wir entschlossen uns, Bohneneintopf  zu machen. Wir fanden sogar riesige, getrocknete, Butterbohnen im Dorfladen. Wir hätten sie am Vorabend unseres Kochtermins in Salzwasser einlegen sollen, taten es aber erst am nächsten Nachmittag um 16 Uhr. So gab es an jenem Tag erst gegen 21.30 Uhr Dinner. Und die Bohnen waren immer noch nicht ganz weich.

Dennoch: Man verzieh uns, es wurde ein heiterer Abend. Es waren die Thatcher-Jahre. Wir diskutierten über die Poll Tax-Demos. Und Peter korrigierte auf liebenswürdige Weise mein Englisch, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen: „Pass auf, ‚backside‘ heisst: ‚der Hintern‘! Wenn du von der Hinterseite des Hauses sprichst, ist es einfach ‚the back‘!“ Es war eine wunderbare Gesellschaft.

Die Geschichte eignet sich auch, um zu erörtern, welche Reise-Momente zumindest mir oft nach vielen Jahren noch erinnerlich sind: ungewöhnliche Begegnungen oder besondere Treffen mit Freunden, klar. Aber bei Peter habe ich ganze Wochen in London verbracht, doch nur die Episode in Wales habe ich noch glasklar vor mir. Wir erinnern uns wohl eben auch gerne an Herausforderungen, die wir gemeistert haben, wenn auch vielleicht nicht mit Bestnoten. Bei den einen mag es eine Bergbesteigung sein. Bei mir war es halt der Bohneneintopf. Und dann habe ich mir die Episode wohl auch gemerkt, um es bei einem nächsten Mal besser zu machen, sprich: die Butterbohnen rechtzeitig einzulegen.

Obelix, aus dem bekannten Comic (Quelle: asterix.com)

Schliesslich gibt es das, was ich mittlerweile den Obelix-Moment nenne. Ihr wisst schon, Obelix, der Gallier, der auf seinen Reisen ins Ausland die Gewohnheiten der Menschen beobachtet und immer wieder sagt: „Die spinnen, die Römer!“ Oder: „Die spinnen, die Briten!“ In Aberdaron hatte ich den Obelix-Moment angesichts der für uns  skurrilen Essgewohnheiten unserer britischen Freunde. Obelix-Momente eignen sich auch hervorragend zur Unterhaltung einer Abendgesellschaft in der Heimat. So habe ich diese Anekdote oft wiedererzählt und dabei wohl neu im Gedächtnis abgespeichert.

Doch manche Obelix-Momente gehen tiefer. Ich glaube, sie sagen uns etwas darüber, wer wir sind und wie wir leben oder leben wollen. Über dieses Thema könnte ich Seiten füllen. Aber ich glaube, es reicht, wenn ich sage: In jenen Tagen habe ich gelebt, wie ich leben wollte – und ich hoffe, dass ich sie bis an mein Lebensende nicht vergessen werde.

Mit jungen Leuten in London

London, etwas ungewohnt: Blick auf das Royal Victoria Dock von der Fussbrücke aus. Der Spaziergang dorthin war lang, aber das schaffte Tim mit einem Lächeln.

Vor ein paar Tagen trafen Herr T. und ich zufällig meinen Gottenbuben Tim in der Stadt. Als er uns sah, breitete sich ein spontanes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Erst von da an war ich sicher, dass ihm (18) und seiner Schwester Mina (22) unsere gemeinsamen Tage in London gefallen hatten. Zuvor hatte ich meine Zweifel gehabt. Denn Tag 1 begann mit einem Desaster. Aufgrund wenig sorgfältiger Recherchen war ich der Meinung, beim St. James‘ Palace finde jeweils auch am Dienstag eine Wachablösung statt. Dies erwies sich als Wunschdenken. Bis wir es merkten, hatten wir für ein paar müde Reiter eine Stunde auf dem Kiesplatz vor dem Palast ausgeharrt. Danach manövrierten wir uns durch wahre Völkerwanderungen zum Buckingham Palace, zum Big Ben und schliesslich zum London Eye. Tim guckte gelangweilt, gelegentlich sogar gequält. Immerhin: Die Fahrt im London Eye war für uns alle ein Highlight.

Am Tag 2 versuchten es Tim und Mina nochmals mit der Wachablösung. Wir Alten ersparten uns das Gedränge vor dem Buckingham Palace. Ins Getümmel von Mme Tussauds stürzten wir uns dann aber alle gemeinsam. Ich war zum allerersten Mal dort, trotz zahlreicher Aufenthalte in London. Ich hatte das Getue um ein paar Wachsfiguren nie verstanden und in meinen jungen Jahren in London mein weniges Geld lieber für anderes ausgegeben. Aber als ich dann erst mal im Kabinett drin war, fand ich das alles sehr erheiternd und knipste auch selber ein bisschen.

Herr T. quicklebendig, die Damen Judy Dench (links) und Helen Mirren etwas wächsern.

Tim machte den ganzen Tag über ein freundliches Pokerface. Er und Mina behandelten uns mit nachsichtigem Respekt, als wären wir von der heutigen Zeit etwas abgehängte, ältere Leute. Dennoch fand ich einen guten Draht zu Mina, die ich bald mit wichtigen Aufgaben betraute: Kartenlesen (sie ist Orientierungsläuferin) und Auskünfte einholen – meistens verstehe ich bei Hochbetrieb ja nicht mehr, was Leute zu mir sagen. Sie machte ihre Sache hervorragend. Danach spazierten wir durch den Regent’s Park und dem Regent’s Canal entlang bis zum Camden Market. Später sagte Tim, ihm hätten die Parks besonders gut gefallen.

Am Tag 3 gingen wir auf Oligarchen-Tour. Über meine Londongrad-Recherchen habe ich hier ausführlich berichtet. Ich hatte sie zu einer etwa dreistündigen Tour kondensiert: Start in Stamford Bridge Stadion, dem einstigen Wirkungsort von Roman Abramowitsch, Ex-Besitzer des FC Chelsea. Das kam gut an bei Tim, er mag Fussball und konnte zusätzlich Informationen beisteuern. Dann eine Busfahrt (für uns alle ein spezielles Abenteuer) zum Kaufhaus Harrods, das vor Luxus überschäumt. Lustigerweise interessierten sich die beiden Youngsters besonders für das Schaufenster des Liegenschaftenhändlers auf der anderen Strassenseite, wo sie angeregt über die Preise von Wohnungen diskutierten. Sie wollten ausdrücklich den so genannten Roten Platz (Eaton Square) sehen, wo zahlreiche Oligarchen wohnen oder gewohnt haben. Nach einem Blick auf One Hyde Park, wo ein ukrainischer Oligarch ein Penthouse besitzt, bogen wir in die Kensington Gardens ein, wo es Lunch gab. Wir schlossen mit einem Abstecher zum Kensington Palace, in dem Lady Diana einst wohnte. Tim wollte die tragische Geschichte der Prinzessin hören. Er hatte sie noch nicht gekannt. Unvorstellbar.

Herr T. hatte grosse Pläne für Tag 4. Seine Stadtführung in den Docklands hatte er sorgfältigst vorbereitet. Mina war nicht mit von der Partie, wir waren zu dritt: vom Canary Wharf bis zum Greenwich Foot Tunnel, einem Fussgängertunnel unter der Themse, der immer wieder einen besonderen Kitzel hat.

Am Canary Wharf

Mittagessen bei der Cutty Sark in Greenwich, wo es zahlreiche Street Food Restaurants gibt. Sehr spannend, das alles, sagte Tim. Dann zum O2-Stadium und mit der Gondelbahn wieder auf die Nordseite der Themse. Wir warfen einen letzten, etwas wehmütig gestimmten Blick von der Fussbrücke auf das wahrhaft majestätische Royal Victoria Dock, über das die Flugzeuge im Landeanflug auf den London City Airport ziehen. Die Themse-Barrier, nur zwei weitere Kilometer von dort entfernt, wollte Tim dann nicht mehr unbedingt sehen, möglicherweise aus Rücksicht auf mich. Ich war restlos erschöpft. 12 Kilometer Fussmarsch.

Am nächsten Tag reisten die beiden Youngsters weiter nach Norden. Herr T. und ich bestiegen den Eurostar Richtung Paris.

Die Wahrheit über die Ehefrauen von Aberystwyth

Wo also hatten mein damaliger Liebster Konrad und ich die Ehefrauen von Aberystwyth wirklich beobachtet? Das fragte ich mich, während wir unserem Ziel entgegentuckerten. 15 Minuten vor Aberystwyth rückte eine lange, gelbliche Strandlinie ins Blickfeld, und dann hielt der Zug kurz, bei einem Dorf namens Borth, und ich war wieder sicher: Ja, hier war es gewesen! Nicht in Aberystwyth. Aber warum hatten Konrad und ich uns Jahre zuvor überhaupt in Borth aufgehalten? Der Ort liegt gar nicht an der Hauptstrasse nach Machynlleth, das wir damals durchquert haben müssen.

Die Antwort darauf fand ich erst Wochen später in einem alten Tagebuch-Eintrag, datiert am 28. August 1990, Ort: „kurz vor Machynlleth“: „Murphy’s Law funktioniert auch in Wales bestens! Am Morgen telephonierten wir von A’wyth nach Borth, da wir in Erfahrung gebracht hatten, dass es nur in Borth Velos zu mieten gibt. Man sagte uns, der Velovermieter sei weg. Aber wir sollten doch einmal herkommen, er komme wahrscheinlich schnell zurück. So gingen wir nach Borth.“ Auf den Fahrradmechaniker mussten wir dann bis fünf Uhr nachmittags warten, weshalb wir Zeit hatten, neben dem Markt in Borth herumzusitzen und wohl auch etwas entnervt waren. Dort beobachteten wir die an der Nase herumgeführten Frauen. Zu meinen anderen Fragen über die damalige Velotour gab es keine Antwort. Denn das Tagebuch bricht noch am selben Abend ab, über den ganzen Rest unserer Reise habe ich nur noch einen einzigen Text geschrieben, den über das Walisische.

Herr T. sagt zwar nonchalant: „Dass Erinnerungen fragile Konstrukte sind, ist doch ein Gemeinplatz.“ Aber mich haben meine Gedächtnislücken erschüttert. Neuerdings führe ich deshalb mein privates Tagebuch anders als je zuvor: Ich versuche, abends so oft wie möglich noch ein paar präzise Notizen über das zu machen, was den ganzen Tag so gelaufen ist. Eine kleine Abendmeditation, mit der sich später Geschichten rekonstruieren lassen (sollen).

Und ich habe mir überlegt, welche Erinnerungen wirklich zählen. Denn ich habe durchaus Erinnerungen an unsere Ferien von 1990 in Wales. Sie sind vielleicht ebenso trügerisch wie das, was ich hier aufgezeichnet habe. Aber sehr viel wichtiger.

Die Ehefrauen von Aberystwyth

Bei bestimmten Gelegenheiten erzähle ich die Geschichte von den Ehefrauen von Aberystwyth: Wie mein einstiger Liebster Konrad und ich dort 1990 hinter einem trostlosen, gelben Strand sassen, links von uns ein Jahrmarkt. Wir liessen zahlreiche Familien an uns vorbeiziehen, die aus einem Markt kamen, die Männer immer mit stattlichen Bäuchen voraus, die Frauen mit etlichen Kindern hinterher. Mit einer Haltung und einem Gesichtsausdruck, als würden sie von ihren Ehemännern an an einer Schnur in der Nase in eine Richtung gezogen, in die sie nicht wollten.

Es sind Beobachtungen aus dem Jahre 1990, die bestimmt mehr über mich aussagen als über die Frauen, die ich beobachtet habe. Sie sind bestimmt heute glückliche Grossmütter und haben Herausforderungen bewältigt, die mir nie begegnet sind. Manchmal erzählte ich die Geschichte heute dennoch als leicht surreale Anekdote über das Strandleben in Grossbritannien. Einmal habe ich sie erzählt, um zu erklären, warum ich nie einen Nasenring tragen würde. Und manchmal wollte ich damit auch einem Mann sagen: Nie will ich wie die Ehefrauen von Aberystwyth werden!

Im Zug habe ich sie auch Herrn T. wieder erzählt, als Vorbereitung auf Aberystwyth. Überhaupt: Auf der ganzen, langen Zugreise von Porthmadog nach Aberystwyth haschte ich nach Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt hier.  Ich wusste noch: Wir mieteten damals in Aberystwyth Fahrräder und fuhren zunächst nach Machynlleth (sprich: Mahanthleth, das hatte uns mein Freund Peter beigebracht, und der war Welsh). Wir hielten dort jedoch gar nicht an, sondern fuhren durch und bogen sogleich in die Passstrasse Richtung Dolgellau (sprich: Dolgethlai) ein. Denn wir wollten noch am selben Abend einen Teil der Steigung bewältigen. In der Abenddämmerung fanden wir ein traumhaft schönes Bed & Breakfast unter Bäumen und übernachteten dort. Allerdings: Es gibt zwei Strassen durch das Hochland zwischen Machynlleth nach Dolgellau. Welche der beiden haben wir wohl genommen? Ich weiss es nicht mehr. Sicher ist: Wir kamen in Dolgellau an. Ich erinnere mich an eine Strassenkreuzung dort, an der wir in einem Café Kuchen assen. Obwohl Kuchen viele Kalorien hat. Aber man mit dem Velo einen Pass überquert hat, darf man das. Doch warum habe ich all die herrlichen Landschaften vergessen, die wir dabei  gesehen haben müssen? Was für eine Energieverschwendung!

Meine Gewisseheiten bekamen erste Risse, als Herr T. und ich in Machynlleth umstiegen (er hat hier davon erzählt). Wir mussten 30 Minuten vor Aberystwyth ¨über eine Stunde auf den nächsten Zug warten. Ich ging kurz im Städtchen spazieren, und da sah ich sie! Die Strassenkreuzung, an der wir Kuchen gegessen hatten! Ich hatte einen richtigen Freudenschauer. Aber Halt! Die Kreuzung von damals war doch in Dolgellau! Wie konnte das sein?! Hatten wir etwa Kuchen gegessen, bevor wir über den Pass fuhren? Das hätte mein jüngeres Ich mir doch niemals erlaubt! Oder irrte ich mich? Glaubte ich nur, dass dies die besagte Strassenkreuzung sei, weil ich mich so sehr danach sehnte, etwas von damals zu sehen?

Im Anschlusszug dämmerte mir dann auch: Ich kann die Ehefrauen von Aberystwyth gar nicht in Aberystwyth gesehen haben. Denn Aberystwyth ist nicht trostlos, sondern stemmt mit grosser Geste eine lange Häuserfront den Naturgewalten entgegen. Und es hat auch keinen gelben Strand, sondern einen grauen und eigentlich keinen Platz für einen Jahrmarkt.

Aberystwyth im Juni 2023. Der Mann mit dem Beret links im Bild ist mein Ehemann, Herr T., und nein, er hat keine Schnur.

Luxusprobleme und echte Sorgen in North Wales

In meinem vorletzten Beitrag habe ich ein grosses Drama um meine  befremdlichen, ersten Eindrücke in Caernarfon, North Wales, gemacht. Ich möchte hier betonen: Ich habe es nicht getan, um jemanden dort schlecht aussehen zu lassen. Wenn Herr T. und ich von einer Reisedestination stets blitzblanke Küchen, perfekte Blümchendekos und blauen Himmel erwarten würden, dann würde ich Hotelkritiken auf tripadvisor.com schreiben. Aber wir beide reisen und schreiben, um die Welt besser zu verstehen. So habe ich hingeschaut und mich seither oft gefragt: Weshalb verfallen in einer so schönen Stadt wie Caernarfon so viele Häuser warum stehen so viele leer oder zum Verkauf?

Verkaufsschilder und Baugerüste ohne Arbeiter: Etwas stimmt nicht im Walisischen Wohnungsmarkt.

Den Leuten, denen wir in Nordwales kurz  begegnet sind, konnten wir leider keine solchen Fragen stellen. Dafür hätte es ein blitzschnelles Gehör und etwas Glück gebraucht. Heute ersetzt mir das Internet oft beides, oder verschafft mir wenigstens ein passioniertes Halbwissen. So habe ich herausgefunden, dass die Walisische Regierung in Cardiff ebenfalls hingeschaut hat. Sie hat Anfang dieses Jahres Beihilfen im Umfang von 50 Millionen Pfund bereitgemacht. Für Hauseigentümer, die ein heruntergekommenes, leerstehendes Haus wieder bewohnbar machen. Die so unterstützten, neuen Besitzer müssen dann aber auch mindestens fünf Jahre im renovierten Haus wohnen (hier der Bericht). Laut Regierung gibt es 22000 solche Liegenschaften in ganz Wales. Mich erstaunt, dass es nicht mehr sind.

Schnell musste ich leider auch feststellen, dass in Nordwales nicht nur viele Häuser leerstehen – sondern dass gleichzeitig eine dramatische Wohnungsnot herrscht.  Ist das nicht komplett bescheurt? Beim Lesen der Berichte musste ich mir eingestehen, dass mein Unbehagen in Caernarfon wahrscheinlich ein Luxusproblem war. Dieses Bild jedenfalls machte mich sehr betroffen.

Der Schlossplatz von Caernarfon am 8. Mai 2023 (Quelle: bbc.com)

Es zeigt den Hauptplatz der Stadt ziemlich genau von jener Stelle aus, auf der wir ihn zum ersten Mal betraten. Am 8. Mai fand dort eine Demonstration gegen die Wohnungsnot in Wales statt, an der trotz offensichtlich himmeltraurigem Wetter 1000 Menschen teilnahmen. Dass mit bbc.com hier ein nationales Medium über den Anlass berichtete, unterstreicht dessen Relevanz.

Das Online-Magazin dailypost.co.uk widmete sich am 15. Juni 2023 der Wohnungskrise in Nordwales. Die Schlagzeile: „Alle eineinhalb Stunden meldet sich im County Gwynedd jemand obdachlos.“ Gwynedd, dessen Hauptort Caernarfon ist, zählt 117400 Einwohner, 652 Personen sind ohne festen Wohnsitz, heisst es in einem Bericht der Regierung. Das ist einer von 170 Menschen. Zum Vergleich: In ganz Deutschland ist es etwa einer von 320.

62 Kinder wohnten laut einem Regierungsbericht in provisorischen Unterkünften, 36 Kinder in einem Bed & Breakfast. Und hier reden wir nicht von Gaststätten mit Handtuchwärmern und einer Landlady, die den Kleinen beim Teeeinschenken liebevoll übers Haar streicht. Sondern von eiskalten Zimmern und auch mal von sexuell übergriffigen Mitbewohnern (hier). Fast 7000 Kinder und Jugendliche gelten in Gwynedd als arm, das ist gut ein Drittel der Minderjährigen. Zwei Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner könnten sich gar kein Haus leisten, heisst es. Die Regierung will nun sogar ein leerstehendes Verwaltungsgebäude zu Notunterkünften für rund 30 Personen umbauen.

Die Gründe für das Übel sind wohl vielfältig: die Teuerung ist gerade in ganz Europa hoch – in Grossbritannien ist von einer eigentlichen Cost of Living-Crisis die Rede, bei der die Lebenskosten deutlich schneller stiegen als die Einkommen. Die steigenden Hypothekarzinsen bereitet im übrigen auch zahlreichen Hauseigentümerinnen und Mietern in der Schweiz Bauchschmerzen. In Grossbritannien führt er breite Bevölkerungsschichten in die Bredouille, wie hier gut erklärt wird.

In Wales kommt der Boom der Zweitwohnungen dazu. Gerade, weil die Gegend schön ist, begehren reiche Engländerinnen und Engländer für ein paar Wochen im Jahr hier zu wohnen. Und sie können für so ein Häuschen viel mehr Geld in die Hand nehmen als Einheimische. Während der Pandemie hat sich der Anteil der Zweitwohnungen allein in Gwynedd mehr als verdoppelt. Diese Feriendomizile stehen ja dann auch noch die meiste Zeit des Jahres leer. Dazu kommen die Anbieter von Airbnb, die ja teils auch in Konkurrenz zu einheimischen Möchtegern-Hauseintümern stehen. Im April 2023 reagierte Cardiff: Jetzt dürfen die Gemeinden in Wales von Zweitwohnungs-Eigentümern viermal so viel Grundstücksteuern verlangen wie von Dauer-Anwohnenden. Das könnte allerdings dazu beigetragen haben, dass wir an einem kleinen Hafen Felinheli Mitte Juni eine ganze Strasse mit Häuschen sahen, vor denen fast überall „For Sale“-Schilder standen.

Nun, Herr T. und ich haben wahrscheinlich wenigstens etwas richtig gemacht: Herr T mag Airbnb nicht und hat uns deshalb stets in altmodische, halt etwas teurere Hotels gebucht. Da haben wir hoffentlich niemandem einen Platz zum Wohnen weggenommen.

 

 

 

Fremdeln in Caernarfon

Das Schloss von Caernarfon ist eine Wucht. Der erste Blick auf die Stadt weniger erhebend.

In Llandudno hatten wir zwei Nächte lang in einem hübschen, kleinen B&B mit Blick aufs Meer übernachtet. Vom Zimmer aus hatten wir traumhafte Sonnenuntergänge gesehen. Als wir abreisten, verabschiedete uns der Hotelier mit den Worten: „So, you’re going to Caernarfon? Well, you will see, the castle is beautiful, but the town is a little bit rubbish.“ Ein Tourismus-Profi dürfte nie einen solchen Satz über eine benachbarte Destination aussprechen. Und mein Englischlehrer hätte ihn auch nicht als englischen Satz akzeptiert. Dennoch machte sie mich auf der  zweistündigen Busfahrt nach Caernarfon etwas bange. Was uns wohl dort erwartete?

Caernarfon präsentierte sich zunächst als Landstädtchen, das seine besten Zeiten im 19. Jahrhundert gesehen hat. Der Schlossplatz lag grau vor uns, gegenüber unser Hotel. Dazwischen die Statue eines Mannes, der Kopf weiss von Möwenkot. Das Hotel hat ein Pub im Erdgeschoss, und wir fragten den Wirt erst mal, ob wir hier ein Mittagessen bekämen. „Nein, tut mir leid. Es gibt hier  nichts zu essen. Die Küche ist ausgebrannt“, sagte er. Wir bezogen unsere Zimmer im Dachstock.

„Die Küche ist ausgebrannt!“ sagte ich beim Auspacken vorwurfsvoll zu Herrn T. Er ist unser Reise-Organisator, und manchmal erwischt er bei den Hotelbuchungen ein faules Ei. Man schaut sich dann mit grösster Wachsamkeit im Zimmer um, wer weiss, was man alles zu sehen bekommt. Doch der Raum war sauber und frisch gestrichen, das Bad karg, aber sauber. Nur auf der Fensterscheibe klebte ein grosser, weisser Möwendreck. Und ich hatte kein Netz. Die Stadt hat zwar ein offenes WLAN, aber mein Handy verweigerte das Login, aus Sicherheitsgründen. Ich fühlte mich wie aus der Welt gefallen.

Ich beschloss, mich erst mal zusammenzunehmen. Wir gingen zurück auf den Schlossplatz und picknickten auf einer Bank. Dabei waren wir ganz froh, dass wir mit dem Rücken zur Presbyterianischen Kirche sassen, denn diese bot einen traurigen Anblick: geschlossen, die Tore mit Sperrholzbrettern verbarrikadiert. Auch die Post und die Bank hinter uns: bröckelnde Farbe, bröckelnder Stein. Schräg links ein architektonisch ansprechendes Lokal aus den 1960er-Jahren: geschlossen. Durch die grossen Glasfenster waren die verdreckten Trümmer einer einstigen Einrichtung zu sehen. Überhaupt, die Stadtseite östlich des Schlossplatzes: viele leere Bauten, zum Teil verbrettert, da und dort Baugerüste, aber keine Arbeiter. Dazwischen zwei oder drei in fröhlichen Farben frisch gestrichene Häuser. Als seien ihre Bewohner entschlossen, dem Verfall etwas entgegenzusetzen.

Wir waren bei der zweiten Scheibe Brot, als eine Möwe direkt vor uns landete und uns böse anschaute. Sie wollte unser Brot, das war offensichtlich. Die Möwen in Wales sind so gross wie dicke Katzen. Sie haben Hackschnäbel und es gibt kein anderes Wort für ihren Blick als böse. Richtig böse. Plötzlich eine alte Frau hinter uns, die mit verschrecktem Blick auf den Vogel zeigte. „Be careful!“ warnte sie uns und zeigte mit einer wilden Armbewegung, wie der Vogel einen Angriff auf uns fliegen würde. Sie meinte es gut. Aber ich weiss nicht, ob ich mich mich mehr vor dem Vogel oder vor ihr fürchtete. Sie war hager, ihr zerfurchtes Gesicht liess ahnen, dass sie Dinge erlebt hatte, die man selbst lieber nicht erleben möchte.

Unter höchster Wachsamkeit assen wir. Dann nahmen wir unseren touristischen Auftrag wahr und besichtigten das Schloss von Caernarfon. Es ist ist eine Wucht, aussen und innen. Das Abendessen im Pub The Anglesey Arms war köstlich. Danach ein Spaziergang am Strait of Menai in der langen Junidämmerung.

Dann betraten wir wieder unser Hotel. Im Pub ein einziger Gast, angetrunken. Er kam uns entgegen und sagte mit irrem Grinsen: „Es gibt hier nichts zu essen, die Küche ist abgebrannt.“

Walisisch für Schwerhörige

Ein Zug der Firma Transport for Wales brachte uns von Manchester nach Llandudno in Nordwales. Wir können dem Unternehmen nur Bestnoten geben. Das Rollmaterial war neu, die Info-Bildschirme funktionierten tiptop, Lautsprecher-Durchsagen waren häufig, korrekt und gut verständlich, naja, für uns nur die englischen. Dennoch: Es war eine Traumreise für Schwerhörige.

Alle Angaben waren strikt zweisprachig, kymrisch und englisch. Der walisische Ansager klang wie ein gut gelaunter Märchenerzähler. Herr T. verstand schon nach wenigen Haltestellen, was „the next station is…“ auf Walisisch heisst: „gorsaf nesaf“ oder „nesaiaf“ oder ähnlich. Ich habe ja in jungen Jahren Linguistik studiert und mich speziell für Phonologie interessiert. Früher hätte ich nach Kräften versucht, meine Zunge um die merkwürdigen Laute dieser Sprache zu schlingen und erste Phrasen zu verstehen oder sogar verwenden zu können. Aber mittlerweile ist mir das zu anstrengend.

Immerhin hatten wir uns auf dem ganzen Weg nach Wales laut darüber nachgedacht, wie man den Ortsnamen „Llandudno“ ausspricht. „Thlandadno? Liandadno?“ Mein Freund Eagle Eye sagte: „Hlandudno“. In unserem Reiseführer stand, das „Ll“ werde in etwa wie ein weiches „Chl“ ausgesprochen. Also „Chlandudno“. Der Märchenerzähler im Zug sagte aber eher „Schandudno“, oder so klang es jedenfalls für mich. Egal. Wir kamen irgendwann dort an.

„Spricht überhaupt noch jemand Walisisch?“ fragte ich mich. „Oder ist diese Zweisprachigkeit im Zug nur politisch gewollte Diversitätspflege?“ Mein Linguistikprofessor vertrat in den späten achtziger Jahren die These: Minderheiten-Sprachen in ökonomisch eher peripheren Gebieten sind zum Aussterben verurteilt. Zuerst werden alle zweisprachig, und das sei bei den Walisisch sprechenden bereits der Fall. Dann würde die Minderheitssprache allmählich aus dem Alltag verschwinden. Ich war ja schon während meines Studiums in den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren in Wales gewesen. Hatte ich damals Welsh gehört? Nein, nicht dass ich wüsste.

An den ersten beiden Tagen hörten wir in Llandudno nur Englisch. Llandudno ist ein gepflegtes Seebad, im Juni mehrheitlich von älteren Feriengästen aus England bevölkert. Am dritten Tag brachen wir Richtung Caernarfon auf. An der Bushaltestelle kam Herr T. mit zwei Frauen um die sechzig ins Gespräch. Ob sie eben Walisisch gesprochen habe, frage er.

Die eine lächelte über so viel Ahnungslosigkeit und sagte in einem lustigen Englisch: „Klar! Wenn wir unter uns sind, sprechen wir selbstverständlich Walisisch.“ Später hat mir Herr T. dann und wann gesagt, Leute um uns herum würden Walisisch sprechen. Ich kann Leute um uns herum zwar reden hören, weiss aber meist nicht, in welcher Sprache. Ich glaubte die keltische Sprache daran zu erkennen, dass sie einen anderen Rhythmus hat als Englisch. Englisch ist eher synkopisch, Welsh hat mehr Triolen, behaupte ich jetzt einfach mal. Auch schien mir diese Sprache voll von „aia aia aia“-Wiederholungen zu sein. Aber eben, meine Eindrücke sind höchst unzuverlässig.

Kaum zurück aus den Ferien stöberte ich in meinen alten Tagebüchern und stiess unerwartet auf Notizen meiner ersten Reise nach Wales, 1990. Ich staunte nicht schlecht, als ich eine Liste von präzis geschilderten Situationen vorfand, in denen ich damals die kymrische Sprache gehört hatte (ich hörte noch normal). Sie enthielt sechs Punkte, einige auch für die Soziolinguistin bemerkenswerte, zum Beispiel diesen: „Ffestiniog, The Abbey Pub: Ein Mann um die 25 und mehrere Knaben zwischen 10 und 14 stehen am Pool-Tisch und sprechen Englisch. Dann kommen eine Frau und ein Mädchen dazu (die Frau um die 40, das Kind 12 oder 13), die beiden sprechen Welsh. Solange die Frauen am Tisch stehen, sprechen alle Welsh. Danach wechseln die Männer zurück auf Englisch.“

Ich habe keinerlei Erinnerungen an diesen Vorfall. Ich glaube, ich bin nicht nur schwerhörig, sondern auch dement.

Ein ukrainischer Oligarch

Oligarch Rinat Achmetow 2013 (Quelle: Wikipedia).

Bei meinen Recherchen für die Londongrad-Tour mit meinem Patensohn Tim bin ich auf etwas Verblüffendes gestossen: einen ukrainischen Oligarchen. Ich meine: Natürlich wissen die meisten von uns, dass es ukrainische Oligarchen gab oder gibt. Der Zerfall der Sowjetunion ist ja an vielen Orten ähnlich verlaufen. Aber angesichts der Weltlage blenden wir das gerne aus und sehen als einzigen Ukrainer Wolodimir Selenski. Wir denken nicht darüber nach, dass noch 2008 die 50 reichsten Menschen der Ukraine 85 Prozent des dortigen Bruttosozialproduktes besassen und mit dem Staat machten, was sie wollten (hier eine Liste der zehn vermögendsten von ihnen). Dieser Beitrag sollte ursprünglich vom allerreichsten von ihnen handeln, von Rinat Achmetov, der in London ein bemerkenswertes Penthouse besitzt.

Im Moment scheint es mir aber wichtiger zu sagen, dass die Ukraine ernsthaft versucht, ihre Oligarchen zu schwächen (hier ein guter Bericht dazu). Sie will ja in die EU, da gehen mauschelnde Machtmenschen mit Milliardenvermögen gar nicht. So hat der Staat schon mal in einem Gesetz Kriterien definiert, die jemanden zum Oligarchen machen: Er verfügt über ein Vermögen von 80 Millionen Euro oder mehr; er besitzt ein Medienunternehmen; er übt Einfluss in der Politik aus oder hat ein Monopol in einem bestimmten Wirtschaftsbereich. Treffen drei dieser vier Kriterien auf jemanden zu, dann haben wir es mit einem Oligarchen zu tun. Diese werden seit Einführung des Anti-Oligarchen-Gesetzes 2021 in einem Register vermerkt. Seither interessiert sich Rinat Achmetov ja auch gar nicht mehr für Politik, nicht doch, er hat sich gar nie wirklich für Politik interessiert. Dass er einen Parlamentssitz hatte – ach Gott, ein reines Versehen!

Nein, Oligarchen, das geht gar nicht in der EU – obwohl: Als ich so darüber nachdachte, sind mir auf Anhieb die Namen von zwei europäische Herren eingefallen, die ukrainische Oligarchen-Kriterien erfüllen: der soeben verstorbene Silvio Berlusconi. Und der schweizerische alt Bundesrat und Unternehmer Christoph Blocher (aber das spielt natürlich keine Rolle, denn die Schweiz ist ja nicht in der EU).

Zu Rinat Achmetov hier nur noch kurz: Sein exklusives Penthouse liegt am One Hyde Park, wo zwischen 2007 und 2010 die teuerste Immobilie von London erbaut wurde. Sie liegt wenige Gehminuten von Harrods entfernt, direkt am Südrand der weltberühmten Parkanlage Hyde Park. Achmetov soll 136,3 Millionen Pfund für zwei Wohnungen in der Anlage bezahlt haben.

Die teuerste Immobilie Londons, heisst es: One Hyde Park. Quelle: Wikipedia

Achmetov war (und ist wohl immer noch) der reichste Mann der Ukraine und sehr sehr wahrscheinlich ein Gangsterboss der ersten Liga – obwohl ihm nie etwas Ungerades nachgewiesen wurde, er war ja auch sehr einflussreich. Heute sind seine Besitztümer von den Russen sanktioniert oder zerstört. Sein Reichtum stammt vor allem aus dem von Russen besetzten Donbass, zum Beispiel besass er Asow-Stahl, die Fabrik, die von den Russen belagert und zerstört wurde, deren Firmensitz Achmetov aber schon lange nach Den Haag verlegt hat.

Als ich die Story von Asow-Stahl im letzten Jahr mitbekam, galt mein Mitgefühl den Menschen, die dort ihr Leben, ihre Lieben, ihre Arbeit verloren haben. Seit ich weiss, dass diese ganze zerstörte Anlage einem einzigen Menschen gehört hat, frage ich mich, was ich für diesen Menschen fühlen soll.

Aber das ist schwere Kost für den 18-jährigen Tim, auch wenn er sich durchaus für Politik interessiert. Ich muss noch ein bisschen drüber nachdenken, wie ich das überhaupt präsentiere. Morgen fahren wir, als Erstes reisen wir ein bisschen in England herum.

 

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