Im Namen aller Mütterchen in Beige

In den Jahren zwischen 50 und 59 fühlte ich mich beinahe sicher vor den  ungebetenen Tipps irgendwelcher Lifestyle-Päpstinnen. Aber kaum rückt der 60. Geburtstag näher, diskutieren wir plötzlich über Longevity oder über die Frage: Was heisst gut altern?

Neulich las mir Herr T. eine Passage des Buches „Altern“ von Elke Heidenreich vor, die ich selbst gnädig überlesen hatte. Die 81-jährige Autorin schreibt: „Ich sehe um mich herum Frauen, die anders altern als ich, und manchmal, wenn nach Lesungen eine Frau beim signieren zu mir sagt: ‚Wir sind derselbe Jahrgang‘, und ich sehe hoch, und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin nicht ich.“*

Sofort empörte sich mein Herz für alle „Mütterchen in beige“, obwohl ich selbst kein einziges beiges Kleidungsstück besitze. Ich wurde richtig laut und sagte schliesslich das, was ich zu Fragen des Kleidungsstils schon mein ganzes Leben lang sage: „Jede und jeder lebt nach bestem Wissen und Gewissen sein bestmögliches Leben!“ Mit 59 Jahren Lebenserfahrung würde ich einräumen, dass es gierige und zynische Menschen gibt. Aber die erkennt auch die Lifestyle-Päpstin nicht unbedingt an der Farbe der Bekleidung.

*Elke Heidenreich: „Altern“, Hanser Berlin, 2024, S. 62. Um eins klarzustellen: Ich möchte keiner Person die Lektüre vergällen, die das Buch vielleicht bald lesen wird. Es stehen auch einige sehr gute Dinge drin!

Gemeinsam lesen: Fünf Bücher des Jahres 2024

2024 fanden 52 Titel den Weg auf meine „gelesen“-Liste. Einige waren grossartig, andere habe ich schon fast wieder vergessen. Das Besondere an diesem Jahr: Ich habe diesmal mehr Bücher als sonst zusammen mit Freund*innen oder Verwandten gelesen. Um diese Lektüren ranken sich Geschichten, von denen ich hier zum Jahresausklang fünf erzählen möchte:

In unserer Nachbarschaft tobte 2024 das Bannalec-Fieber. Auf ihre letztjährige Bretagne-Reise angesprochen, lieh uns das Paar schräg übers Eck die „Bretonische Flut“ und einen weiteren Bannalec-Titel aus. Auch Herr und Frau Buddha planen gerade eine Tour bis hinaus nach Ouessant, und Frau Buddha, eine grosse Krimileserin, preschte deshalb in kürzester Zeit durch sämtliche Bannalec-Bände. Herr T. wiederum las die beiden Titel, die wir bekommen hatten (hier seine Impressionen). Ich fremdelte. Ich konnte einfach nicht ignorieren, dass sich im Wort „Bannalec“ das Wort „banal“ versteckt. Ich las dann doch diesen einen Roman des deutschen Bretagne-Verehrers und war angenehm überrascht: Er schildert das Licht, die betörenden Farben und die landschaftlichen Schönheiten der bretonischen Südküste so hingerissen, dass ich das alles selbst in der Erinnerung neu zu sehen begann.

Ein paarmal im Jahr besuche ich einen englischsprachigen Buchclub im steuergünstigen Nachbarkanton Zug. Es gibt in Zug mehr Expats als in Luzern und deshalb überhaupt genügend Leute, die an einem English Book Club interessiert sind.  T. C. Boyle’s Klimawandel-Gesellschaftsroman bekam von mir Bestnoten. Er ist hemmungslos spannend („Wen oder was wird die gruselige Pythonschlange aus dem ersten Kapitel fressen?!“). Und er zeigt, was wir alle tun angesichts des Klimawandels: Nichts. „Was sollen wir auch tun? Es liegt doch alles daran, dass wir einfach zu viele sind“, sagte eine der Teilnehmerinnen. Sie blieb unwidersprochen. Viele teilten ihre Meinung, ich fühlte mich zu schwerhörig, um mich mit ihr anzulegen.

Dieses Bändchen gehört auch heute noch zum Pflichtlesestoff für Germanistik-Studentinnen. „Komm, das lesen wir wieder mal!“ rief Paulina, als wir im Sommer darauf zu sprechen kamen. Wir haben beide eine Behinderung, deshalb können wir uns mit einem Taugenichts identifizieren. Wir wollten sogar eine ad hoc-Lesegruppe mit einem jungen Nachbarn Paulinas gründen. Aber der Junge schaffte es dann gar nicht durch das Büchlein. Ich zwar schon, aber ich wurde nicht warm damit, fand nur die Liedtexte schön, alle grossen Themen darin verschenkt, und sagte: „Das ist ja wie ein Musical! Viele Songs, aber sonst sehr oberflächlich.“ Paulina aber berichtete, Thomas Mann sei ganz begeistert gewesen über die Pflichtvergessenheit und die Ablehnung des Nützlichkeitskalküls durch Eichendorffs Protagonist. Ich muss wohl den Tatsachen ins Auge schauen, ich tauge nicht zur Germanistin.

Das bergige Land, aus dem mein Vater stammt, kann gruselig sein. Es gibt Sagen über Ungeheuer, die in den Tälern des Napfgebietes ihr Unwesen treiben. Darauf fusst dieser Krimi, mit dem er sich die ersten Monate vom tristen, neuen Dasein im Talgrund ablenkte. Das Buch wurde für die ganze Familie Pflichtlesestoff. Meine Mutter fand: „Ja, sehr unterhaltsam. Aber wenn die Luzerner Kriminalpolizei wirklich so ermittelt, wie das hier steht, dann gute Nacht!“ Mich hatte Autorin Mansour in der Tasche, als ich die Namen der drei alten Herren am Stammtisch der Beiz in Willisau las: Wermelinger, Hüsler und Aregger. „Der Lokalkolorit stimmt!“ freute ich mich. Nur mit dem Schluss war ich unzufrieden: Die psychologischen Probleme der Täterfigur nehme ich dem Buch nicht ab. Mein Vater jedoch w¨ünschte sich gleich Mansours Gesamtwerk zum Geburtstag, meist Krimis, die im Kanton Luzern spielen.

„Tim ist ein grosser Fan von Anna Rosenwasser“, verriet mir die Mutter meines Gottenbuben. Er folgt der 30-jährigen, queeren Aktivistin auch auf Instagram (@annarosenwasser). So schenkte ich ihm die Kolumnen-Sammlung der Zürcherin zum 19. Geburtstag. Ich wollte mit ihm über die SP-Politikerin diskutieren, denn diskutieren tun wir gern, auch kontrovers. Für mich wurde die Frau zur Provokation, als sie überraschend in den Nationalrat gewählt wurde und sich dann zierte, die Wahl anzunehmen. Tim steckte das Buch in eine erstaunlich grosse Innentasche seiner Jacke (in Sachen Modebewusstsein ist er mir um Lichtjahre voraus). Er las immerhin die Hälfte, diskutieren taten wir jedoch über viele andere Dinge. Mir (59) gefiel es, beim Lesen mitzubekommen, wie die Kolumnen im Buch zunächst noch etwas hölzern sind, wie die Autorin dann aber allmählich ihren ganz eigenen Ton findet.

 

 

Warum nur finden manche den Mississippi magisch?

Vor ein paar Jahren machte ich mit meiner Freundin Helga in Deutschland einen Ausflug nach Speyer. Sie zeigte mir den goldenen Hut im Museum, dann schlenderten wir zum Auto zurück. „Dort hinten liegt der Rhein“, sagte sie beiläufig. Ich sofort: „Oh, da will ich unbedingt hin!“ Sie sah mich befremdet an. „Da gibt es aber nicht viel zu sehen“, meinte sie. „Das ist einfach ein Fluss.“ Ich grinste: „Du bist kein sehr reisefreudiger Mensch, oder?“ Ich gab keine Ruhe, bis wir am Rhein standen und ich die Hand ins Wasser getaucht hatte. Mich beglückte die Vorstellung, vielleicht einen Tropfen am Finger zu haben, der 350 Kilometer flussaufwärts durch meine Heimatstadt Luzern geflossen war. Denn durch meine Heimatstadt fliesst die Reuss, und die wiederum mündet bei Brugg im Aargau in die Aare – und die wiederum etwas weiter nördlich in den Rhein.

Die Episode ging mir durch den Kopf, als ich „Iowa“ von Stefanie Sargnagel las. Die 38-jährige Autorin schildert darin ihren „Ausflug nach Amerika“ mit der Musikerin Christiane Rösinger im Jahre 2022. Zunächst sitzen die beiden in einem Unort namens Grinnell fest. Aber dann werden sie eines Autos habhaft, und plötzlich tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Bei näherer Betrachtung klingen allerdings auch diese Möglichkeiten recht banal, halt das, was die Touristin so macht. Bis die Idee auftaucht, an den Mississippi zu fahren. „Mit einem Mal verklärt sich Christianes Blick“, schreibt Sargnagel (S. 137). „Etwas ist entfacht“ bei der Freundin. Stefanie erwidert trocken: „‚Ok, dann machen wir Mississippi, ist notiert.'“

Das tun sie dann auch. Sie erreichen den Strom bei Dubuque im Staate Iowa. Dort ist Christiane „glücklich und streckt ihre Nase in den Wind“. Stefanie dagegen findet alles hier „zubetoniert und deprimierend“ und hat auch noch Menstruationsschmerzen. Sie reisst sich dann aber zusammen und erzählt eine magische Anekdote über Christiane und den Fluss und die Pelikane am Fluss, die sie vielleicht gesehen haben und vielleicht auch nicht. Warum nur fühlen manche Menschen den Sog, den nur schon der Name eines Flusses haben kann und manche nicht?

Stefanie Sargnagel: „Iowa – ein Ausflug nach Amerika“, Rowohlt Verlag, 2. Auflage, 2024

Geert gegen Geert – zu den Europawahlen

Geert Wilders, Rechtspopulist; Jahrgang 1963 (Quelle: Wikipedia)

Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.

Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.

Geert Mak, Journalist, geboren 1946 (Quelle: geertmak.nl)

Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?

Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.

Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute  auslassen, Grund: der Brexit.

Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.

Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.

Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.


Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.

Wie ich eine Frau wurde

Als ich „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler zum ersten Mal las, durchquerte ich das Buch so eilig wie man einen Bahnhof im Umbau durchquert, Wände voller Gerüste, Räume voller Lärm. „Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion“, schreibt Butler (S. 209). Aha. Mir hatte der Feminismus nicht nur ein „Wir“, sondern sogar ein Ich geschenkt. Ich erklärte Butler zum Nicht-Ort der feministischen Auseinandersetzung, eilte zum nächsten Zug und fuhr woanders hin. Aber seit ein paar Jahren ist dieser Bahnhof ein fertig ausgebauter Verkehrsknotenpunkt der Gender-Debatte. Daher hielt ich diesmal inne und betrachtete Fassaden, Stützpfeiler und Fahrpläne genau.

Ich sah mir Butler’s These an, dass der herrschende Diskurs das Körper zu Männern und Frauen formt, und dass es mehr als zwei Geschlechter und ein frei schwebendes Begehren geben könnte. Ob es das biologische Geschlecht in Wirklichkeit gibt oder nicht – Butler schreibt sich um diese Frage herum, egal, was sie später behauptete (siehe zum Beispiel hier). Sie interessierte sich für den „herrschenden Diskurs“ und jene, die in irgendeiner Form von der Binarität abwichen. Das hatte und hat seine Berechtigung. Aber ist das ein feministischer Ort? Nicht unbedingt.

Dennoch liess ich im Namen der Gender-Debatte die Szenen meiner eigenen Frauwerdung Revue passieren, die himmlischen und die hässlichen. Ja, es gab hässliche Szenen. Ich muss es deutlich sagen: Teenager Frogg hatte eine Phase der Genderdysphorie. Als ich zwölf war, schleppten meine Mutter und meine Grossmutter mich und meine schmerzenden Brüste in den Lingerie-Laden und zwangen mir den ersten Büstenhalter auf den Leib. „Hör auf zu jammern, Du hast ja einen Busen wie einen überhängenden Balkon! Glaub mir, Du wirst Dich so an  den BH gewöhnen, dass Du bald nicht mehr ohne kannst“, sagte meine Mutter. Als ob mich das davon hätte überzeugen können, dass ich so ein Gstältli* brauchte. Und das war nur das, was sich an der Oberfläche abspielte.

Aber damals sagte man nicht: „Genug! Ich bin ab jetzt ein Junge und kein Mädchen. Die Brüste müssen weg!“ Ich gewöhnte mich an den Büstenhalter und basta. Damit will ich mich nicht zum Opfer stilisieren. Auch die Mannwerdung war vor 40 Jahren Jahren kein Zuckerschlecken, mit 20 mussten sie alle ins Militär. Und was Lesben und Schwule damals durchmachten, war mitunter schwierig, das habe ich in meinem Bekanntenkreis mitbekommen. Auch wenn es allmählich leichter wurde, offen homosexuell zu leben. Ungefähr 2002 begegnete ich erstmals einer Trans-Frau. Trans-Männer kenne ich noch heute nur vom Hörensagen.

Heute bin ich froh, dass meine Mutter und meine Grossmutter mich damals in den Lingerie-Laden und nicht zum Arzt schleppten. Ich bin froh, dass ich keine Pubertätsblocker nahm und dass ich meine Brüste noch habe (und weiss spätestens seit 2022, dass ich mich nie freiwillig einer Brustoperation unterziehen werde). Ich bin froh, dass ich kein Coming-out als Trans-Mann durchmachen musste. Ich habe grossen Respekt vor Trans-Menschen, die das alles gemacht haben und dabei stärker geworden sind. Aber ich bin eine Frau, und in meinem Leben gab es auch viele himmlische Momente. Und deshalb wünsche ich allen Teenager-Mädchen mit BH-Aversion jemanden, der zuerst einmal zuhört und nachfragt, was unter der Oberfläche wirklich los ist.

*Ein Gerüst, das den Körper stützt oder einengt, etwa ein Klettergurt oder ein Hundegeschirr.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991

 

 

 

 

Über die Abschaffung des Geschlechts

Ungefähr so wären die Arbeitskräfte meiner Geschlechter-Utopie gekleidet gewesen. Frau und Mann würden aber nebeneinander stehen. (Quelle: joom.com)

Endlich habe ich begriffen, warum Gender-Diversität in den letzten Jahren ein derart grosses Thema geworden ist. Weshalb wir in jeder erdenklichen Lebenslage dazu aufgerufen sind, über sie zu reden, sie anzuerkennen und sie zu preisen. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das noch anders. Nehmen wir das Arbeitsleben als Beispiel: Damals waren wir Frauen in vielen Branchen die nicht allzu willkommene Diversität. Aus Vorsicht gaben unsere wie auch immer geartete Gender-Identität beim Sekretariat ab, bevor wir uns am Morgen an die Arbeit machten. Nichts sollte den Verdacht erwecken, dass wir nicht die volle Leistung bringen könnten. Merke: Männer bestimmten meist, was volle Leistung ist. Volle Leistung bringen hiess für Frauen auch, stets angemessen gestylt sein. Im Arbeitsleben lauerte allerhand Ungemach: Eine etwas zu intime Beziehung zu einem Vorgesetzten, es wird ruchbar und, zack, weg ist sie (nicht er)! Es war lange vor MeToo. Judith Butler nennt diesen Zustand Phallogozentrismus und wie ich war sie damit nicht sonderlich glücklich.

Meine Utopie war, dass wir alle an der Bürotür eine Unisex-Mao-Uniform erhalten, in der das Geschlecht des arbeitenden Menschen unsichtbar wird. Das mag freudlos klingen. Aber es hätte niemanden davon abgehalten, sich in der Freizeit nach Kräften zu aufzubrezeln und seinen sexuellen Vorlieben zu frönen.

Butler geht mit mit ihrer Analyse weiter: Der Phallogozentrismus macht nicht nur die Frau unsichtbar, er sorgt – aus vorgeblichem Interesse am Fortbestand der Menschheit – für strikte Geschlechter-Binarität und Zwangsheterosexualität. Als Feministin und Lesbe fragt sie: „Wie kann man am besten die Geschlechter-Kategorien stören, die die Geschlechter-Hierarchie und die Zwangsheterosexualität stützen?“ (S. 8). Sie rät: Wir sollen mit Geschlechter-Identitäten spielen, sie parodieren, sie performen, uns dabei von von Schwulen, Lesben und Transvestiten inspirieren lassen. Das Begehren und die Identität frei schweben lassen.

Das könnte auch heissen: die Binarität durch eine Vielzahl von gelebten  Geschlechter-Identitäten zum Einsturz bringen. Dazu müssen wir die ganze vorhandene Gender-Diversität überhaupt erst sichtbar machen. Die Vielfalt des sexuellen Begehrens und die Transsexualität sind dann unbedingt zu akzeptieren und zu fördern. Im Prinzip bin ich damit absolut einverstanden. Dieses Vorgehen gibt nicht nur vielen Menschen ihre Rechte und holt sie aus der finsteren Kammer der  Selbstzweifel. Es könnte sogar zu einem ähnlichen Resultat führen wie meine eigene Geschlechter-Utopie: dass die Geschlechter-Binarität überall dort einfach verschwindet, wo sie nicht zwingend gebraucht wird.

Nun ist die Darstellung dieser Vielheit sehr viel bunter geworden als ich es mir vorgestellt hatte, und auch das ist eigentlich schön. Ich frage mich lediglich, warum diese Gender-Diversität in den letzten Jahren vor allem die Cis-Frauen zum Verschwinden gebracht (zum Beispiel im Begriff Flintaq*) oder auseinander dividiert hat (im feministischen Streik). Nicht aber die Cis-Männer. Während wir bunt sind, uns zeigen und uns streiten, erhalten sie den Phallozentrismus an Schlüsselstellen unserer Gesellschaft weiter aufrecht: mit Mehrheiten in Machtpositionen in der Finanzwirtschaft, in der Armee, im Bauwesen, in der Politik. Diskret, uniform und mächtig.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991,

Judith Butler und der begehrliche Blick des Mannes

Judith Butler 2012 (Quelle: Wikipedia).

In vier Tagen habe ich das Vorwort zu Judith Butler’s Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ zweieinhalbmal gelesen. Schon diese acht Seiten haben meine Hirnsynapsen zum Glühen gebracht, und das ist ein Kompliment. Nichts liebe ich mehr, als wenn meine Hirnsynapsen glühen. Antworten auf meine Frage vom letzten Beitrag habe ich indes noch keine gefunden. „Ja oder Nein“, „Frau oder Mann“, „ist oder ist nicht“ – solche Gegensätze klar zu benennen, ist nicht die Absicht von Judith Butler. Wir kennen sie ja angeblich alle. Butler will solche Gegensätze untersuchen, unterwandern, zum Einsturz bringen, kurz, dekonstruieren. Das ist ihr Job, und sie will damit nicht weniger als „das herrschende Gesetz“ ins Wanken bringen. Schon auf der ersten Seite studiert Butler den begehrlichen Blick des Mannes auf die Frau: Wie der Mann Unbehagen empfindet, wenn die Frau plötzlich zurückblickt. Weil die Frau ja Objekt dieses Begehrens ist. Wie erschrickt er da, wenn sie plötzlich zu erkennen gibt, dass sie selbst Subjekt sein könnte! Butler hat das bei Jean-Paul Sartre so gelesen. Sie selbst ist ja lesbisch.

Ich stelle mir beim Lesen vor, wie Butler das sich ständig wiederholende, heterosexuelle Liebesritual des 20. Jahrhunderts befremdet und amüsiert aus der Distanz beobachtet. Ich erinnere mich gut an dieses Ritual: Meine Mutter hatte mir beigebracht, mein eigenes Begehren für einen Mann erst dann zu erkennen zu geben, wenn sicher ist, dass er keinen Rückzieher machen wird. Mit 14 fand ich das unmenschlich. Ich musste aber lernen, damit zurechtzukommen. Alles andere wäre ein schwerer Verstoss gegen die Gesetze der Weiblichkeit gewesen. Begehrliche Blicke meinerseits hatten verstohlen zu bleiben; und niemals, wirklich niemals spricht eine Frau gegenüber einem Mann zuerst ihr Begehren aus. Ich zucke heute noch zusammen, wenn junge Frauen im Film einem Mann ganz frank und frei ihre Liebe gestehen. Geht das heute?! Und sucht der Mann dann nicht schnellstens das Weite?! Und wenn frau das heute ungestraft macht: Ist es auch ein Verdienst von Judith Butler?

 

 

 

Wiedersehen mit Judith Butler

Pünktlich zum Tag der Frau habe ich gestern angefangen, „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler wieder zu lesen. Für alle Nicht-Feminist*innen muss ich vorausschicken: Dieses Buch ist so etwas wie das Evangelium des zeitgenössischen Gender-Feminismus. Es ist aber in einem schwer verständlichen philosophischen Jargon gehalten. Wenn ich jetzt über meine Wieder-Lektüre auch noch blogge, dann laufe ich Gefahr, mich zur Närrin oder zur Zielscheibe von Trans-Aktivist*innen zu machen. Ich tue es trotzdem, jedenfalls, so lange ich Lust darauf habe. Ich will das Buch jetzt verstehen. Auch, um meinen Ort in einem Feminismus zu finden, der Frauen wie mich, (heterosexuelle Cis-Frau, Jahrgang 1965, hochgradig schwerhörig) in an Schusswaffen erinnernden Akronymen wie „Flintaq*“ verschwinden lässt. Bloggen hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Ich diskutiere gerne und akzeptiere auch Widerspruch – wenn er die Grenzen des Anstandes nicht überschreitet.

In meinen jungen Jahren habe ich das 1990 publizierte Buch glattweg abgelehnt. In einem Kreis von Butler-Interessierten (mehrheitlich mit den neusten akademischen Trends vertrauten Männern), diskutierten wir 1996 Butler’s angebliche These, dass das biologische Geschlecht gar nicht existiere. „Das ist doch Bullshit“, sagte ich, „Es ist doch leicht zu sehen, dass die meisten Menschen entweder Frauen oder Männer sind.“ Mein biologisches Geschlecht schien mir nicht nur Quelle unbändiger Lust, sondern auch spezifischer Schwierigkeiten im Alltag zu sein. Wie kann man so etwas in Abrede stellen? Die Versammelten wiegten nachdenklich die Köpfe.

Selbst gelesen habe ich Butler erst später und, ja, ich kam dabei zur Überzeugung, die Autorin löse das biologische Geschlecht in einem Wust von Sprache auf.  Erst kürzlich hat mir jemand gesagt, nein, das stimme so nicht. Butler habe neulich eben beteuert, dass sie das sie das Vorhandensein das biologischen Geschlechts eben nicht in Abrede gestellt habe. Sie meine das mit dem Geschlecht vielmehr so, wie es hier sehr gut nachvollziehbar erklärt ist.

Um herauszufinden, wie es wirklich ist, habe ich mir die deutsche Ausgabe vorgeknöpft: „Das Unbehagen der Geschlechter – Gender Studies“, Edition Suhrkamp, 1991. Das englische Original wäre mir denn doch zu anstrengend.

Ein Buch, das Vater und Tochter verbindet

Wenn ich meinen Vater im Heim besuche, lese ich ihm jeweils ein paar Seiten aus „Der arme Mann im Tockenburg“ von Ulrich Bräker vor. Wer immer über dieses Buch schreibt, beeilt sich, seine „mangelnde literarische Qualität“ zu erwähnen (zum Beispiel hier). Ich gehe daher vor allem auf seine durchaus erwähnenswerten Stärken ein. Es ist erstens in einer ganz eigenen Sprache gehalten, leicht an Bräkers Muttersprache angelehnt, den Ostschweizer Dialekt, der im bergigen Toggenburg gesprochen wird. Es ist zweitens das früheste erhaltene Stück Schweizer Autofiktion. Bräker (1735 bis 1798) erzählt darin seine Lebensgeschichte, die eines Bauernbuben, der als junger Mann in die preussische Armee gerät, abhaut und dann in seiner Heimat eine karge Existenz aufbaut. Mit Frau, Kindern und einem Textilhandelsgeschäftchen, wie es in der Frühindustrialisierung in der Ostschweiz viele gab. Und: Das Buch hat die Kraft, meinen Vater und mich jeweils für eine halbe Stunde oder so über sein Elend hinweg zu verbinden. Er war selbst ein Bauernbub, im bergigen Napfgebiet, und hat sich später in einer Beamtenhierarchie abgearbeitet.

Ich bin hingerissen von Bräkers ersten Kindheitserinnerungen: „Ganz deutlich besinn ich mich, wie ich auf allen vieren einen steinigten Fussweg hinabkroch und einer alten Base durch Gebärden Äpfel abbettelte.“ Ich sehe das fast wie einen Film vor mir. Aber, hey, das war 1738! Mein Vater horcht auf, wenn vom Geissenhüten die Rede ist. Dann unterbrechen wir uns und er erzählt von der Ziege, die er selbst als Bub hatte. Wie sie ihm sagten, er solle sein Herz nicht zu fest an sie hängen, sie werde zu Ostern geschlachtet.

Wenn ich ihm vorlese, bin ich seine literarische Tochter, geboren, um ihn stolz zu machen. Er geniesst das Stolzsein. Das rührt mich, denn früher war er nie stolz auf mich oder hat es mir jedenfalls nicht gezeigt. Aber hier erzählt er den Pflegenden bei jeder Gelegenheit, dass ich im Fall seine Tochter sei und ihm dieses tolle Buch vorlese.

Einmal, ich bin mittendrin, ruft Wiederkehr an, sein Jugendfreund. Die beiden waren zusammen auf der Beamtenschule und büffelten Schweizer Verkehrswege und Postleitzahlen. Wiederkehr hatte eine Stelle in der Bundeshauptstadt. Aber jetzt ist auch er vergesslich geworden. Auch ihm erzählt mein Vater von diesem tollen Buch und vom Toggenburg und vielleicht wissen beide nicht mehr auf Anhieb, wo oder was das Toggenburg ist, es ist doch etwas abgelegen. Aber dann fällt der Groschen und einen Moment lang klingt es so, als würden sie gleich zusammen Ostschweizer Postleitzahlen zu repetieren beginnen.

Ulrich Bräker: „Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg; Hofenberg Sonderausgabe 2017; (Erstdruck 1789).

Der literarische Tod und der echte Tod

Mein Vater hat nun ein Zimmer im Heim am Talgrund und findet dort allmählich etwas Ruhe. In den letzten Wochen war er eine ständige, oft auf ganz neue Art liebenswürdige Präsenz in unserem Leben. Jetzt haben der Krebs, die Demenz und der Heimalltag ihn bei der Hand genommen. Es scheint oft schwierig, ihm dorthin zu folgen, wo er gerade ist. In diesen Tagen bezweifle ich oft, dass sein Tod so sein wird, wie wir Tode hundertfach gelesen und am Fernsehen gesehen haben: Der oder die Sterbende blutet, spricht ein letztes, handlungstreibendes Wort, dann kippt sein Kopf zurück, seine Augen brechen.

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Der Zufall will es, dass ich dieser Tage die letzten Kapitel eines Buches las, das mir eine sehr liebe Freundin ausgeliehen hat: „Rainer Maria Rilkes Schweizerjahre“ von Jean-Rodolphe von Salis. Einige Grundkenntnisse über Rilke gehören immer noch zur deutschsprachigen Allgemeinbildung. Der Autor des Buches, Jean-Rodolphe von Salis, ist hingegen nicht mehr so präsent. Aber er war einer der bedeutendsten Journalisten der Schweiz im 20. Jahrhundert. Von Salis hatte in jungen Jahren Rilke noch persönlich kennengelernt. Die letzten Kapitel seines Buches enthalten eine mitfühlende Schilderung der Krankheitsjahre, die Rilke grösstenteils in der Schweiz verbrachte. Rilke starb an einem Blutkrebs, der jenem meines Vaters ähnlich ist. Deshalb sind mir die letzten Kapitel des Werkes besonders nahe gegangen. Von Salis scheinen ähnliche Fragen beschäftigt zu haben wie mich gerade. War der Tod dieses Literaten so wie er sich selbst den Tod vorgestellt hatte? Sicher dürfe man diesen Tod nicht mit Bildern beschreiben, die dem Werk des Dichters entnommen seien, das verbiete der Anstand, die Scham „vor dem Unaussprechlichen“, schreibt von Salis.

Aber wie hat Rilke selbst es gehalten? Von Salis: „Der Mann, der seit jungen Jahren als Dichter des Leidens und des Todes hervorgetreten war, vermied soviel wie möglich die Aussprache über die grossen Rätsel, als sie sich seiner eigenen Existenz bemächtigten.“ Und: „Es ist auffallend, dass er in seinem letzten Jahren und in seinen reifsten Werken die berühmten alten Bilder nie mehr brauchte, die er einst im Malte-Roman und im Stundenbuch geprägt hat, um den Tod zu bezeichnen.“ Rilke glaubte offenbar auch bis fast zuletzt daran, dass er wieder gesund werde – in dieser Hinsicht ist ihm mein Vater nicht unähnlich. Von Salis zieht das Fazit: „Es war keine literarische Krankheit und kein literarischer Tod, die sich Rilkes bemächtigt haben, und er erlitt beide als ein mannhafter, tapferer Mensch.“ (S.216)