Schwerhörig: Die verblüffende Schärfe verständlicher Sprache

Wie fühlt es sich an, in normalen Gesprächen gesprochene Sprache schlecht zu verstehen? Und warum fragen wir Schwerhörigen oft nicht nach, wenn wir im Gespräch nicht mitkommen? Ich habe mich schon oft gefragt, wie ich Euch das erklären könnte. Dann stiess ich bei Walter Benjamin auf folgendes französische Gedicht und merkte: Das ist ein Beispiel, an dem ich es vielleicht bildhaft zeigen kann.

Car il me plaist pour toy faire ici ramer
Mes propres avirons dessus ma propre mer,
Et de voler au Ciel par une voye estrange,
Te chantant de la Mort la non-dite louange.“

Pierre Ronsard: Hymne de la Mort
A Louys des Masures

Ich beherrsche die französische Sprache wahrscheinlich etwa auf dem Niveau B2, der Text gibt mir ähnlich viele Rätsel auf wie manche deutschsprachige Gesprächsfetzen, die ich am Alltag so mitbekomme. Ich scheitere schon im ersten Vers: Was heisst „ramer“? In guter Schwerhörigen-Manier versuche ich, die Bedeutung des Wortes aus dem Kontext zu erschliessen: Hier wird ein „Du“ angesprochen, es herrscht eine gewisse Intimität – zugleich haben wir aber die blaue Weite eines Meeres und des Himmels. Und „plaist“ muss eine alte Form von „plaît“ sein, „es gefällt“, das Gedicht könnte also mehrere hundert Jahre alt sein. Erst denke ich: Das ist jetzt etwas wolkig, aber es muss genügen, sonst komme ich in diesem dicken Band nie vorwärts.

Doch dann hole ich das Handy und lasse mir „ramer“ übersetzen. Es heisst „rudern“, und „mes propres avirons“ sind „meine eigenen Ruder“. Dass ich das jetzt verstehe, lässt mich die Situation ganz neu und mit verblüffender Schärfe sehen. Das passiert mir oft bei Gesprächen, in denen ich die Laune der Sprechenden und der Hörenden errate und vage das Thema – und dann geradezu erschrecke, wenn mit später klar wird, was jemand tatsächlich gesagt hat. Sprachverständnis ist durch nichts zu ersetzen.

Nehmen wir jetzt an, ich würde mit fünf Personen an einem Tisch sitzen, die Französisch akustisch und semantisch gut verstehen. Sie alle würden diesen Text vorgelesen bekommen. Klar, danach würden sie sofort zu diskutieren beginnen. Wenn ich jetzt mitdiskutieren und somit volle Inklusion will und frage, was „ramer“ heisst und was „mes propres avirons“ sind, dann müssten sie das Gespräch komplett neu organisieren, ganz allein für meine Wenigkeit. Vielleicht rudere ich dann doch lieber alleine.

Denn wenn ich nicht nachfrage, haben sie unter sich bereits angefangen, weitere Rätsel im Text zu lösen, zum Beispiel: In welchem Jahrhundert lebte Pierre Ronsard? Wer war Louis des Masures? Vielleicht bekomme ich davon dann auch Gesprächsfetzen mit und habe wenigstens zum Teil etwas vom Gespräch.

Zitiert aus dem Passagenwerk von Walter Benjamin, S. 301

Schwerhörig: Mit dem Mikrofon in den Buchclub?

Soll ich als hochgradig Schwerhörige meinen Kolleginnen und Kollegen im Buchclub immer wieder sagen, dass ich schlecht höre? „Unbedingt, und nicht nur das“, findet meine Kollegin, Frau Wolf, selbst hochgradig schwerhörig. Sie ist ebenfalls in einem Buchclub und nimmt an alle Sitzungen ein Mikrofon mit. Stets achtet sie darauf, dass es im offiziellen Teil der Sitzung konsequent bei jeder Wortmeldung weitergereicht wird und alle Sprechenden es benutzen.

Ich weiss nicht recht“, sage ich. „Ich verstehe rund 40 Prozent von dem, was gesagt wird. Oft reicht das. Und viele Frauen kommen nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Buchclub, und nachdem sie ihre Kinder versorgt haben. Die wollen einfach ein bisschen Spass haben und nicht auch noch auf Leute wie mich Rücksicht nehmen müssen! Ja, wenn es eine berufliche Weiterbildung wäre, würde ich auf bestmögliche Teilhabe pochen. Aber im Buchclub?!“ Frau Wolf denkt nach und fragt: „Wie viele Teilnehmde sind es?“ Ich: „So 15 bis 20.“ Sogar Frau Wolf räumt ein, dass es da sehr viel Zeit brauchen würde, für jede Wortmeldung das Mikrofon herumzureichen.

Leben in der Trump-Ära: Bücher aus den USA

Wegen des Zoll-Wahnsinns von Donald Trump sollten wir jetzt keine Waren aus den USA mehr kaufen, heisst es. Bislang erschien mir das einfach. Ich wollte nie einen Harley Davidson, beim Whisky bevorzugen wir – wenn überhaupt – Marken aus den schottischen Highlands und Levi’s Jeans haben eh noch nie zu meinen Kurven gepasst. Vielleicht bestelle ich sogar Netflix ab, dachte ich, und X sollte ich mir sowieso endlich abgewöhnen.

Aber jetzt lese ich, „James“, den überwältigenden Roman des US-Autors Percival Everett. Er erzählt die Geschichte von Huckleberry Finn’s Mississippi-Reise aus der Sicht seines Schwarzen Begleiters Jim – pardon, James. Dieser ist ein entflohener Sklave und schildert eindrücklich, wie er und seine Leidensgenossen schon als Kinder lernen, sich auch sprachlich kleinmachen, um zu überleben. Sklaverei ist gewiss die entsetzlichste Form von Ungleichheit. Aber was Jim da erzählt, ist teils auch auf andere Machtverhältnisse anwendbar. Und: Der Roman ist auf bitterböse Art lustig.

Nein, auf Romane aus den USA will ich nicht verzichten, denke ich. Romanautorinnen und -autoren sind ja auch so selten Republikaner, denke ich. Wir müssen doch die Meinungsvielfalt ennet dem Atlantik aufrechterhalten helfen, denke ich. Ich will nach „James“ auch Mark Twain’s „Abenteuer von Huckleberry Finn“ wieder mal lesen. Dieses Buch werde ich mir aber doch in der Bibliothek besorgen. Und danach werden wir dann sehen, wie teuer uns die Förderung der US-Meinungsvielfalt zu stehen kommt.

Leben in der Trump-Ära: Im Buchclub

In der Englisch-Lesegruppe sass plötzlich eine Amerikanerin neben mir. Ich hatte sie zuvor noch nie gesehen. Dass sie Amerikanerin ist, hörte ich an ihrer Aussprache. Kaum hatte sie zum ersten Mal den Mund aufgemacht, rang ich gegen ein Gefühl, das ich zuvor noch nie gehabt hatte: hochschiessende Abneigung gegen einen Menschen, nur wegen seiner Nationalität.

Wir diskutierten lauwarm über ein Buch, das niemanden von uns so richtig angesprochen hatte. Plötzlich begann jemand, über eine Trump-Biografie zu sprechen, die er gerade liest. Laute des Unmuts wurden hörbar. Die Amerikanerin beeilte sich zu sagen: „Ich habe ihn nicht gewählt.“

Schweizerdeutsch: Warum mache ich das hier überhaupt?

Ich bin keine Sprachpuristin. Ich habe kein Problem damit, dass sich Sprache verändert. Deshalb habe ich mich lange Zeit gefragt, warum ich plötzlich diesen Drang verspüre, verschwindende Vokabeln und Redensarten aus der Sprache meiner Eltern zu sammeln und in meinem Kopf noch einmal nachklingen zu  lassen.

Dann las ich „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“ des Franzosen Didier Eribon. Das Buch ist ein zugleich liebevoller und distanzierter Nachruf auf seine verstorbene Mutter, und er schreibt: „Ich werde nie wieder Gelegenheit haben, aus dem Mund meiner Mutter jene Wendungen zu hören, die sie so gern brauchte, ihren Tonfall, ihre (laute) Art zu reden, ihren Akzent, ihre regionalen Ausdrücke.“* Dazu muss man wissen, das Eribon in Reims in einer Arbeiterfamilie aufwuchs, dann nach Paris ging und als Soziologe und Journalist europaweit bekannt wurde. Er schuf eine grosse Distanz zwischen sich und seiner Herkunft. Nachdem seine Mutter gestorben war, vermisste er jedoch ihre Sprache so sehr, dass er sogar ein Dialektwörterbuch der Gegend von Reims kaufte – in der Hoffnung, beim Lesen dieses Buches „besser zu verstehen, wer seine Mutter gewesen war“, quasi in der Sprache ihren Körper, ihren Gestus, ihren Habitus noch einmal zu rekonstruieren.

Eribon nervt teils, weil er ein solches Tamtam um seinen sozialen Aufstieg macht und um die Sprache, die in Paris die seine wurde. Ich wohne Luftlinie nur drei Kilometer von meinem Elternhaus entfernt und lebe in einem Milieu, das jenem meiner Eltern zum Teil ähnlich ist. Aber es sind halt vierzig Jahre vergangen, seit ich bei ihnen wohnte. Unsere Umgangssprache hat sich verändert. Und doch tue ich etwas sehr Ähnliches wie Eribon. Während mein Vater im Talgrund immer unbeweglicher wird, sitze ich da und sammle die Redensarten meiner Kindheit. Als könnte ich ihm damit noch einmal auf sein Töffli setzen.

Wenn ich sie für meinen Blog notiere, merke ich aber auch: Für für meine mehrheitlich nichtschweizerische Leserschaft ist halt doch eine erweiterte Vorgehensweise nötig. Aber darüber ein andermal mehr.

*Didier Eribon: „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“ : Suhrkamp, 2024

 

Im Namen aller Mütterchen in Beige

In den Jahren zwischen 50 und 59 fühlte ich mich beinahe sicher vor den  ungebetenen Tipps irgendwelcher Lifestyle-Päpstinnen. Aber kaum rückt der 60. Geburtstag näher, diskutieren wir plötzlich über Longevity oder über die Frage: Was heisst gut altern?

Neulich las mir Herr T. eine Passage des Buches „Altern“ von Elke Heidenreich vor, die ich selbst gnädig überlesen hatte. Die 81-jährige Autorin schreibt: „Ich sehe um mich herum Frauen, die anders altern als ich, und manchmal, wenn nach Lesungen eine Frau beim signieren zu mir sagt: ‚Wir sind derselbe Jahrgang‘, und ich sehe hoch, und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin nicht ich.“*

Sofort empörte sich mein Herz für alle „Mütterchen in beige“, obwohl ich selbst kein einziges beiges Kleidungsstück besitze. Ich wurde richtig laut und sagte schliesslich das, was ich zu Fragen des Kleidungsstils schon mein ganzes Leben lang sage: „Jede und jeder lebt nach bestem Wissen und Gewissen sein bestmögliches Leben!“ Mit 59 Jahren Lebenserfahrung würde ich einräumen, dass es gierige und zynische Menschen gibt. Aber die erkennt auch die Lifestyle-Päpstin nicht unbedingt an der Farbe der Bekleidung.

*Elke Heidenreich: „Altern“, Hanser Berlin, 2024, S. 62. Um eins klarzustellen: Ich möchte keiner Person die Lektüre vergällen, die das Buch vielleicht bald lesen wird. Es stehen auch einige sehr gute Dinge drin!

Gemeinsam lesen: Fünf Bücher des Jahres 2024

2024 fanden 52 Titel den Weg auf meine „gelesen“-Liste. Einige waren grossartig, andere habe ich schon fast wieder vergessen. Das Besondere an diesem Jahr: Ich habe diesmal mehr Bücher als sonst zusammen mit Freund*innen oder Verwandten gelesen. Um diese Lektüren ranken sich Geschichten, von denen ich hier zum Jahresausklang fünf erzählen möchte:

In unserer Nachbarschaft tobte 2024 das Bannalec-Fieber. Auf ihre letztjährige Bretagne-Reise angesprochen, lieh uns das Paar schräg übers Eck die „Bretonische Flut“ und einen weiteren Bannalec-Titel aus. Auch Herr und Frau Buddha planen gerade eine Tour bis hinaus nach Ouessant, und Frau Buddha, eine grosse Krimileserin, preschte deshalb in kürzester Zeit durch sämtliche Bannalec-Bände. Herr T. wiederum las die beiden Titel, die wir bekommen hatten (hier seine Impressionen). Ich fremdelte. Ich konnte einfach nicht ignorieren, dass sich im Wort „Bannalec“ das Wort „banal“ versteckt. Ich las dann doch diesen einen Roman des deutschen Bretagne-Verehrers und war angenehm überrascht: Er schildert das Licht, die betörenden Farben und die landschaftlichen Schönheiten der bretonischen Südküste so hingerissen, dass ich das alles selbst in der Erinnerung neu zu sehen begann.

Ein paarmal im Jahr besuche ich einen englischsprachigen Buchclub im steuergünstigen Nachbarkanton Zug. Es gibt in Zug mehr Expats als in Luzern und deshalb überhaupt genügend Leute, die an einem English Book Club interessiert sind.  T. C. Boyle’s Klimawandel-Gesellschaftsroman bekam von mir Bestnoten. Er ist hemmungslos spannend („Wen oder was wird die gruselige Pythonschlange aus dem ersten Kapitel fressen?!“). Und er zeigt, was wir alle tun angesichts des Klimawandels: Nichts. „Was sollen wir auch tun? Es liegt doch alles daran, dass wir einfach zu viele sind“, sagte eine der Teilnehmerinnen. Sie blieb unwidersprochen. Viele teilten ihre Meinung, ich fühlte mich zu schwerhörig, um mich mit ihr anzulegen.

Dieses Bändchen gehört auch heute noch zum Pflichtlesestoff für Germanistik-Studentinnen. „Komm, das lesen wir wieder mal!“ rief Paulina, als wir im Sommer darauf zu sprechen kamen. Wir haben beide eine Behinderung, deshalb können wir uns mit einem Taugenichts identifizieren. Wir wollten sogar eine ad hoc-Lesegruppe mit einem jungen Nachbarn Paulinas gründen. Aber der Junge schaffte es dann gar nicht durch das Büchlein. Ich zwar schon, aber ich wurde nicht warm damit, fand nur die Liedtexte schön, alle grossen Themen darin verschenkt, und sagte: „Das ist ja wie ein Musical! Viele Songs, aber sonst sehr oberflächlich.“ Paulina aber berichtete, Thomas Mann sei ganz begeistert gewesen über die Pflichtvergessenheit und die Ablehnung des Nützlichkeitskalküls durch Eichendorffs Protagonist. Ich muss wohl den Tatsachen ins Auge schauen, ich tauge nicht zur Germanistin.

Das bergige Land, aus dem mein Vater stammt, kann gruselig sein. Es gibt Sagen über Ungeheuer, die in den Tälern des Napfgebietes ihr Unwesen treiben. Darauf fusst dieser Krimi, mit dem er sich die ersten Monate vom tristen, neuen Dasein im Talgrund ablenkte. Das Buch wurde für die ganze Familie Pflichtlesestoff. Meine Mutter fand: „Ja, sehr unterhaltsam. Aber wenn die Luzerner Kriminalpolizei wirklich so ermittelt, wie das hier steht, dann gute Nacht!“ Mich hatte Autorin Mansour in der Tasche, als ich die Namen der drei alten Herren am Stammtisch der Beiz in Willisau las: Wermelinger, Hüsler und Aregger. „Der Lokalkolorit stimmt!“ freute ich mich. Nur mit dem Schluss war ich unzufrieden: Die psychologischen Probleme der Täterfigur nehme ich dem Buch nicht ab. Mein Vater jedoch w¨ünschte sich gleich Mansours Gesamtwerk zum Geburtstag, meist Krimis, die im Kanton Luzern spielen.

„Tim ist ein grosser Fan von Anna Rosenwasser“, verriet mir die Mutter meines Gottenbuben. Er folgt der 30-jährigen, queeren Aktivistin auch auf Instagram (@annarosenwasser). So schenkte ich ihm die Kolumnen-Sammlung der Zürcherin zum 19. Geburtstag. Ich wollte mit ihm über die SP-Politikerin diskutieren, denn diskutieren tun wir gern, auch kontrovers. Für mich wurde die Frau zur Provokation, als sie überraschend in den Nationalrat gewählt wurde und sich dann zierte, die Wahl anzunehmen. Tim steckte das Buch in eine erstaunlich grosse Innentasche seiner Jacke (in Sachen Modebewusstsein ist er mir um Lichtjahre voraus). Er las immerhin die Hälfte, diskutieren taten wir jedoch über viele andere Dinge. Mir (59) gefiel es, beim Lesen mitzubekommen, wie die Kolumnen im Buch zunächst noch etwas hölzern sind, wie die Autorin dann aber allmählich ihren ganz eigenen Ton findet.

 

 

Warum nur finden manche den Mississippi magisch?

Vor ein paar Jahren machte ich mit meiner Freundin Helga in Deutschland einen Ausflug nach Speyer. Sie zeigte mir den goldenen Hut im Museum, dann schlenderten wir zum Auto zurück. „Dort hinten liegt der Rhein“, sagte sie beiläufig. Ich sofort: „Oh, da will ich unbedingt hin!“ Sie sah mich befremdet an. „Da gibt es aber nicht viel zu sehen“, meinte sie. „Das ist einfach ein Fluss.“ Ich grinste: „Du bist kein sehr reisefreudiger Mensch, oder?“ Ich gab keine Ruhe, bis wir am Rhein standen und ich die Hand ins Wasser getaucht hatte. Mich beglückte die Vorstellung, vielleicht einen Tropfen am Finger zu haben, der 350 Kilometer flussaufwärts durch meine Heimatstadt Luzern geflossen war. Denn durch meine Heimatstadt fliesst die Reuss, und die wiederum mündet bei Brugg im Aargau in die Aare – und die wiederum etwas weiter nördlich in den Rhein.

Die Episode ging mir durch den Kopf, als ich „Iowa“ von Stefanie Sargnagel las. Die 38-jährige Autorin schildert darin ihren „Ausflug nach Amerika“ mit der Musikerin Christiane Rösinger im Jahre 2022. Zunächst sitzen die beiden in einem Unort namens Grinnell fest. Aber dann werden sie eines Autos habhaft, und plötzlich tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Bei näherer Betrachtung klingen allerdings auch diese Möglichkeiten recht banal, halt das, was die Touristin so macht. Bis die Idee auftaucht, an den Mississippi zu fahren. „Mit einem Mal verklärt sich Christianes Blick“, schreibt Sargnagel (S. 137). „Etwas ist entfacht“ bei der Freundin. Stefanie erwidert trocken: „‚Ok, dann machen wir Mississippi, ist notiert.'“

Das tun sie dann auch. Sie erreichen den Strom bei Dubuque im Staate Iowa. Dort ist Christiane „glücklich und streckt ihre Nase in den Wind“. Stefanie dagegen findet alles hier „zubetoniert und deprimierend“ und hat auch noch Menstruationsschmerzen. Sie reisst sich dann aber zusammen und erzählt eine magische Anekdote über Christiane und den Fluss und die Pelikane am Fluss, die sie vielleicht gesehen haben und vielleicht auch nicht. Warum nur fühlen manche Menschen den Sog, den nur schon der Name eines Flusses haben kann und manche nicht?

Stefanie Sargnagel: „Iowa – ein Ausflug nach Amerika“, Rowohlt Verlag, 2. Auflage, 2024

Geert gegen Geert – zu den Europawahlen

Geert Wilders, Rechtspopulist; Jahrgang 1963 (Quelle: Wikipedia)

Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.

Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.

Geert Mak, Journalist, geboren 1946 (Quelle: geertmak.nl)

Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?

Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.

Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute  auslassen, Grund: der Brexit.

Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.

Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.

Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.


Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.

Wie ich eine Frau wurde

Als ich „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler zum ersten Mal las, durchquerte ich das Buch so eilig wie man einen Bahnhof im Umbau durchquert, Wände voller Gerüste, Räume voller Lärm. „Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion“, schreibt Butler (S. 209). Aha. Mir hatte der Feminismus nicht nur ein „Wir“, sondern sogar ein Ich geschenkt. Ich erklärte Butler zum Nicht-Ort der feministischen Auseinandersetzung, eilte zum nächsten Zug und fuhr woanders hin. Aber seit ein paar Jahren ist dieser Bahnhof ein fertig ausgebauter Verkehrsknotenpunkt der Gender-Debatte. Daher hielt ich diesmal inne und betrachtete Fassaden, Stützpfeiler und Fahrpläne genau.

Ich sah mir Butler’s These an, dass der herrschende Diskurs das Körper zu Männern und Frauen formt, und dass es mehr als zwei Geschlechter und ein frei schwebendes Begehren geben könnte. Ob es das biologische Geschlecht in Wirklichkeit gibt oder nicht – Butler schreibt sich um diese Frage herum, egal, was sie später behauptete (siehe zum Beispiel hier). Sie interessierte sich für den „herrschenden Diskurs“ und jene, die in irgendeiner Form von der Binarität abwichen. Das hatte und hat seine Berechtigung. Aber ist das ein feministischer Ort? Nicht unbedingt.

Dennoch liess ich im Namen der Gender-Debatte die Szenen meiner eigenen Frauwerdung Revue passieren, die himmlischen und die hässlichen. Ja, es gab hässliche Szenen. Ich muss es deutlich sagen: Teenager Frogg hatte eine Phase der Genderdysphorie. Als ich zwölf war, schleppten meine Mutter und meine Grossmutter mich und meine schmerzenden Brüste in den Lingerie-Laden und zwangen mir den ersten Büstenhalter auf den Leib. „Hör auf zu jammern, Du hast ja einen Busen wie einen überhängenden Balkon! Glaub mir, Du wirst Dich so an  den BH gewöhnen, dass Du bald nicht mehr ohne kannst“, sagte meine Mutter. Als ob mich das davon hätte überzeugen können, dass ich so ein Gstältli* brauchte. Und das war nur das, was sich an der Oberfläche abspielte.

Aber damals sagte man nicht: „Genug! Ich bin ab jetzt ein Junge und kein Mädchen. Die Brüste müssen weg!“ Ich gewöhnte mich an den Büstenhalter und basta. Damit will ich mich nicht zum Opfer stilisieren. Auch die Mannwerdung war vor 40 Jahren Jahren kein Zuckerschlecken, mit 20 mussten sie alle ins Militär. Und was Lesben und Schwule damals durchmachten, war mitunter schwierig, das habe ich in meinem Bekanntenkreis mitbekommen. Auch wenn es allmählich leichter wurde, offen homosexuell zu leben. Ungefähr 2002 begegnete ich erstmals einer Trans-Frau. Trans-Männer kenne ich noch heute nur vom Hörensagen.

Heute bin ich froh, dass meine Mutter und meine Grossmutter mich damals in den Lingerie-Laden und nicht zum Arzt schleppten. Ich bin froh, dass ich keine Pubertätsblocker nahm und dass ich meine Brüste noch habe (und weiss spätestens seit 2022, dass ich mich nie freiwillig einer Brustoperation unterziehen werde). Ich bin froh, dass ich kein Coming-out als Trans-Mann durchmachen musste. Ich habe grossen Respekt vor Trans-Menschen, die das alles gemacht haben und dabei stärker geworden sind. Aber ich bin eine Frau, und in meinem Leben gab es auch viele himmlische Momente. Und deshalb wünsche ich allen Teenager-Mädchen mit BH-Aversion jemanden, der zuerst einmal zuhört und nachfragt, was unter der Oberfläche wirklich los ist.

*Ein Gerüst, das den Körper stützt oder einengt, etwa ein Klettergurt oder ein Hundegeschirr.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991