Schweizerdeutsch 15: Ab in die Disco

Töffli

Hochdeutsch: Mofa

Mofa mit Windschutz (Quelle: velos-motos-keller.ch)

Erläuterungen: Wie die meisten anderen aus meiner Gymi-Klasse fuhr ich mit dem Velo – also dem Fahrrad – zur Schule. Mein Vater aber besass Puch Maxi – und manchmal, wenn ich am Wochenende in die Disco ging, lieh er mir das Fahrzeug. So ratterte ich in die Luftschutzkeller und Mehrzwecksäle unserer Agglomeration und tanzte dort zu Deep Purple und Jimi Hendrix, zu The Clash, Lou Reed, David Bowie und Bob Marley. Das Töffli  war leider gar nicht schnittig, denn es hatte einen Windschutz. Vor der Heimfahrt stellte ich mich deswegen immer gutgelaunt dem Spott der Kumpels – schliesslich sind alle Eltern seltsam, nicht? Es gibt übrigens in der Schweiz nicht nur Töffli, sondern auch Töffs – die haben dann 125 Kubikzentimeter oder mehr. Auf die Idee zu diesem Beitrag bin ich dank der Kätzerin gekommen – auch wenn die Sache mit dem „Kracherl“ wohl auf einem Missverständnis beruht.

Unser neuer Blog

Vor einiger Zeit habe ich es bereits angetönt: Ich habe zusammen mit einer Freundin ein neues Blog-Projekt, das mit begeistert und fordert. Es geht dort um Feminismus. Der Blog heisst journal-f.ch. Mein neuester Beitrag dort dreht sich um den Film „The Substance“, einen Horrorstreifen über den Schönheitswahn im Showbusiness mit Demi Moore. Siehe hier, mehr zum Blog dann ein andermal. Für persönlichere Themen bleibe ich hier.

Die Lage im Nahen Osten

Nachdem ich meinen letzten Post abgesetzt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich meine: Es war der 7. Oktober, die Welt gedachte der Anschläge der Hamas in Israel 2022 und ich hatte kein Wort darüber verloren. Als wäre es mir egal. Aber es ist mir nicht egal. Ich möchte weinen, wenn ich an die Opfer denke. Was sind das für Bestien, die unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten töten oder als Geiseln verschleppen?

Ich bin nur nicht sicher, was ich schreiben soll. Obwohl die Lage im Nahen Osten ein Thema ist, seit ich mich erinnern kann. Zu Hause lief bei uns den ganzen Tag Schweizer Radio, stündlich die Nachrichten. Täglich hörte ich schon als Fünfjährige am Radio das Wort „Telawiif“ und wusste lange nicht, was es bedeutete. Erst mit der Zeit lernte ich, dass aus Tel Aviv die News über die Lage im Nahen Osten kamen. Tel Aviv, das hiess Kämpfe, Todesopfer, hastige Beschwichtigungsreisen von US-Aussenministern und UNO-Generalsekretären.

Beiläufig lernte ich das Wesentliche über Auschwitz. Mir zerstörte dieses Wissen jeden Ansatz eines kindlichen Gottvertrauens. Wenn Gott Auschwitz zugelassen hatte, dann war Gott böse, oder es gibt ihn nicht. Ich wuchs in einer katholischen Gegend auf, es gibt hier einen tief sitzenden Antisemitismus, der auch Israel trifft. Vor allem Israel. Damit wollte ich nie etwas zu tun haben. Wohin es führt, wenn man pauschal gegen bestimmte Gruppen von Menschen ist, hatten wir ja gesehen. Die Israelis haben ein Recht auf ihren Staat. Aber ich sah mich gerne auf der Seite der Unterdrückten, Benachteiligten. Im Nahost-Konflikt sollte ich alle paar Jahre die Seiten wechseln.

In der Schule lernten wir: Nach dem Horror von Auschwitz gab die UNO den Zionisten ein paar Territorien für einen eigenen Staat in Palästina. Die arabischen Staaten rundum bekämpften die Israelis, aber diesen gelang es, ihre Territorien auszudehnen. Die Palästinenser kamen unter die Räder. Ich begab mich auf die Seite der Palästinenser. Als Teenager besass ich sogar eines dieser rotweiss gemusterten Tücher.

1986 flog ich nach Tel Aviv. Ich war 21. Mein damaliger Freund studierte in Jerusalem Theologie. Ich hatte einen Wecker und ein Büchlein von Noam Chomsky im Gepäck, einem harten Kritiker der US-Politik im Nahen Osten (auch noch viele Jahre später, siehe hier). Als ich ankam, schenkte mein Freund mir eine Kerze. Drei Wochen später wollten wir in Haifa mit dem Schiff ausreisen. Die Zollbeamten sahen die Kerze, den Wecker und das Büchlein von Noam Chomsky. Sie nahmen meinen Koffer mit und blieben so lange weg, dass wir das Schiff erst im allerletzten Moment und mit zittrigen Knien besteigen konnten. War es eine Machtdemonstration oder hatten sie wirklich Angst?

Ich war vage pro-palästinensisch, bis ein Kollege aus Tel Aviv bei uns im Büro zu Besuch war. Er war nach der Pensionierung ausgewandert. Das war nach 9/11. In Israel hatten Palästinenserinnen und Palästinenser begonnen, Sprengstoffgürtel an ihren Leib zu kleben und sich in Jerusalem oder Haifa in die Luft zu jagen. Mein Kollege erzählte, wie er in Tel Aviv jedes Mal voller Angst aus dem Bus floh, wenn ein arabisch aussehender Mensch mit einer dicken Jacke einstieg. Ich dachte: Die Palästinenser tun aber auch alles, um ein friedliches Zusammenleben in der Region zu verunmöglichen. Selbstsabotage. Wie war Friede möglich, wenn der gute Wille auf beiden Seiten so zweifelhaft schien? „Es ist kompliziert“, sagte ich einmal. „Wenn ich noch lange darüber nachdenke, werde ich wahnsinnig.“

Nach dem 7. Oktober 2022 war ich fest auf der Seite der Israelis. Dann kam die Rache im Gaza-Streifen. Jetzt die Eskalation im Südlibanon. Und allmählich fürchte ich, dass es vollkommen sinnlos ist, auf einer Seite zu stehen. Man kann nur das Beste hoffen für jene, die jetzt unschuldig unter die Räder kommen.

Diese unsagbare Wehmut

Am Morgen lese ich jetzt oft noch drei, vier Seiten aus einem Reisebericht von Patrick Leigh Fermor. Man darf sich in diesen Tagen nicht schon um 8.30 Uhr von den News erschlagen lassen. Ich lese, wie der Brite am Ostersonntag 1934, gerade 19-jährig, aus der ungarischen Stadt Esztergom aufbricht und donauabwärts wandert. Vor wenigen Tagen ist das Eis auf dem Fluss geborsten, tags zuvor sind die Störche aus dem Süden zurückgekehrt, es ist magisch. Und kaum hat Fermor die Stadt verlassen, ist da nur noch Natur im Frühlingsrausch. Er schreibt:

„Die Vögel sangen um die Wette, überall wurden fieberhaft Nester gebaut, Schwalben und Mauersegler schlugen ihre Haken am Himmel. Mehlschwalben besserten alte Bauten aus, Eidechsen huschten zwischen den Steinen, überall in den Binsen tauchten neue Nester auf, im Wasser wimmelten Fischschwärme, und die Frösche, die mit einem langen Sprung im Wasser verschwanden, wenn ein Fremder kam, waren sogleich wieder da, und es klang, als würde ihr Chor von Stunde zu Stunde um tausend neue Stimmen verstärkt; sie sorgten dafür, dass die Nistplätze der Reiher verwaist lagen, bis das letzte Abendlicht schwand.“*

Patrick Leigh Fermor
Während ich das lese, erhebt sich eine grosse Wehmut in mir, höher als der Raum, in dem ich sitze. Sie reicht bis in den Himmel, ich kann Schwalben sehen. Dann frage ich mich: Welches Stilmittel hat der Autor eingesetzt, um mir dieses Gefühl zu vermitteln? Ist es die schiere, episch dahinfliessende Länge des zweiten Satzes? Schwingt da Fermor’s Heimweh nach seiner Jugend mit (er stellte das Buch spät im Leben fertig, es erschien erstmals 1986). Oder Sehnsucht nach der Zeit, bevor der Eiserne Vorhang niederrasselte und dieses Flussparadies vom Westen trennte? Oder empfinde nur ich hier Wehmut? Habe ich einen Anfall von Solastalgie, also Trauer um die verschwundene Überfülle der Natur? Bin ich nur so wehmütig, weil dieser Text mich an einen viel neueren Text erinnert, über einen Fluss und eine Welt, in diesem Fall ganz sicher nach einer Katastrophe?

„Einst gab es Bachforellen in den Bergflüsschen. Du konntest sie in der bernsteinfarbeben Strömung stehen sehen, wo die weissen Ränder ihrer Flossen zart die Strömung fächelten. Wenn du sie in der Hand hieltest, rochen sie nach Moos. Poliert und muskulös und zapplig. Auf dem Rücken hatten sie wurmartige Muster, Karten der Welt in ihrem Werden. Karten und Labyrinthe. Von etwas, was man nicht rückgängig machen konnte. Nicht wieder in Ordnung bringen konnte. In den tiefen Schluchten, in denen sie lebten, war alles älter als die Menschen und summte vor lauter Geheimnissen.“**

* Patrick Leigh Fermor: „Zwischen Wäldern und Wasser“; Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2010 (S.26-7)
** Cormack McCarthy: „The Road“; Picador Paperback, London, 2007 (S.307-8, meine Übersetzung)

Der Mississippi-Mythos

Ungefähr so sieht der Mississippi in meiner Erinnerung aus (Quelle: www.nature.org)

Allen herzlichen Dank für die Kommentare zum Mississippi-Beitrag von gestern! Nicht nur Christiane Rösinger und ich sind der Mississippi-Magie verfallen, so viel ist nun klar! Ja, Mississippi ist ein wohlklingendes Wort – deshalb und aus vielen anderen Gründen wurde der Ol‘ Man River wohl so oft besungen, ist einer der ganz grossen Mythen der USA. Er ist der alte Mann, der immer weiterfliesst, von der leidvollen Maloche der Schwarzen an seinem Ufer völlig unbeeindruckt. Ein Symbol für die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den Menschen, für Dauerhaftigkeit und ewige Veränderung zugleich.

Auch per Whatsapp habe ich eine Rückmeldung mit Lieblingssong bekommen: „The River“ von Bruce Springsteen. Auch ich hätte „The River“ als meinen zweitliebsten Mississippi-Song bezeichnet. Ironischerweise ist der titelgebende Fluss aber wohl nicht der Mississippi, sondern der Conemaugh River in Johnstown, Pennsylvania. Doch egal: Auch der Conemaugh River mündet in einen Fluss, der im Mississippi mündet. Auch hier: Der Fluss als Ort, der bleibt, der einen sein ganzes, unerfülltes Leben lang an die Träume erinnert, die man einst hatte.

Mein meistgeliebter Mississippi-Song ist aber „When the Levee Breaks“. Von Led Zeppelin zur verstörenden Rock-Apokalypse gemacht (hier der Link zum Song), handelt es sich eigentlich um einen Blues-Klassiker aus den 1920er-Jahren (hier die Version von Memphis Minnie von 1929). Er erinnert an die grosse Flut im Mississippi-Delta im Jahre 1927. „Die ganze Nacht sass ich auf dem Deich und habe gestöhnt. Wenn der Deich bricht, haben wir kein Zuhause mehr.“ Man denkt in diesen Tagen an Österreich, an Italien, an Polen.

All diese Songs höre ich heute leider nur noch als sinnlosen Geräuschbrei. Aber ich erinnere mich an einen Tag Anfang Juli 2005, als Herr T. und ich von New Orleans nach Chicago flogen. Herr T. liess mich am Fenster sitzen, und so sah ich unter mir den Mississippi wie eine silbrig-braune, riesige Schlange, die sich durch ein riesiges, rötliches Amerika wand. Das ist meine eigene Teilhabe am grossen Mississippi-Mythos, die mir bleibt.

Aber je länger ich darüber nachdenke, desto besser verstehe ich, dass Stefanie Sargnagel simple Teilhabe am Mississippi-Mythos zu billig ist. Dass sie sich nicht erheben lassen und dabei übersehen will, dass im Grunde alles ganz anders ist. Dass die USA ein ziemlich kaputtes Land sind.

Ein Geschenk von Herrn T.

Ich habe oft über Herrn T.’s Grossvater nachgedacht. Sie nannten ihn Fred Feuerstein, und er starb, lange bevor ich meinen Mann kennenlernte. Fred war ein Deutscher in der Schweiz, der 1942 mit Ehefrau und Tochter nach Grossdeutschland auswanderte. Was mag ihn dazu bewogen haben? War er ein begeisterter Nazi oder ein Opportunist mit selektiver Wahrnehmung? War er auf der Flucht vor Schweizer Gläubigern oder einfach glücklich über die Traumstelle im Tirol? Was dachte er über die Menschen, die in Zügen nach Osten aus Deutschland verschwanden? Wie kann man so in die Irre gehen wie Fred Feuerstein in die Irre ging?

Kaum war er in Österreich, wurde er eingezogen. Er landete als Fahrer im besetzten Frankreich. Von dort aus schrieb er Briefe an Frau und Tochter. Sie geben kaum Antworten auf meine Fragen. Aber sie erzählen – trotz gelegentlicher Interventionen der Reichszensurstelle in Berlin – viel über sein Leben als Wehrmachtsoldat in der Bretagne. Wir wollten in Frankreich seinen Spuren folgen, verloren aber den Elan dafür. Ironischerweise führte mich jedoch der Zufall genau in seine Fussstapfen, als ich mich in Plouharnel verirrte. Denn in diesem Dorf am Meer war Fred am Schluss stationiert. Daran erinnerte ich mich aber erst wieder, als Herr T. mir ein Geschenk machte, alle meine alten Blogbeiträge über seinen Grossvater sammelte und in seinen Blog stellte. Hier nachzulesen.

Ende Ferien – und jetzt?

Am Abend des 5. Juli kehrten wir aus den Ferien zurück. „Ich hoffe, dass ihr noch lange von diesem Aufenthalt hier zehren könnt“, schrieb meine Schulfreundin Mélanie aus Frankreich. Ihre Tochter hat einen Studienplatz, ich bin stolz auf die junge Frau, obwohl ich sie nur als kleines Mädchen kennengelernt habe. Und ich habe von dieser Reise gezehrt, habe mich mit Schreiben abgelenkt vom Horror in den USA. Mein bretonisches Epos hat mir Freude gemacht. Viele Erlebnisse haben erst in der Erinnerung und beim Nachrecherchieren Sinn und Kontur bekommen.

Auch Herr T. hat unsere Bretagne-Reise „verbloggt“, hier der Link. Herr T. gibt einen ruhigen und sorgfältig gestalteten Überblick über unsere Reise – und er hat tolle Bilder. Bei unserer Reise wurde auch offenkundig: Er ist fitter als ich. Seine Kräfte überschäumen beim Reisen; meine reichen oft nicht mehr an meine Neugier heran. Wir beide müssen lernen, damit umzugehen.

An meinem dritten Arbeitstag wurde das heisse Sirren in meinen Ohren zu einem Hörnachlass. Man weiss nicht, woher das kommt. Von Stress? Von den hier in der Schweiz deutlich höheren Temperaturen? Dass ich das Sirren in meinem Kopf in St. Malo als Warnung wahrnahm, könnte seine Berechtigung haben. Ich habe mich seither wieder erholt, glaube ich jedenfalls, aber leichte Schwankungen bleiben.

Quiberon: Glanz und Elend

Aus dem Film „Drei Tage in Quiberon“, Romy Schneider, gespielt von Marie Bäumer. Foto: Peter Hartwig.

1981 soll Romy Schneider hierhergekommen sein, um sich zu erholen. Drei Tage in Quiberon heisst der Spielfilm über diese Auszeit. Der Streifen thematisiert ihr Elend mit den Medien und den Menschen. Das Hotel, in dem der Film spielt, liegt auf der Südseite der Fast-Insel*. Dort ist es relativ windstill und das Meer wirft seine Wellen träge gegen die Strände. Man pflegt an diesem Küstenabschnitt einen eigenartigen Gegensatz: Die Hotels sind für gut Betuchte. Die drei, vier Klippen zwischen den Stränden jedoch befassen sich mit dem Scheitern. Ihre Namen erinnern an Schiffbrüche. Die Pointe Carl Bech etwa ist nach dem gleichnamigen norwegischen Schiff benannt, das 1911 mit einer Ladung Guano aus Peru vor Quiberon auf Grund lief.

Richtig wild ist das Meer auf der Westseite der Halbinsel. Dort donnert die Brandung ohne Unterlass gegen zerklüftete Felsen. Dorthin wollte ich an unserem ersten Tag in Quiberon. Auch ich benötigte Erholung. Ich war erschöpft bis zur Weinerlichkeit und fühlte mich auf merkwürdige Art meiner selbst beraubt. Bis zur Côte Sauvage war es nur ein paar Schritte von unserem Hotel. Gerade richtig, um aus dem Zimmer herauszukommen. Am Anfang stemmte ich mich gegen die Böen, weil man sich halt gegen Böen stemmt. Das Naturschauspiel interessierte mich wenig. Aber dann kamen wir an die Stelle, wo zwei Männer aus Quiberon ihr Leben verloren beim Versuch, zwei „imprudents“ zu retten, die sich zu weit auf die umtosten Felsen hinausgewagt hatten. In mir regte sich etwas wie Empörung gegen diese Unvorsichtigen. Und dann kam diese blaugrüne Bucht, wo wir zuschauten, wie sich die Flut Woge für Woge über Sand und Steine hocharbeitete. „Hätte Romy Schneider nur hierherwandern können! Das hätte ihr bestimmt gutgetan“, dachte ich. Ich jedenfalls fühlte mich erfrischt und wieder wie ich selbst.

*Presqu’île, also Fast-Insel, ist das neckische französische Wort für eine Halbinsel. Quiberon ist tatsächlich eine Fast-Insel, denn der Ferienort ist nur durch eine schmale Sandbank mit dem Festland verbunden.

Plouharnel: Der Mann an der Bushaltestelle

Die letzten Tage unserer Reise verbrachten wir in Quiberon. Von dort aus besuchten wir die 7000 Jahre alten Steinreihen in Carnac. Sehr eindrücklich. Unvergessen ist aber auch die Rückreise im Bus. Wir mussten in Plouharnel an einem Kreisel umsteigen, Wartezeit: 1 Stunde 25 Minuten. Eine Fahrt im Auto auf dieser Strecke dauert ohne Stau 18 Minuten. Es war noch Vorsaison, da fahren nicht so viele Busse. Der Bahnhof war 500 Meter vom Kreisel entfernt, man hätte zu Fuss dorthin gehen können, aber es fuhr ohnehin gerade kein Zug. „Oui, c’est n’est pas tres bien organisé“, sagte ein älterer Mann, der denselben Plan hatte wie wir. Er trug helle, saubere Kleider und eine fleckige Spiegelbrille. „Und den Zug nehme ich sowieso nicht“, sagte er, „der ist ja 5 Euro teurer als der Bus! Das kann ich mir nicht leisten.“ Er setzte sich auf die Bank im Plexiglas-Bushäuschen und schickte sich an, in aller Ruhe anderthalb Stunden zu warten.

Herr T. ging auf der anderen Strassenseite einen Cidre trinken, ich in Plouharnel spazieren. Ein malerisches Dorf mit winkligen Gassen. So kam ich zwar kurz vor Abfahrtszeit des Busses wieder aus dem Dorf heraus. Aber nicht, wie erwartet, am Kreisel mit der Bushaltestelle. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Nur, dass da ein anderer Kreisel war. Ich fragte jemanden nach der Busstation, wurde in eine Richtung gewiesen, eilte los, kam zum nächsten Kreisel – auch dort keine Bushaltestelle.

Was, wenn wir den Bus verpassten?! Was, wenn ich die Haltestelle nie finden würde und Herrn T. auch nicht mehr?! Ich meine, ich kann ihn nicht einfach mal schnell anrufen. Ich bin hochgradig schwerhörig, verdammt! Mein Herz klopfte, ich rannte kopflos nach links aus dem Kreisel. Da sah ich schon in der Ferne den nächsten Kreisel – und dort endlich ein Plexiglashäuschen … aber auf der falschen Strassenseite!

Doch dann sah ich im Häuschen den alten Mann mit der Spiegelbrille. Er hatte sich kaum bewegt, während ich panisch im Kreis herum gerannt war.

 

Lieblingsort: Quimper

Es gibt Orte in Frankreich, die nicht perfekt sind, nicht gepützelt und schon gar nicht protzig. Aber sie haben Charme, und ein paar wenige von ihnen fühlen sich so blütenleicht und duftig an, als hätte die Hand der Liebe sie eben erst berührt. So ein Ort ist die Stadt Quimper – und das schreibe ich, ganz ohne von einem Tourismusbüro gesponsert zu werden. Quimper hat ein Flüsschen mit vielen, kleinen Brücken; eine Altstadt mit Fachwerkhäusern; eine Kathedrale und viel Grün. Ein guter Ort, um einzukaufen oder zu flanieren. Es locken Kleiderboutiquen, geschmackvolle Souvenirläden, eine Markthalle mit Fisch, Gemüse und Käse und Konditoreien, deren Schaufenster übervoll mit Backwerk sind.

Kleine Bar, gleich neben Chez Max Bouillon

In der Altstadt gibt es in den Restaurants fast nur die beiden bretonischen Ur-Spezialitäten zu essen, Crêpes und Galettes. Lieber empfehle ich zwei Lokale mit dreigängigen Mahlzeiten, die wir zufällig fanden: Auf dem Weg zum Viertel Locmaria, berühmt für seine Porzellanmanufakturen, fanden wir das Resto à vins und assen dort ein köstliches, recht preiswertes Mittagsmenü. Und Chez Max Bouillon tafelt man zu ebenfalls moderaten Preisen mit dem Mund, dem Auge und dem Herzen. Max Jacob, Namenspatron des Lokals, war Bürger von Quimper, Gourmet, Avantgardist, Trauzeuge bei Pablo Picassos erster Heirat und starb als Jude 1944 in Nazi-Gefangenschaft. Das Restaurant liegt in einem lauschigen Altstadtwinkel nahe beim Fluss.

Benediktinerinnen-Garten in Locmaria

Meinen absoluten Lieblingsort aber fand ich bei einem Sonntagspaziergang am Fluss bei Locmaria. Ich war in melancholischer Stimmung, erschöpft von unseren Expeditionen am Meer und suchte Ruhe. In Locmaria gibt es auch ein altes Benediktinerinnenkloster mit einem öffentlichen Garten. Er ist etwas verwildert, aber sorgfältig beschriftete Tafeln erklären die Heilwirkung verschiedener Pflanzen (wenn auch nicht jene des Schlafmohns im Bild).