Londongrad

Roman Abramowitsch, Russe und bis letztes Jahr Besitzer des Fussballclubs Chelsea (Quelle: zdf.de).

Wenn man heute nach London fährt, muss man darüber sprechen, dass dort zahlreiche vermögende Russinnen und Russen leben – oder vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gelebt haben. Es waren so viele, dass die Stadt den Spitznamen Londongrad bekommen hat („grad“ heisst „Stadt“ auf Russisch). Laut BBC sollen es um die 100000 russische Staatsangehörige sein oder gewesen sein. Einige von ihnen gehören zu den vermögendsten Oligarchen Russlands, immer wieder liest man in diesem Zusammenhang die Namen Roman Abramowitsch, Alischer Usmanow und Andrej Gurjew. 1200 russische Staatsangehörige sind im Vereinigten Königreich mittlerweile sanktioniert. Seit Wochen durchforste ich das Internet, um mehr über diese Leute zu erfahren. Ich will meinem Patensohn – und wenn möglich seiner Schwester – berichten, was in der Stadt unserer Träume in Tat und Wahrheit vor sich geht. Die Recherche hat mir ein paarmal die Haare zu Berge stehen lassen und meinen Blick auf den Kapitalismus und die englische Kapitale ganz neu ausgerichtet.

Warum kamen so viele reiche Russinnen und Russen nach London? Diese Frage wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 18. März 2018 hier präzis beantwortet. Zusammenfassung: Putin-Freunde kamen, weil sie im Vereinigten Königreich problemlos ihr Geld anlegen konnten – die Behörden interessierten sich kaum für eine mögliche kriminelle Herkunft. Dazu kam in den neunziger Jahren das Goldene Visum: Wenn jemand mehr als 2 Millionen Pfund im Land zu investieren versprach, bekam er anstandslos eine Aufenthaltsbewilligung. Und dann sind da die renommierten Schulen, die tollen Partys und die tollen Läden.

Es kamen aber auch Putin-Gegner. Sie kamen, weil sie sich hier sicher fühlten vor dem langen Arm des russischen Diktators. Irrtümlich, wie sich in mehreren Fällen herausstellte. Einige starben unter mysteriösen Umständen oder wurden vergiftet. Das brachte auch Risiken für Jenny Normalverbraucherin mit sich, die zum Beispiel mal eben ein seltsames Parfümfläschchen fand.

Hier gibt’s eine bitterböse Satire der Schriftstellerin A. L. Kennedy darüber, wie Durchschnitts-Britinnen und Briten Londongrad kurz nach Kriegsausbruch erlebten. Bis vor kurzem konnte man auch eine Kleptokraten-Tour machen, über die ARD hier berichtete. Sie führte zu den Anwesen reicher Russen, findet jedoch aus unbekannten Gründen nicht mehr statt.

Ich werde aber versuchen, meinen Begleitern zu erklären, weshalb das alles so grauenhaft unfair ist: Weil die meisten Oligarchen den Grundstein ihres Reichtums mit Geld gelegt haben, das eigentlich allen Russinnen und Russen gehören würde – wahrscheinlich oft mit unsauberen Methoden. Das habe ich schon irgendwie gewusst, aber ich habe nicht so genau hingeschaut. Mittlerweile bin ich aber überzeugt, dass der ganze russische Staat auf mafiösen Strukturen aufgebaut ist – mit Wladimir Putin als oberstem Gangster.

Für die Menschen in Grossbritannien sind die Gäste aus dem Riesenreich durchaus auch eine Belastung. Sie machen das Leben in der Hauptstadt fast unerschwinglich. Russinnen und Russen haben zudem den Tories viel Geld gespendet, der Partei, die das Vereinigte Königreich seit langem regiert. Ex-Premierminister Boris Johnson kann sich noch so sehr als Freund der Ukraine aufführen. Fakt ist, dass seine Partei Spenden von Russen im Wert von Dutzenden Millionen Pfund erhalten hat (Quelle: ein sehr informativer Bericht des Schweizer Fernsehens: Hier). Ob die feinen Milliardäre wohl eine Gegenleistung dafür bekommen haben?

Doch nicht nur Russinnen und Russen leben in London in Saus und Braus. Der Buchautor Oliver Bullough sagt über das Geld, das in Londoner Immobilien und im Londoner Luxuskonsum steckt: „Es wurde aus Staaten gesaugt, die es wirklich, wirklich gut brauchen könnten, und die Reichen werfen hier damit um sich.“ Er nennt als Herkunftsländer dieser Hyperkapitalisten auch Angola, Nigeria und auch die Ukraine.

Sehr schnell stiess ich auf die Oligarch Files der englischen Zeitung The Guardian. Dort ist Roman Abramowitsch der meistgenannte Name. Kein Wunder, denn dieser besass von 2003 bis 2022 den Fussballclub Chelsea und verfügte auch über eine luxuriöse Villa in Kensington Palace Gardens. Er war dort Nachbar der Royal Family. Das Abramowitsch-Vermögen vor Kriegsausbruch wurde auf 17,3 Milliarden Dollar geschätzt. Wie er sich solche Unsummen zusammengerafft hat, erklärt dieser Bericht gut verständlich. Zusammenfassung: Der Milliardär hat sich um die Jahrtausendwende massiv an russischen Staatsbetrieben bereichert.

An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass Abramovitsch 2016 in die Schweiz ziehen wollte, jedoch von Bundesamt für Polizei abgewiesen wurde. Dieses urteilte Anfang 2017, „dass Abramowitschs Anwesenheit in der Schweiz als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sowie als Reputationsrisiko für die Schweiz einzuschätzen sei. Abramowitsch sei Fedpol wegen Verdachts auf Geldwäsche bekannt“ (soweit Wikipedia). Dennoch sind wir hierzulande nicht fein raus, denn Abramowitsch hatte laut einem im Januar 2023 im „Guardian“ publizierten Leak bis 2022 Vermögenswerte im Umfang von 920 Millionen Dollar unter anderem auf der UBS – einer Schweizer Bank.

Eines Tages werde ich über Kleptokraten in der Schweiz schreiben müssen. Aber das muss noch warten. Im Moment tue ich etwas anderes: Ich versuche aus diesem Wust von Informationen eine Londongrad-Tour zusammenzustellen. Hier habe ich schon mal eine brauchbare Skizze gefunden, hier gibt’s weitere Infos vom „Guardian“.

Bleibt die Frage, was aus dem FC Chelsea wurde nach den Sanktionen gegen Abramowitsch. Hier die ausführliche Antwort. Zusammenfassung: Der US-Multimilliardär Todd Boehly hat ihn jetzt gekauft, für 5,25 Milliarden Dollar. Es sei die teuerste Fussballtransaktion der Geschichte gewesen, heisst es.

Der London-Bus

Sie prägen das Londoner Strassenbild: die roten, doppelstöckigen Busse. (Quelle: TimeOut – wo man sich auch der Frage gewidmet hat, weshalb die Busse in London rot sind, siehe unten.)

In meinem letzten Beitrag über London habe ich es in meiner Phantasie bis auf den Vorplatz des Bahnhofs Charing Cross geschafft. Dort habe ich Herrn T. bewiesen, dass auf diesem Viereck der Mittelpunkt von London steht. Nun lasse ich den Blick weiter schweifen. Auf der Strasse vor dem Platz sehe ich etwas, was sehr wahrscheinlich auch bei meinem zweiten Begleiter, dem Gottenbuben Tim, sehr alte Erinnerungen wachrufen wird: die roten Busse, die dort in grosser Zahl vorbeiholpern.

Es könnte ein solches Fahrzeug sein, die seine Begeisterung für London begründet hat. Als er klein war, war er oft in unserer alten Wohnung zu Besuch. Dann musste ich ihn auf den Heizkörper stellen, damit er durch das Fenster zur 500 Meter entfernten Bahnlinie hinuntersah, die nach Zürich führt. Dann und wann ratterte dort ein zwar nicht roter, aber doch doppelstöckiger Schnellzug vorbei. Dann rief Tim: „Schau, ein London-Zug!“ Er muss einen doppelstöckigen Bus unter seinen Spielzeugautos gehabt haben.

Lustigerweise steht ein solcher roter Spielzeugbus auch am Anfang meiner lange Jahre bedingungslosen Liebe für die Kapitale des UK. Als ich zwei oder drei Jahre alt war, besuchte mein Vater zwecks Weiterbildung einen Sprachkurs in England, von wo er mir einen als Souvenir nach Hause brachte. Das Ding soll mein Lieblingsspielzeug gewesen sein – auch als es sich längst an der Sollbruchstelle zwischen den beiden Stockwerken zweigeteilt hatte und nur sehr unzulänglich mit Schnüren oder Klebstreifen zusammengehalten wurde.

Jahre später, als junge Anglistik-Studentin diskutierte ich einmal mit einem Kollegen über die Frage, woher unsere gemeinsame Obsession für das im Grunde recht unbedeutend gewordene Königreich kam. „Bei mir war es die Musik – und ein Bus“, sagte ich. Bei der Musik redeten wir von einem Horizont, der von den Beatles bis zu The Clash reichte – London Calling. Der Bus war vielleicht ein Symbol für die Liebe eines kleinen Kindes zum vorübergehend abwesenden Papa. Vielleicht aber einfach auch Sinnbild jener Skurrilität und Verrücktheit, die wir damals schon den Brit*innen andichteten. Heute kommt es mir vor wie der reine Irrsinn, dass solche Kriterien damals die Wahl unseres Studienfachs beeinflussen konnten. Aber es waren eben andere Zeiten.

Hier geht das Magazin TimeOut der Frage nach, warum der London-Bus rot ist.

Der Mittelpunkt von London

Eleonorenturm (Quelle: victorianweb.org)

Treten wir nun endlich auf den Vorplatz von Charing Cross. Denn erst dort kann ich den Beweis antreten, dass in Charing Cross der Mittelpunkt von London liegt. Hier befindet sich ein gotisch anmutender Turm. In jungen Jahren, 1985/86, beachtete ich ihn kaum. „Das sind nur alte Steine, und alte Steine sind für alte Leute“, dachte ich. Aber als neulich über über unsere kommende London-Reise nachdachte, dämmerte mir: „Jetzt sind Herr T. und ich ja alte Leute!“ Und dank Internet haben wir erst noch Möglichkeiten, uns Wissen zu verschaffen, das damals schwer erhältlich war. Wir finden die Säule leicht auf Wikipedia. Dort lernen wir: König Edward I. liess sie im Gedenken an seine Ehefrau Eleanor errichten. Diese starb 1290 mit 49 Jahren. Wobei man sich Edward nicht als gramgebeugten Witwer vorstellen sollte. Eleanor war eine derart skrupellose Geschäftsfrau, dass es sogar ihm  dann und wann unheimlich wurde. Er errichtete die Säule (und einige weitere) wohl eher, weil man eine bedeutende Königin auch angemessen würdigen muss.

Natürlich ist das alles auch ein bisschen Geschichtsklitterung: Die Säule stand früher etwas weiter westlich und sah auch sehr viel weniger gekünstelt aus. Ihre heutige Form fand sie im 19. Jahrhundert, als die Briten fleissig ihr mittelalterliches Erbe kopierten, ausbauten und ausziselierten.

Königin Eleanor (Quelle: Wikipedia)

Dennoch ist das Türmchen bedeutsam. Denn (ich zitiere aus der Wikipedia): „Distanzen zu anderen Orten werden in der Regel von jener Stelle aus vermessen, an der einst das originale Eleonorenkreuz errichtet worden war.“ Auch Behörden sahen es als Mittelpunkt ihres Geltungsbereichs. „So wurde 1828 beschlossen, dass die neu gegründete Metropolitan Police für alle Gebiete zuständig war, die innerhalb eines Radius von zwölf Meilen um Charing Cross liegen. Dieses Gebiet wurde 1839 um weitere drei Meilen ausgedehnt.“ 15 Meilen, Das sind 24 Kilometer. Da bekommt man ja gleich eine Ahnung von der Grösse der Stadt im 19. Jahrhundert. Und was, ja, was war London im 19. Jahrhundert? Genau. Der Nabel der Welt. Die Hauptstadt eines Reiches, in dem die Sonne nie untergeht. Die grösste Stadt der Welt – mit einer Bevölkerung, die im 19. Jahrhundert von 1 Million auf 6,9 Millionen wuchs. Ist dieser Ort demnach auch der damalige Mittelpunkt der Welt? „Oh nein“, sagt Herr T. zu Recht. „Der liegt, wenn überhaupt, im Osten von London, in Greenwich.“

Ohnehin haben die Zeiten sich geändert: „Spätestens seit 1965 ist Charing Cross als Bezugspunkt vollständig ausser Gebrauch geraten“, so Wikipedia. Die Londoner Polizei ist heute einfach für die 32 Stadteile von London zuständig. Eleanors Türmchen hat seine Bedeutung verloren. „Die einzige Ausnahme besteht bei der Taxi-Lizenzprüfung: Angehende Taxifahrer müssen alle Straßen innerhalb eines Radius von sechs Meilen um Charing Cross auswendig lernen.“

Am Tor von London

Die Bahnhofhalle von Charing Cross (Quelle: ianvisits.co.uk)

In der Bahnhofhalle von Charing Cross gibt es irgendwo ein blaues Täfelchen. Ihr wisst schon: ein Schildchen, wie sie an Häusern hängen, in denen früher jemand Bedeutendes gewohnt hat. Auf dem Schildchen steht: „Frau Frogg durchquerte diesen Bahnhof zwischen August 1985 und Juli 1986 ungefähr einmal pro Woche, meistens montags.“ Natürlich ist es ein virtuelles Täfelchen, nur ich kann es sehen. Aber es ist wahr, dass ich hier zu jener Zeit meist am Montag aus einem Zug stieg und die Stadt London betrat – und für mich war das bedeutend. Denn meine damals im Grunde sehr vagen Träume spielten sich alle in London ab – um sie ihrer Verwirklichung näherzubringen, kam ich an meinem freien Tag jeweils nach London. Ich arbeitete in einem Kinderheim südlich von Tunbridge Wells, etwas mehr als eine Zugstunde von London entfernt.

Wahrscheinlich schweben unter der Decke der Bahnhofhalle von Charing Cross Millionen solcher Schildchen. Denn Charing Cross ist ein grosser Pendlerbahnhof, allein im Jahr 2013 benutzten ihn 38,6 Millionen Menschen (sagt Wikipedia). Für Tausende jährlich muss der Gang durch diesen Bahnhof so bedeutend sein oder gewesen sein wie für mich damals – oder bedeutender, denn einige werden ihre Träume tatsächlich in London verwirklicht haben. Man muss sich diesen schwebenden Schildchenwald über den Köpfen der durchmarschierenden Zugpassagiere vorstellen wie die Kulisse eine Harry Potter-Films.

Manchmal kamen wir zu zweit oder zu dritt aus dem Heim im Süden, junge Frauen um die zwanzig, aus Deutschland oder Dänemark. Dann gingen wir zuerst in die Hamburger-Bude auf der Ostseite der Bahnhofhalle. Der Laden gehörte zu einer Kette, ich erinnere mich gut an das rötlichgelbe Logo, das immer etwas fettig aussah. Wir kauften dort je einen billigen Cheeseburger mit Rindfleisch. So bewiesen wir einander, dass wir auf die Essensregeln im Heim pfiffen. Dieses war anthroposophisch, es gab dort wenig Fleisch und wenn, dann Hühnchen. Rinderwahnsinn war ein grosses Thema, aber wir glaubten, das gehe uns nichts an.

Überhaupt kann ich in der Erinnerung schon diese Bahnhofhalle kaum verlassen. Abends standen dort oft zahllose Menschen, mehrheitlich Männer in Anzügen, und blickten mit gefassten Mienen alle in dieselbe Richtung: auf die elektronisch gesteuerten Tafel, auf der alle Züge und ihre Abfahrtszeiten standen. Sie warteten, bis auf dem Schild die Zahl des Gleises erschien, auf dem ihr Zug fuhr. Manchmal dauerte das mehrere Minuten. Dann gingen sie los und stiegen ein. Ich fand das sehr exotisch, denn bei uns steht kaum jemand einfach da und starrt so eine Zugsabfahrtstafel an. Ein paarmal habe ich es damals auch versucht – ich wollte wissen, ob ich so sein könnte wie die Menschen hier. Aber mir fehlte dafür die Disziplin. Ich streifte statt dessen ein bisschen herum und machte einen Rundgang in der Buchhandlung.

Aber wenn ich jetzt wieder hingehe, mit Herrn T. und der Jungmannschaft, dann werden wir nicht zu lange in der Bahnhofhalle verweilen, sondern hinaus auf den Vorplatz gehen. Denn dort steht ein Türmchen, das objektiv betrachtet das Zentrum von London ist oder wenigstens war.

Mit dem Patensohn nach London

Vor zwei Jahren schenkte ich mit meinem Gottenbuben Tim zum 16. Geburtstag einen Ausflug an den Lungerersee. Das ist jetzt für Teenager keine ganz so megageile Destination. Aber da war er schon zu einem sympathischen Teenager geworden, tiptop gestylt, mit dem sich auch leidlich plaudern liess. Ich war sehr angetan von ihm und fragte beiläufig: „Sag mal, es dauert ja jetzt nicht mehr so lange, da wirst Du 18. Was wünschst Du Dir denn dann?“ Er sagte: „Ich möchte mit Dir nach London.“

Gotte Frogg strahlte. Ich meine, mein Gottenbub will mit mir nach London! Gibt es etwas Besseres? Und das Beste ist: Wahrscheinlich klappt es. Das Glück hat uns eine gemeinsame Ferienwoche in die Agenda gezaubert.

Vor zwei Wochen hatten wir eine erste Planungssitzung. Wir werden zu viert sein. Herr T. und Tims grosse Schwester Julia kommen mit. Meine ersten Gedanken galten meiner Aufgabe, es allen recht zu machen. Und ich wusste nicht so recht, woher Tims Wunsch kam, mit mir nach London zu reisen. Etwa von seiner Mama Veronika, mit der ich vor 15 Jahren eine Reise dorthin gemacht habe (hier eine Geschichte, die ich mit nach Hause brachte)? Damals begleiteten uns unausgesprochene Diskussionspunkte über unsere Freundschaft und unsere Art zu reisen. Vielleicht erwartet sie heute, dass ich ihrem Sohn etwas für’s Leben mitgebe.

Mich treibt die Frage um, was die Jungmannschaft begeistern könnte. Die Wünsche sprudelten: „The London Eye! Madame Tussaud’s!“ Stadtgeograf T. guckte gelangweilt und machte seine eigenen Pläne geltend. Ich sprach: „Ok. Dann machen wir einen Tim-Tag, einen Herrn T.-Tag und einen Frau Frogg-Tag.“ Julia erwähnte eigene Pläne, aber es sieht so aus, als wäre sie dann auch viel bei uns. Wäre schön. Wir schmiedeten Sightseeing-Pläne kreuz und quer durch die Stadt.

Doch etwas an dieser Ausgangslage liess mich merkwürdig leer. Junge Leute erwarten heute, von Sensation zu Sensation geführt zu werden, keine Frage. Ich werde dafür bezahlen, auch keine Frage. Aber bin ich denn nur die Zahlgotte? Mir fehlte … das Herz dieser Stadt, in die ich in jungen Jahren wieder und wieder gereist bin, die mich gebildet hat wie keine zweite, nicht einmal meine eigene. Diese Stadt, die ein Jahrzehnt lang das Zentrum meiner Welt war. Was kann man von diesem Wissen, dieser Stadt, diesem Glück weitergeben?

Wo liegt das Herz von London? Und heute Morgen fiel es mir ein: Das Herz von London liegt vor dem Bahnhof von Charing Cross. „Dorthin müssen wir zuerst gehen, damit wir uns überhaupt orientieren können“, sagte ich zu Herrn T. Er lächelte, etwas geringschätzig, wie mir schien. „Wie willst Du jungen Leuten erklären, was an einem Bahnhof so interessant sein soll?“ sagte er.

Ich sah ihn an, rang nach Worten, in meinem Kopf drängelten sich die Gedanken plötzlich wie die Menschen am besagten Bahnhof zur Rush Hour. „Ich muss es den beiden halt erzählen“, sagte ich. Aber wie? Ich werde es herausfinden müssen. Zu diesem Zweck werde ich jetzt in meinen nächsten Blog-Beiträgen die umherwimmelnden Gedanken auseinandernehmen, jeden auf seinen Weg schicken und mir überlegen, ob und wie er bei Tim und Julia ankommen könnte.

Heimkehr ins Wasseramt

wasseramt
Das Wasseramt heisst so, weil es durchzogen ist von idyllischen Flüsschen wie diesem. Was man auf dem Bild nicht sieht: den Autoparkplatz gleich zur Linken.

Ich bin nicht ganz sicher, weshalb ich im Titel dieses kleinen Essays unbedingt das Wort „Wasseramt“ stehen haben will (hier steht alles zur Geografie der Region). Es geht in diesem Text nur teilweise um Wasser. Es geht vor allem um Benzin und um die Zeit. Vielleicht muss es so sein, weil mir der Besuch hier beinahe die Tränen in die Augen getrieben hätte.

Denn am hier abgebildeten Bächlein im Dorf Recherswil, genau links vom linken Bildrand, stand einst das Haus meines Urgrossvaters. Ich habe die Stelle nicht fotografiert, heute liegt dort nichts als ein Parkplatz, und wer will schon einen Parkplatz anschauen? Das Haus meines Urgrossvaters aber war ein stattliches Holzhaus mit dem hier üblichen, mächtigen Bogengiebel, der Menschen und Dinge einrahmt, schützt und birgt – oder wenigstens so aussieht, als würde er das tun. Im Haus war eine Bäckerei, davor stand ein Brunnen mit Pflaumenbäumen. Hier war so etwas wie der Dorfplatz. Mein Urgrossvater war der Dorfbäcker. Es ist ein wenig ironisch, dass alles, was er hatte und war, von ein paar Blechkarrossen ersetzt worden ist. Er war einer der ersten im Dorf, die überhaupt ein Automobil besassen. Sonntags machte er dann und wann eine schmucke Passfahrt, an Werktagen fuhr er Brot hinaus zu den Bauernhöfen. Im Zweiten Weltkrieg liess er sich einen Holzvergaser in den Wagen einbauen.

Er starb 1965, kurz vor meiner Geburt. Aber wir besuchten als junge Familie noch oft seine Witwe. Sie, das Kläri, war nicht meine richtige Urgrossmutter, sondern Urgrossvaters zweite Frau. Die Fahrten zu Kläri waren für mich Reisen in eine mythische Vergangenheit, zu der wir schon selbst nicht mehr gehörten. Wir reisten im Kleinwagen an, mieden die Autobahn, sahen links und rechts Getreidefelder, auf den Hügeln reckten sich alte Bäume gen Himmel, Eichen oder Linden. Man wäre gerne zu ihnen hochgestiegen, hätte sich unter sie gelegt und sich geborgen gefühlt. Die ländliche Schweiz von anno dazumal, die wir gerne als unsere ferne Heimat sehen.

Im Gespräch mit Kläri fielen die Ortsnamen rundum: „Chriägschtette, Choppige, Gerläfingä, Biberischt, Zuchu.“ In diesen Gemeinden hatten sich unsere zahlreichen Verwandten niedergelassen, von denen wir aber kaum jemanden kannten. Es ist kein Zufall, dass sie vor allem nach Gerlafingen und Biberist zogen und dort, so hörten wir, ihren Wohlstand mehrten. Denn dort war die Industrie – in Biberist die Papierfabrik, in Gerlafingen das Stahlwerk.

Als Kläri um das Jahr 2000 starb, erbte Onkel Eugen das Haus in Recherswil. „Und er hat es einem Itsch verkauft!“ schimpft meine Mutter gerne. Ein „Itsch“ ist ein Mann, dessen Name auf „ic“ endet, und von dem meine Mutter folglich nichts weiss und nichts wissen will, als dass er aus Ex-Jugoslawien stammt, von wo die Menschen um das Ende des letzten Jahrhunderts in grosser Zahl in die Schweiz kamen. Dieser „Itsch“ habe das Haus dann abreissen lassen und einen Parkplatz aus der Parzelle gemacht.

Seien wir ehrlich: Der Bau hatte knarzende Böden, eine halsbrecherische Treppe in den ersten Stock, und im Winter fror man sich im Bad den Allerwertesten ab. Klärli hatte dort ein Vierteljahrhundert lang geputzt und gebohnert, aber baulich verändert hatte sie nichts, wahrscheinlich war kein Geld dafür da. Man kann es dem Herrn Itsch nicht ganz verdenken, dass er nichts mit der Immobilie und der in ihr konservierten Heimat anzufangen wusste, die nicht die seine war.

Herr T. und ich warfen einen letzten Blick auf den einstigen Dorfplatz. Auch das behäbige Haus auf der anderen Strassenseite sah verlassen aus. Rund um das übernächste ragen Baugespanne gen Himmel. Das hier ist ein Dorf ohne Dorfplatz, nur mit Verkehr, das goldene Zeitalter der Landwirtschaft ist vorbei.

Wir zogen weiter, durch Gerlafingen und Biberist. Hier trafen wir das Industriezeitalter an, doch auch dieses neigt sich dem Ende zu. In der Stahlfabrik Gerlafingen arbeiteten einst 5000 Leute, heute sind es noch 500. Nun, das Unternehmen rentiert, das ist die Hauptsache. Am Eisenhammer-Kreisel bei der Zufahrt zur Fabrik steht noch die Skulptur eines Eisenschmieds und verkündet  Büezer-Stolz. Aber sonst ist das hier ein gewöhnlicher Agglo-Kreisel, umgeben von einer Beiz mit blätternder Fassade, einem Kleider-Outlet und einer Fast Food-Bude im amerikanischen Stil. Es könnte Bülach, Schönbühl oder Ebikon sein. Eine Welt überrollt von den Möglichkeiten der Benzingesellschaft. Niemand erwartet hier Heimat, alle suchen bloss einen Parkplatz.

Der Eisenhammer-Kreisel von Gerlafingen, Kanton Solothurn.

Unter den Pflastersteinen der Sand

Luzern vor 20 Millionen Jahren (Quelle: Gletschergarten)

Etwa vor einem Jahr lungerte ich morgens um vier Uhr in den Vorhöfen des Schlafes herum und wurde nicht eingelassen. Zum Zeitvertreib las ich einen Essay von Lauren Elkin, einer Amerikanerin, die lange in Paris gelebt hat und dort nach Herzenslust flanierte. „Sous le pavé la plage“ las ich da – „unter den Pflastersteinen das Meer“. Es ging um die Proteste von 1968, aber mein Hirn dachte im Halbschlaf: „Ja, wenn ich sterbe, werde ich zu Sand.“ Das war ein paar Monate, bevor ich eine Krebsdiagnose bekam.

Der Krebs gilt mittlerweile als besiegt. Aber er hat die Art, wie ich über das Jenseits denke, stark verändert. Geradezu verärgert bin ich von der Vorstellung, vor das so genannte Jüngste Gericht treten und mich für meine Lebensführung  verantworten zu müssen. Ich meine, was soll denn das überhaupt für ein Gericht sein?! Muss ich es mir wie das Kriminalgericht des Kantons Luzern vorstellen? Bekomme ich da auch eine Anwältin? Und die Paragraphen, nach denen der Richter urteilt? Sie stehen wahrscheinlich in der Bibel – aber die Auslegung und das Strafmass? Himmel? Hölle? Fegefeuer? Ich will ja nicht hochmütig sein (strafbar!), aber das kommt mir alles etwas vage vor.

Wer eine Chemotherapie macht, hat viel Zeit zum Grübeln – da geht man oft selbst streng mit sich ins Gericht. Lieber möchte ich eines Tages den ganzen Mist einfach hinter mir lassen und wie im Tiefschlaf in den Sand sinken. Dabei stellte ich mir immer vor, ich würde ein Sandkorn am Strand auf dem Bild oben – ein Bild, das ich schon als Kind im Luzerner Gletschergarten gesehen habe. Vielleicht, weil es für mich Heimat und exotisches Paradies zugleich ist.

Ich habe das alles in den letzten Wochen wieder vergessen. Aber eben habe ich  hier einen Beitrag von Hopkins gelesen. Da war plötzlich alles wieder da.

Spenden oder nicht spenden?

Wie eine Lawine ergossen sich in den letzten Wochen Bettelbriefe auf meinen Schreibtisch. Neulich habe ich eine Stunde damit verbracht, die meisten Briefe zu entsorgen und jene zu retten, die ich für beachtenswert halte. Wir sind von der Krise bislang zum Glück nur marginal betroffen, daher können wir spenden und tun dies auch.

Eins der Couverts enthält den Spendenaufruf einer schweizerisch-russischen Stiftung, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Ich kenne dessen Schweizer Gründer. Er lebt in einem russischen Landstädtchen südlich von Moskau und hat sich in den neunziger Jahren in ein Hilfsprojekt für die von der Staatskrise Betroffenen dort gestürzt. 1998 oder 1999 war ich mit Freunden bei ihm zu Besuch. Ich hatte die Gelegenheit, mit zahlreichen Russinnen und Russen zu sprechen – etwa mit einer Uni-Professorin, die beim Zerfall der Sowjetunion aus Tadschikistan hatte fliehen müssen. Sie gehörte dem sowjetischen Mittelstand an, doch durch die Währungskrise hatte sie nun auch noch ihre Ersparnisse verloren. Ich sprach mit Lehrpersonen, deren Löhne nur sporadisch ausgezahlt wurden – weshalb sie im Herbst oft nicht in die Schule gingen, sondern auf ihren Datschen Kartoffeln ausgruben. Ich hörte von Korruption, Armut und Alkoholismus. Ich sah traumatisierte Menschen und einen kaputten Staat. Und doch: Ich habe dort zum ersten Mal gesehen, wie Leute in wirklicher Not zusammenhalten und einander in Wärme verbunden sind. Es war eine hervorragende Lebensschule für mich.

Aus Dankbarkeit habe ich der Stiftung seither Jahr für Jahr vor Weihnachten einen nicht zu knappen Beitrag zukommen lassen. Die Probleme in Russland wurden zwar weniger, aber es gab immer noch die Ärmsten, die Essenspakete mit Grundnahrungsmitteln gut brauchen konnten und Invalide, die von der Stiftung Brennholz bekamen – Überlebenshilfe im russischen Winter.

Dieses Jahr drehte ich den Bettelbrief unschlüssig in den Händen, legte ihn zu den zu bezahlenden Rechnungen und zahlte dann doch nicht. Statt dessen las ich den Begleitbrief der früheren Stiftungspräsidentin. Sie betont die politische Neutralität der Stiftung, erwähnt, dass auch in Russland die Preise dramatisch gestiegen sind und schreibt: „So treffen die Sanktionen auch diesmal diejenigen am Härtesten, die am allerwenigsten Schuld tragen.“

Beim Lesen bricht mir fast das Herz – aber ich weiss immer noch nicht, ob ich spenden soll oder nicht. Was würdet Ihr tun?

Wie ich in Paris reisen lernte

Die vergangenen fünf Tage haben Herr T. und ich in Paris verbracht. Eigentlich hatten wir das ganze Jahr über andere, ambitioniertere Reisepläne gehabt. Aber diese scheiterten umständehalber gleich reihenweise. Blieb Paris. Mein Herz hatte zwar nie so richtig für die französische Metropole geschlagen, glaubte ich. Dennoch stiegen wir am Montagmorgen in einen TGV. Am Montagabend stand ich auf der Bastille und sah den blaugolden erleuchteten Engel auf der Säule in der Mitte und den tosenden Verkehr rundum.

Die Julisäule auf der Place de la Bastille erinnert an die Opfer des Juli-Aufstandes von 1830 (und natürlich auf den Sturm der Bastille 1789, den Beginn der Französischen Revolution).

Paris-Korrespondentinnen des Schweizer Fernsehens nutzen Kreisel wie diesen oft als Hintergrund für ihre Berichte. Daher erwartete ich, den Platz alltäglich und lärmig zu finden, so gewöhnlich, wie ich diese Plätze auf meinen früheren Paris-Reisen gefunden hatte. Aber irgendetwas liess mich das alles diesmal mit ganz neuen Augen sehen, vielleicht war es das blaugoldene Licht. Es erinnerte daran, dass in einem Land mit blaugoldener Flagge genau an jenem Tag Menschen in einem Raketenhagel gestorben waren, für etwas, was hier, genau hier, einen seiner Anfänge genommen hat.

Am Mittwoch streiften Herr T. am Eifelturm vorbei Richtung Arc de Triomphe. Ich erinnerte mich plötzlich sehr klar an meinen ersten Besuch in Paris, mit 20, mit einer Schulkollegin. Wir zwei Frauen waren mit einem Interrail-Ticket unterwegs, sie wollte nach Paris, ich nach London, wir fingen mit Paris an. Ich erinnerte mich, wie ich dort ankam und erwartete, „es“ zu sehen. Das, wofür so viele Menschen nach Paris reisten. Aber ich sah es nicht. Ich fand die Champs-Elysées zu schäbig und die Avenue Kléber zu schick und den Eiffelturm eine gigantische Touristenfalle. Mich faszinierten sehr wohl die silbern und weiss leuchtenden Häuser der Stadt, aber das konnte nicht „es“ sein. Ich liess sehr wohl den Blick sehnsüchtig über die Gesichter maghrebinischer Migranten im Barbès huschen, aber auch das konnte nicht „es“ sein. Ich fühlte mich verloren und gab mich blasiert. Dass wir lediglich einen Reiseführer für Interrail-Touristinnen hatten, der Paris in zwei Seiten abhandelte und nichts erklärte, machte alles auch nicht besser. 2022 schüttelte ich, nunmehr 57-jährig, den Kopf über mein 20-jähriges Ich. Ich erstieg mit Herrn T. den Arc de Triomphe, und diesmal erschlug „es“ mich schier, ich sah die gewaltige Grösse dieser Stadt, ihr Leuchten, sogar an jenem trüben Tag.

Schon am Vortag hatten mich in einer Gasse im Marais die Erinnerungen überflutet, jene an meinen zweiten Besuch in Paris, 1986. Damals reiste ich mit einer anderen Freundin, nennen wir sie Frau Fernweh. Wir verfügten nun über einen Reiseführer aus der damals populären Reihe „Anders reisen“, und mit diesem Buch griffbereit in der Tasche streiften wir durch das Quartier. Wir spazierten von Park zu Park, von Gasse zu Gasse, sahen die Läden und die Menschen, und einmal kauften wir in einem kleinen, arabisch anmutenden Laden Handtücher in hellen Farben. Ich habe meins heute noch. An jenem Tag habe ich flanieren gelernt und das Reisen so, wie ich es in meinem späteren Leben praktizieren sollte. Ohne Erwartungen, dafür mit einem aufmerksamen, wenn möglich gut informierten Blick auf das Hier und Jetzt.

Herr T. holte mich in die Gegenwart zurück. Er klagte: „Ach, es ist alles so schick hier! Ich mag Quartiere mit so vielen schicken Läden nicht.“ Aber ich hatte mich eingelesen, auch auf dem Internet. Ich hatte meine Antwort bereit: „Weisst Du, vor 30 Jahren war es hier ganz anders! Es ist halt alles gentrifiziert worden seither.“ Mit dem Wort „gentrifiziert“ kann mein Geographen-Ehemann etwas anfangen. Nun sah er „es“ auch. Hoffe ich jedenfalls.

So wurde diese Reise nach Paris für mich zu einem gigantischen Bilderbuch über das, was wir gewesen und geworden sind. Es war eine Reise voller Entdeckungen. Und ich habe oft daran gedacht, dass solche Reisen auch ein kostbares Privileg sind. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ein Mann mit Anorexie und Burn-out

Niklaus von Flüe (Quelle: Keystone / Tages-Anzeiger).
Auf Flüeli-Ranft, einem winzigen Dorf in den Innerschweizer Bergen, lebte unser Nationalheiliger. Er hiess Niklaus von Flüe. Auf keinen Fall sollte man ihn mit St. Nikolaus mit dem roten Mantel verwechseln. Dieser lebte in Myra, einer Stadt in der heutigen Türkei und war ein wohltätiger und vermutlich auch geselliger Mann. Der schweizerische Bruder Klaus jedoch war Einsiedler, Mystiker und Politberater. Ein Mann des Friedens, ja, aber auch ein asketischer und in vielerlei Hinsicht gequälter Mensch. Manche sagen heute, er sei anorektisch gewesen und habe ein Burn-out durchgemacht.

Wenn man heute „Flüeli-Ranft“ sagt, dann kommen automatisch zwei Reaktionen, und beide lösen bei mir einen Abwehrschauer aus. Zum einen haben unsere Nationalisten den Nationalheiligen vereinnahmt und werfen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein „Machet den zun nit zuo wit“ in die Runde. „Macht den Zaun nicht zu weit“, heisst das und soll bedeuten, dass die Schweiz neutral bleiben und stets nur den eigenen Nabel beschauen soll, jetzt und in alle Ewigkeit! Wenn man diese Forderung mit dem Zitat eines Heiligen aus dem 15. Jahrhundert untermalen kann, muss man ja auch gar keine Argumente mehr mitliefern, das ist das Praktische daran. Dieses Gelaber macht mich gallig, und vielleicht finde ich es deshalb deplatziert, wenn mir mal wieder jemand sagt, dort oben könne man „schöne spirituelle Erlebnisse haben und wunderbar meditieren“. Heutige Katholiken sagen zwar, Niklaus von Flüe habe das mit dem Zaun gar nie selbst gesagt – und wenn eventuell doch, dann habe er es ganz anders gemeint (hier mehr dazu). Aber wie auch immer: Ich kann nicht nach Flüeli-Ranft gehen, niemand kann nach Flüeli-Ranft gehen, ohne über das Erbe von Bruder Klaus zu grübeln.

Wobei wir gar nicht wegen des Nationalheiligen nach Flüeli-Ranft gingen, sondern eine Tagung von Herrn T.s Klimaspuren-Freunden besuchten. Dass sie dort oben stattfand, hat ebenfalls mit dem Heiligen zu tun: Grüne Katholiken haben sich statt des Geredes über den Zaun die Bewahrung der Schöpfung auf die Fahne geschrieben und im Ranft-Zentrum einen Tagungsort der Nachhaltigkeit geschaffen.

Schildchen beim Zugangsweg zum Ranft.
An dieses Treffen zu gehen war für mich eine schwierige Mission. Zwar geht es mir insgesamt erstaunlich gut, und der dreitägige Ausflug bediente meine grosse Sehnsucht nach einer kleinen Reise. Aber ich höre zurzeit so schlecht, dass ich in einem vollen Speisesaal keiner, wirklich keiner Konversation gewachsen bin. Die ersten zwei oder drei Mahlzeiten waren eine einzige Hochnotpeinlichkeit. Diese Angst, dass jemand das Wort an mich richten könnte! Diese Verunsicherung darüber, dass ich mit meinem dunkelblauen Turban zwar auffiel, aber eigentlich nicht da war. So griff ich zu einer ähnlichen Strategie wie schon in Salecina: Ich blieb nur kurz zum Essen, dann flüchtete ich. Diesmal aber nicht nach Hause, sondern hinunter ins enge Tal, zum Einsiedler, dem ich mich auf einmal sehr verwandt fühlte. Das Schild am Zugangsweg kam mir vor wie ein boshafter, kleiner Kalauer, extra für mich gemacht.

Die Pilgerkirche zuunterst war komplett überlaufen, so suchte ich auch von dort das Weite – auch der Eremit hätte es so gemacht. Auf einem lange Spaziergang fand ich meinen eigenen Weg, meine eigenen Gedanken, mein eigenes, vergessenes Kirchlein auf der anderen Talseite. Und am Abend sass ich auf dem Balkon unseres Hotelzimmers, blickte über die Landschaft und – nein, ich meditierte nicht, das wäre übertrieben. Aber ich war einfach glücklich, in dieser überirdisch schönen Landschaft aufgehoben zu sein.

Und dann, am nächsten Tag, beim Mittagessen, gab es eine überraschende, beglückende Wendung in dieser Geschichte.

Blick vom Ranft-Zentrum über die Hügel zum Sarnersee.
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