Schwerhörig: Nächtlicher Knall

Es ist gerade sehr heiss hier, in der Nacht liess ich alle Zimmertüren und Fenster in der Wohnung weit offen, um etwas kühlere Luft hereinzulassen. Dennoch lag ich zwischendurch lange wach. Gegen 5 Uhr setzte eine sachte Brise ein und ich wurde wieder schläfrig. Da schüttelte es plötzlich mein Bett und den Boden darunter. Verdammt, dachte ich, ob das ein Erdbeben ist!? Oder steht der Freizeitsportler (unser Nachbar unten) jetzt allzu unsanft auf?

Dann war es wieder ruhig und ich schlief ein.

Am Morgen sah ich, dass die Tür zu meinem Zimmer nicht mehr offen war. Vielleicht hatte doch nicht der Freizeitsportler mich gestört. Vielleicht war die sanfte Brise so sanft gar nicht gewesen, hatte die Tür zugeknallt und dabei den Boden unter meinem Bett zum Beben gebracht. Gehört habe nichts, wie auch. Herr T. konnte mir auch keine Auskunft geben, er hatte tief und fest geschlafen. Ich werde also nie wissen, was sich da zugetragen hat.

Ganz süüferli schliesse ich dafür jetzt die Tür zu diesem Blog für eine Weile. Wir verreisen bald, unter anderem auf den Spuren des zählebigen, klugen, zuweilen auch brutalen Kreuzritters Otto von Grandson, der auf dem Boden der heutigen Schweiz eigentlich Schlossherr war, aber die meiste Zeit im Auftrag des König Eduards I. von England durch die Weltgeschichte reiste.

Schwerhörig: Bahnhofdurchsage in Mannheim

Bahnhofdurchsagen verstehe ich oft nur fetzenweise. Meistens ignoriere ich sie, es ist ja immer alles gut angeschrieben. Aber am Auffahrtstag warteten wir am Bahnhof Mannheim auf eine S-Bahn, die mehr als eine halbe Stunde Verspätung hatte und, während wir warteten, immer noch mehr Verspätung bekam. Klar, dass ich  dem Mann am Lautsprecher aufmerksam zuhörte.

Es ist rührend, wie die Deutsche Bahn Zugsverspätungen stets zu begründen versucht, oft mit düsteren Vorfällen, etwa mit Polizeieinsätzen, die dann doch nicht genauer erläutert werden. Diesmal aber war die Erklärung für das Ausbleiben der Bahn geradezu poetisch. „Verspätung aufgrund irriger Fahrt“, sagte der Mann am Lautsprecher und dann wieder: „Verspätung aufgrund irriger Fahrt.“ Was ist überhaupt eine irrige Fahrt und wie kann ein Schienenfahrzeug eine solche machen? Ich sinnierte, aber Herr T. lachte: „Nein, du hast ihn falsch verstanden. Er hat gesagt: ‚Verspätung aufgrund vorheriger Fahrt‘.“ Was immer das nun bedeuten sollte!

Schliesslich kam der Zug und hielt und wir begannen einzusteigen, als es eine weitere Durchsage gab: „Abfahrt nur für mich um fünf vor drei.“

Was er wirklich gesagt hat, habe ich nie erfahren, denn die Türen gingen zu und der Zug fuhr endlich los. Mit uns.

 

Schweizerdeutsch 43: Vater sucht ein Restaurant

Do chasch nüd säge.

Standarddeutsch: „Da kannst Du nichts sagen.“ Sinngemäss: „Dagegen ist nichts einzuwenden.“

Gestern wollten Herr T. und ich online drei Hotelübernachtungen in einer kleinen Stadt im Westen Deutschlands buchen. Wir klickten uns durch rund ein halbes Dutzend Angebote, irgendwann hatten wir ein zentral gelegenes Haus vor uns, erschwinglich, leidliche Bewertungen, und ich sagte: „Do chasch nüd säge.“

Diesen Satz hatte ich seit Jahren nicht gehört und sowieso nicht gesagt. Woher kam das jetzt wieder!? Da sah ich meinen kleinen Bruder und mich im Schlepptau unserer Eltern in der französischen Kleinstadt Evian, bei einem Tagesausflug über die Landesgrenze, um 1980, vielleicht unser erster. Bei meinen Eltern hatte sich bescheidener Wohlstand eingestellt. Es war Mittag. Wir gingen hungrig in der Stadt umher, Vater und Mutter studierten vor jedem Restaurant die Speisekarte mit den Preisen und etwa jedes zweite Mal sagte mein Vater: „Do chasch nüt säge“, das heisst: Er fand es akzeptabel. Aber ich glaube, die Preise waren überall ähnlich, und wo das Essen gut war, wussten wir halt auch nicht. Wir standen ratlos da, als der Briefträger mit einem Töffli den Hang herauftuckerte und meine Mutter sagte: „Komm, wir fragen ihn. Briefträger wissen immer, wo man gut isst.“ Das tat dann mein Vater, stolz auf sein gutes Französisch. An jenem Tag gab es einen Rindsbraten mit Rotweinsauce. Passabel und erschwinglich.

 

Glücksmoment in den Bergen

Auf Melchsee-Frutt

Wenn wir im Winter auf der Melchsee-Frutt waren, habe ich immer davon geträumt, einmal mit Schneeschuhen den Gumm zu ersteigen und dann den weiten Hang hinunter Richtung Tannalp zu schreiten. Weg von den vertrauten Fusswegen, ein kleines Stück hinein in die Wildnis. Auch wenn gut vorgespurt ist und bei schönem Wetter täglich ein paar Dutzend Leute dasselbe tun – für mich wäre es eben doch ein Abenteuer gewesen. Aber Herr T. fuhr lieber Ski und allein hatte ich Schwindelpatientin mich nicht getraut. Diesmal waren wir zu fünft. Bei der rosarot bewegweiserten Abzweigung nahmen wir den Aufstieg.

Das erste Drittel ging tiptop. Nach dem zweiten hätte ich gerne aufgehört. Aber wir nahmen das letzte auch noch, die sportliche Kollegin G. uns anderen weit voraus.

Zuoberst eine Aussicht zum Frohlocken! Hinter uns die Wellen, über die wir uns heraufgemüht hatten. Vor uns die Felsklippe hinunter ins Gental im Berner Oberland, eine neue Welt. Aber nicht zu weit nach vorne gehen! Der Schnee auf Felswänden kann abbrechen, dann droht ein Sturz in gähnende Tiefen.

Wir drehten nach links, zum Abstieg: Hach, er übertraf meine kühnsten Träume! Dieser Blick in die verschneiten Hügel! Langsam in die weiche, weisse Weite schreiten, sachte bohren sich die Zacken der Schneeschuhe bei jedem Schritt in den sonnenwarme Pfad. Die vom Letrozol doppelt schmerzenden Knie werden kaum belastet. Einer dieser Momente, in denen man nicht sicher weiss, ob man lieber vorwärtskäme oder hofft, dass er ewig dauern möge.

Schweizerdeutsch 25: Blöde Schneeschuhe!

schtürchle (v)

Standarddeutsch: stolpern

Quelle: nuduss.ch

Vor zwei Tagen mieteten wir Schneeschuhe, um hinaus in die verlockenden, blauweissen Weiten zu schreiten. Wir waren zu fünft. Aber blöd: Ich schaffte es nicht, die Gehhilfen selbst anzuziehen. Vor ein paar Jahren hatte ich es einmal fertiggebracht, die Plastikriemchen im Alleingang richtig festzuzurren und einen Spaziergang mit den Dingern zu machen. Aber jetzt?! Jetzt sind meine Knie gstabig, mein Gleichgewichtssinn unzulänglich und im Durcheinander von Riemchen, Löchern, Noppen und Schnällchen verlor ich den Überblick. Kollege C. musste mehrmals niederknien, um mir zu helfen. Als wir loszogen, hing mir immer noch ein Plastikstreifen aus dem linken Schuh und schlenkerte vor den rechten Fuss. Ich stürchelte und konnte mich gerade noch mit dem Stock auffangen. Zum Glück konnte C. auch dieses Problem beheben. Denn danach wurde es richtig, richtig herrlich!

Schweizerdeutsch 15: Ab in die Disco

Töffli

Hochdeutsch: Mofa

Mofa mit Windschutz (Quelle: velos-motos-keller.ch)

Erläuterungen: Wie die meisten anderen aus meiner Gymi-Klasse fuhr ich mit dem Velo – also dem Fahrrad – zur Schule. Mein Vater aber besass Puch Maxi – und manchmal, wenn ich am Wochenende in die Disco ging, lieh er mir das Fahrzeug. So ratterte ich in die Luftschutzkeller und Mehrzwecksäle unserer Agglomeration und tanzte dort zu Deep Purple und Jimi Hendrix, zu The Clash, Lou Reed, David Bowie und Bob Marley. Das Töffli  war leider gar nicht schnittig, denn es hatte einen Windschutz. Vor der Heimfahrt stellte ich mich deswegen immer gutgelaunt dem Spott der Kumpels – schliesslich sind alle Eltern seltsam, nicht? Es gibt übrigens in der Schweiz nicht nur Töffli, sondern auch Töffs – die haben dann 125 Kubikzentimeter oder mehr. Auf die Idee zu diesem Beitrag bin ich dank der Kätzerin gekommen – auch wenn die Sache mit dem „Kracherl“ wohl auf einem Missverständnis beruht.

Unser neuer Blog

Vor einiger Zeit habe ich es bereits angetönt: Ich habe zusammen mit einer Freundin ein neues Blog-Projekt, das mit begeistert und fordert. Es geht dort um Feminismus. Der Blog heisst journal-f.ch. Mein neuester Beitrag dort dreht sich um den Film „The Substance“, einen Horrorstreifen über den Schönheitswahn im Showbusiness mit Demi Moore. Siehe hier, mehr zum Blog dann ein andermal. Für persönlichere Themen bleibe ich hier.

Die Lage im Nahen Osten

Nachdem ich meinen letzten Post abgesetzt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich meine: Es war der 7. Oktober, die Welt gedachte der Anschläge der Hamas in Israel 2022 und ich hatte kein Wort darüber verloren. Als wäre es mir egal. Aber es ist mir nicht egal. Ich möchte weinen, wenn ich an die Opfer denke. Was sind das für Bestien, die unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten töten oder als Geiseln verschleppen?

Ich bin nur nicht sicher, was ich schreiben soll. Obwohl die Lage im Nahen Osten ein Thema ist, seit ich mich erinnern kann. Zu Hause lief bei uns den ganzen Tag Schweizer Radio, stündlich die Nachrichten. Täglich hörte ich schon als Fünfjährige am Radio das Wort „Telawiif“ und wusste lange nicht, was es bedeutete. Erst mit der Zeit lernte ich, dass aus Tel Aviv die News über die Lage im Nahen Osten kamen. Tel Aviv, das hiess Kämpfe, Todesopfer, hastige Beschwichtigungsreisen von US-Aussenministern und UNO-Generalsekretären.

Beiläufig lernte ich das Wesentliche über Auschwitz. Mir zerstörte dieses Wissen jeden Ansatz eines kindlichen Gottvertrauens. Wenn Gott Auschwitz zugelassen hatte, dann war Gott böse, oder es gibt ihn nicht. Ich wuchs in einer katholischen Gegend auf, es gibt hier einen tief sitzenden Antisemitismus, der auch Israel trifft. Vor allem Israel. Damit wollte ich nie etwas zu tun haben. Wohin es führt, wenn man pauschal gegen bestimmte Gruppen von Menschen ist, hatten wir ja gesehen. Die Israelis haben ein Recht auf ihren Staat. Aber ich sah mich gerne auf der Seite der Unterdrückten, Benachteiligten. Im Nahost-Konflikt sollte ich alle paar Jahre die Seiten wechseln.

In der Schule lernten wir: Nach dem Horror von Auschwitz gab die UNO den Zionisten ein paar Territorien für einen eigenen Staat in Palästina. Die arabischen Staaten rundum bekämpften die Israelis, aber diesen gelang es, ihre Territorien auszudehnen. Die Palästinenser kamen unter die Räder. Ich begab mich auf die Seite der Palästinenser. Als Teenager besass ich sogar eines dieser rotweiss gemusterten Tücher.

1986 flog ich nach Tel Aviv. Ich war 21. Mein damaliger Freund studierte in Jerusalem Theologie. Ich hatte einen Wecker und ein Büchlein von Noam Chomsky im Gepäck, einem harten Kritiker der US-Politik im Nahen Osten (auch noch viele Jahre später, siehe hier). Als ich ankam, schenkte mein Freund mir eine Kerze. Drei Wochen später wollten wir in Haifa mit dem Schiff ausreisen. Die Zollbeamten sahen die Kerze, den Wecker und das Büchlein von Noam Chomsky. Sie nahmen meinen Koffer mit und blieben so lange weg, dass wir das Schiff erst im allerletzten Moment und mit zittrigen Knien besteigen konnten. War es eine Machtdemonstration oder hatten sie wirklich Angst?

Ich war vage pro-palästinensisch, bis ein Kollege aus Tel Aviv bei uns im Büro zu Besuch war. Er war nach der Pensionierung ausgewandert. Das war nach 9/11. In Israel hatten Palästinenserinnen und Palästinenser begonnen, Sprengstoffgürtel an ihren Leib zu kleben und sich in Jerusalem oder Haifa in die Luft zu jagen. Mein Kollege erzählte, wie er in Tel Aviv jedes Mal voller Angst aus dem Bus floh, wenn ein arabisch aussehender Mensch mit einer dicken Jacke einstieg. Ich dachte: Die Palästinenser tun aber auch alles, um ein friedliches Zusammenleben in der Region zu verunmöglichen. Selbstsabotage. Wie war Friede möglich, wenn der gute Wille auf beiden Seiten so zweifelhaft schien? „Es ist kompliziert“, sagte ich einmal. „Wenn ich noch lange darüber nachdenke, werde ich wahnsinnig.“

Nach dem 7. Oktober 2022 war ich fest auf der Seite der Israelis. Dann kam die Rache im Gaza-Streifen. Jetzt die Eskalation im Südlibanon. Und allmählich fürchte ich, dass es vollkommen sinnlos ist, auf einer Seite zu stehen. Man kann nur das Beste hoffen für jene, die jetzt unschuldig unter die Räder kommen.

Diese unsagbare Wehmut

Am Morgen lese ich jetzt oft noch drei, vier Seiten aus einem Reisebericht von Patrick Leigh Fermor. Man darf sich in diesen Tagen nicht schon um 8.30 Uhr von den News erschlagen lassen. Ich lese, wie der Brite am Ostersonntag 1934, gerade 19-jährig, aus der ungarischen Stadt Esztergom aufbricht und donauabwärts wandert. Vor wenigen Tagen ist das Eis auf dem Fluss geborsten, tags zuvor sind die Störche aus dem Süden zurückgekehrt, es ist magisch. Und kaum hat Fermor die Stadt verlassen, ist da nur noch Natur im Frühlingsrausch. Er schreibt:

„Die Vögel sangen um die Wette, überall wurden fieberhaft Nester gebaut, Schwalben und Mauersegler schlugen ihre Haken am Himmel. Mehlschwalben besserten alte Bauten aus, Eidechsen huschten zwischen den Steinen, überall in den Binsen tauchten neue Nester auf, im Wasser wimmelten Fischschwärme, und die Frösche, die mit einem langen Sprung im Wasser verschwanden, wenn ein Fremder kam, waren sogleich wieder da, und es klang, als würde ihr Chor von Stunde zu Stunde um tausend neue Stimmen verstärkt; sie sorgten dafür, dass die Nistplätze der Reiher verwaist lagen, bis das letzte Abendlicht schwand.“*

Patrick Leigh Fermor
Während ich das lese, erhebt sich eine grosse Wehmut in mir, höher als der Raum, in dem ich sitze. Sie reicht bis in den Himmel, ich kann Schwalben sehen. Dann frage ich mich: Welches Stilmittel hat der Autor eingesetzt, um mir dieses Gefühl zu vermitteln? Ist es die schiere, episch dahinfliessende Länge des zweiten Satzes? Schwingt da Fermor’s Heimweh nach seiner Jugend mit (er stellte das Buch spät im Leben fertig, es erschien erstmals 1986). Oder Sehnsucht nach der Zeit, bevor der Eiserne Vorhang niederrasselte und dieses Flussparadies vom Westen trennte? Oder empfinde nur ich hier Wehmut? Habe ich einen Anfall von Solastalgie, also Trauer um die verschwundene Überfülle der Natur? Bin ich nur so wehmütig, weil dieser Text mich an einen viel neueren Text erinnert, über einen Fluss und eine Welt, in diesem Fall ganz sicher nach einer Katastrophe?

„Einst gab es Bachforellen in den Bergflüsschen. Du konntest sie in der bernsteinfarbeben Strömung stehen sehen, wo die weissen Ränder ihrer Flossen zart die Strömung fächelten. Wenn du sie in der Hand hieltest, rochen sie nach Moos. Poliert und muskulös und zapplig. Auf dem Rücken hatten sie wurmartige Muster, Karten der Welt in ihrem Werden. Karten und Labyrinthe. Von etwas, was man nicht rückgängig machen konnte. Nicht wieder in Ordnung bringen konnte. In den tiefen Schluchten, in denen sie lebten, war alles älter als die Menschen und summte vor lauter Geheimnissen.“**

* Patrick Leigh Fermor: „Zwischen Wäldern und Wasser“; Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2010 (S.26-7)
** Cormack McCarthy: „The Road“; Picador Paperback, London, 2007 (S.307-8, meine Übersetzung)

Der Mississippi-Mythos

Ungefähr so sieht der Mississippi in meiner Erinnerung aus (Quelle: www.nature.org)

Allen herzlichen Dank für die Kommentare zum Mississippi-Beitrag von gestern! Nicht nur Christiane Rösinger und ich sind der Mississippi-Magie verfallen, so viel ist nun klar! Ja, Mississippi ist ein wohlklingendes Wort – deshalb und aus vielen anderen Gründen wurde der Ol‘ Man River wohl so oft besungen, ist einer der ganz grossen Mythen der USA. Er ist der alte Mann, der immer weiterfliesst, von der leidvollen Maloche der Schwarzen an seinem Ufer völlig unbeeindruckt. Ein Symbol für die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den Menschen, für Dauerhaftigkeit und ewige Veränderung zugleich.

Auch per Whatsapp habe ich eine Rückmeldung mit Lieblingssong bekommen: „The River“ von Bruce Springsteen. Auch ich hätte „The River“ als meinen zweitliebsten Mississippi-Song bezeichnet. Ironischerweise ist der titelgebende Fluss aber wohl nicht der Mississippi, sondern der Conemaugh River in Johnstown, Pennsylvania. Doch egal: Auch der Conemaugh River mündet in einen Fluss, der im Mississippi mündet. Auch hier: Der Fluss als Ort, der bleibt, der einen sein ganzes, unerfülltes Leben lang an die Träume erinnert, die man einst hatte.

Mein meistgeliebter Mississippi-Song ist aber „When the Levee Breaks“. Von Led Zeppelin zur verstörenden Rock-Apokalypse gemacht (hier der Link zum Song), handelt es sich eigentlich um einen Blues-Klassiker aus den 1920er-Jahren (hier die Version von Memphis Minnie von 1929). Er erinnert an die grosse Flut im Mississippi-Delta im Jahre 1927. „Die ganze Nacht sass ich auf dem Deich und habe geklagt. Wenn der Deich bricht, haben wir kein Zuhause mehr.“ Man denkt in diesen Tagen an Österreich, an Italien, an Polen.

All diese Songs höre ich heute leider nur noch als sinnlosen Geräuschbrei. Aber ich erinnere mich an einen Tag Anfang Juli 2005, als Herr T. und ich von New Orleans nach Chicago flogen. Herr T. liess mich am Fenster sitzen, und so sah ich unter mir den Mississippi wie eine silbrig-braune, riesige Schlange, die sich durch ein rötliches Amerika wand. Das ist meine eigene Teilhabe am grossen Mississippi-Mythos.

Aber je länger ich darüber nachdenke, desto besser verstehe ich, dass Stefanie Sargnagel simple Teilhabe am Mississippi-Mythos zu billig ist. Dass sie sich nicht erheben lassen und dabei übersehen will, dass im Grunde alles ganz anders ist. Dass die USA ein ziemlich kaputtes Land sind.