Die 1A-Sehenswürdigkeit von Luzern

Die Kapellbrücke mit Wasserturm (Quelle: Wikipedia).

Unsere Stadt ist mit rund 83000 Einwohnern eher klein, und so gelangt man schnell zu ihrer Hauptsehenswürdigkeit: der Kapellbrücke mit Wasserturm (hier und hier sämtliche Facts über das Bauwerk). Die Leute kommen in Scharen und aus aller Welt, um sie zu sehen. In Luzern ist der Tourismus der wohl wichtigste Wirtschaftszweig und wird mit einem aufwändigen Marketing gepflegt. 2019, im Jahr vor der Pandemie, hatten wir hier 7,3 Millionen Tages- und 1,4 Millionen Übernachtungsgäste. Vor der Pandemie war bei uns auch dann und wann von Overtourism die Rede.

Der Tourismus bringt Geld und Menschen aus Asien, aus Amerika, aus aller Welt in die Stadt. Das hat auch sein Gutes, und so nehme zumindest ich ihn mit einem Achselzucken. Schon als Teenager habe ich jedoch Karikaturen von beleibten US-Touristen gezeichnet und als junger Mensch strebte ich danach, keine Massentouristin zu sein, egal, wo ich hinging. Als mein 18-jähriger Gottenbub mich im Sommer gegen Ende der Fahrt im London Eye allen Ernstes fragte: „Haben wir jetzt alle wichtigen Sehenswürdigkeiten gesehen?“, war ich schockiert. Ich habe als junger Mensch fremden Städten immer etwas anderes gesucht als das, was schon alle anderen mit ihren Augen abtasteten.

Wohl deshalb hat die Kapellbrücke mich lebenslang eher gelangweilt. „Schon wieder diese Brücke auf einem Plakat, Flyer, Logo und, ach, schon wieder dieses langweilige Blau rundum!“ Für mich ist sie einfach ein Verkehrsweg. Dass sie seit bald 700 Jahren dasteht – geschenkt. Weil sie die Reuss schräg überquert, ist sie die kürzeste Verbindung vom Büro nach Hause. Da nerven manche Gäste schon, wenn sie weltvergessen Gruppenbilder knipsen, dabei die Brücke in ihrer ganzen Breite besetzen und gar nicht merken, dass da, bitte sehr, eine Einheimische passieren möchte.

Das alles änderte sich während der Pandemie. Als ich am Montagmorgen, 16. März 2020, in das hölzerne Gewölbe über dem Fluss trat, fand ich es zum ersten Mal überhaupt um 9 Uhr morgens leer vor. Einfach leer. Später an jenem Tag begann der erste Lockdown.

Die Kapellbrücke zu Beginn des ersten Lockdowns an einem gewöhnlichen Montagmorgen.

Von da an war unsere Altstadt ein paar Monate lang gespenstisch still. Im Juli und August wurde sie dann von Schweizer Tagesreisenden gestürmt. Und dann hatten wir einen Winter lang Zeit, unsere alte Stadt mit neuen Augen zu sehen. Haben wir das auch getan? Ja, dann und wann, ich jedenfalls.

Und doch: Monate später, vielleicht im Herbst 2021, entdeckte ich bei der Brücke ein asiatisches Grüppchen vielleicht drei, vier Leute, und ich sagte zu Herrn T.: „Oh, guck mal, es kommen wieder Touristen!“ Ich habe mich richtig gefreut.

Die Kirche mit dem frechen Turm

Die evangelisch-reformierte Lukaskirche als Neubau mit bescheiden gewordenem Turm, 1935.

Man könnte eine dreistündige Stadtführung durch die berühmtesten Kirchen der Stadt Luzern machen: die hochehrwürdige Hofkirche, die 1178 ganz am Anfang der hiesigen Stadtwerdung stand. Die Franziskanerkirche, die seit dem 13. Jahrhundert die Nordwestpforte zur Innenstadt ist. Die Jesuitenkirche, erbaut 1677, mit einer geradezu orgiastischen Innenausstattung – ein seltsamer Widerspruch zur asketischen Welthaltung ihrer Erbauer. Alle drei Gotteshäuser haben eines gemeinsam: Sie sind katholisch. Das ist wenig erstaunlich, denn die Reformation fand in Luzern gar nicht statt. Erst mit der Industrialisierung kamen Reformierte hierher.

Der ersten grossen evangelisch-reformierten Kirche der Stadt schenken wir hier auf dem Weg in die Altstadt unsere Aufmerksamkeit: der Lukaskirche. Sie wurde 1935 eingeweiht. Und sie erzählt eine Geschichte, die heute noch zu uns spricht: eine Geschichte von Zuwanderung, Diskriminierung und Verbohrtheit. Die Reformierten waren in der Zentralschweiz bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unbeliebt. Noch im Jahrhundert davor, 1847, hatte man einen Bürgerkrieg gegen die fortschrittlicheren, reformierten Kantone verloren. Und nun wollten Reformierte hier eine Kirche bauen, noch dazu nach einem kühnen, modernen Entwurf! Mit einem Turm, der höher gewesen wäre als jene aller umliegenden katholischen Gotteshäuser! Und mit einem kraftvollen Glockenspiel! Eine Frechheit! Es gab Einsprachen. Es wurde verhandelt. Schliesslich gaben die Kirchenbauer nach und machten den Turm ein Stockwerk kürzer.

Die Geschichte zeigt auch, wie lachhaft solche Ressentiments später aussehen können. Denn ob katholisch oder reformiert: Beide Religionsgemeinschaften sind heute kaum noch relevant. Beide pflegen gerne die Ökumene, um etwas mehr Leute in ihre Häuser zu bringen. Die katholische Kirche wird zudem gerade von einem Missbrauchsskandal durchgeschüttelt, der sogar ehemals sehr treue Schäfchen in Scharen davonlaufen lässt. Auch die evangelisch-reformierte Landeskirche schrumpft. Gewachsen sind nur die Bäume, die links und rechts des Portals der Lukaskirche stehen und den Ort heute still und in sich versunken wirken lassen.

Das Portal der Lukaskirche im Vögeligärtli an einem Samstag im November 2023.

Quelle für diesen Beitrag ist unter anderem das Buch „Hirschmatt Neustadt Luzern“ von Stefan Ragaz, Hrsg. Quartierverein Hirschmatt-Neustadt Luzern, 2022

Erinnerungen an meine Stadt: Das Kino Capitol

Ein historisches Bild des Kinos Capitol, ungefähr aus dem Jahre 1976. Die Leuchtreklame ist nicht mehr am gleichen Ort, sonst sieht heute vieles gleich aus. Nur hält der Mann im Vordergrund mit Sicherheit keinen Starbucks-Becher, sondern wahrscheinlich eine Zigarettenpackung. (Quelle: zentralplus.ch)

Am östlichen Ende des Cervelat-Palasts steht das Kino Capitol. Es ist das mittlerweile letzte Kino innerhalb der Stadtgrenzen für die Blockbuster aus Hollywood. Alle anderen Luzerner Multiplexe stehen heute in der Agglomeration, wohl wegen der Parkplätze. Das Kino Capitol aber steht an seinem Ort, seit ich mich erinnern kann. Es hat meine Vorstellung, wie ein Kino auszusehen hat, entscheidend geprägt. Aktuell im Programm unter anderem: „Napoleon“ und „Gran Turismo“.

Ich gehe davon aus, dass unsere Familien-Erinnerung an das Kino Capitol mehr als 80 Jahre zurückreicht. Denn meine Grosseltern Walholz selig haben es sehr wahrscheinlich in den frühen Jahren des Zweiten Weltkriegs ein paarmal aufgesucht. Sie lebten im nahen Bergkanton, in dem auch die Pilgerstätte unseres Nationalheiligen Bruder Klaus liegt. Das Paar war damals erst verlobt, und meine fromme Urgrossmutter liess ihre Tochter ungern am Sonntagnachmittag mit dem lebenslustigen Eugen losziehen. „Da haben wir dem Mueti jeweils einfach gesagt, wir würden zum Bruder Klaus pilgern. Und dann fuhren wir mit dem Velo nach Luzern ins Kino“, erzählte meine Grossmutter einmal. Auch wenn sie nicht erwähnte, welche Lichtspielhäuser sie damals aufsuchten – das „Capitol“ muss einfach dabei gewesen sein, es wurde 1932 eröffnet und war für lange Zeit ziemlich sicher der grösste Freizeitpalast der Stadt.

Mein erster Besuch im gleichen Etablissement war lebensprägend. Als ich sieben war, gab es dort Nachmittagsvorstellungen für Schulklassen. Dann wurden aufs Mal mehrere hundert Schulkinder in das enge Foyer getrieben wie Schafe in einen zu kleinen Stall. Ich erinnere mich heute noch an den Lärm und das Gedränge und meine Panik, und damals hörte ich noch gut. Jedes Kind hatte ein Plastiktäschchen mit einem Zweifränkler oder Fünfliber* dabei. Als ich an die Kasse kam, konnte ich das Täschchen nicht schnell genug finden, oder ich zückte die falsche Münze. Jedenfalls keifte mich das Fräulein an der Kasse an. Der Vorfall liess jenen Verdacht weiter spriessen, der schon seit meinen ersten, wenig beglückenden Turnstunden in mir keimte: Ich war weniger geschickt als die anderen, weniger gruppentauglich und vielleicht überhaupt nicht ganz normal. Ich habe dieses Bild von mir ein Leben lang kultiviert, manchmal mehr, manchmal weniger, war immer etwas schüchtern und neigte zu den Rändern des grossen Geschehens.

Trotzdem oder gerade deswegen ging ich jahrelang oft zwei- bis dreimal die Woche ins Kino. Ich gehörte eher zur Arthouse-Szene, aber ich verschmähte das „Capitol“ nicht. Wenn ich die Kassenreihe links im Foyer sehe, fällt mir heute noch mein Kindheitserlebnis ein. Zuletzt war ich dort mit meiner Patentochter Carina, in einer Pandemie-Pause 2020 oder 2021. Ich erinnere mich nicht an den Film, sehr wohl aber an den erstaunlichen Popcorn-Appetit der 15- oder 16-jährigen Carina.

Ja, die Pandemie. Leider ist sie nicht spurlos am Kino Capitol vorbeigegangen, ausserdem spürt der alte Filmpalast die Konkurrenz der Multiplex-Kästen in der Agglo. Und dann gibt es grosse Baupläne für das Areal. Laut aktuellen Berichten schliesst das Lichtspielhaus 2027.

*Fünffranken-Münze

 

 

 

Spaziergang in meiner Stadt – der Wurstpalast

Die Lesung am vergangenen Dienstag in der Loge war eine freudige Sache. 30 oder 40 Leute waren da, die Stimmung bestens, die Beiträge der sechs Lesenden alle auf ihre Art inspirierend. Jetzt sollte ich überlegen: Wie mache ich, wie machen wir weiter? Aber das Eisen zu schmieden, wenn es heiss ist, ist nie meine Stärke gewesen. Lieber lasse ich mein dichterisches Werk liegen, mache ein Spaziergängli und widme mich einem neuen Blog-Projekt: einer Tour in meiner Stadt Luzern.

Ganz von ungefähr kommt die Idee nicht. Unsere englischen Freunde, die Hooligans, haben sich über die Neujahrstage zu einem Besuch angemeldet. Die beiden haben uns im Sommer eine derart eindrückliche Führung durch die Stadt Lincoln kredenzt, dass ich ihnen alles mitgeben möchte, was ich über meine eigene Stadt weiss, persönliche Anekdoten und unsere grosse Tourismusfolklore inklusive. Ich lasse Euch daran teilhaben, weil ich beim Bloggen gut denken kann. Und weil ich hier ausprobieren möchte, was gefällt.

Die Tour beginnt wenige Meter von unserer Haustür entfernt. Dort steht ein markantes Gebäude, das oft „der Cervelat-Palast“ genannt wird.

Der Cervelat-Palast, vom Bundesplatz aus gesehen, im November 2023.

Die Cervelat ist gewissermassen unsere Schweizer Nationalwurst. Für kulinarisch Interessierte weiss Wikipedia viel mehr über die preisgünstige Siedewurst als ich. Als ich ein Kind war, assen wir Cervelats oft roh oder aus der Bratpfanne. Und die Wurst gehörte obligatorisch an den Stecken, den wir auf der Schulreise übers Brätelfeuer im Wald hielten. Warum sie dem Haus am Bundesplatz seinen Spitznamen gegeben hat, darüber sind schon allerlei Überlegungen angestellt worden. Vielleicht liegt es an den vielen Rundungen. Es kann aber auch sein, dass die Mieten für die Verhältnisse der fünfziger Jahre so hoch waren, dass die Mieterschaft häufig Cervelats ass.

Ich überlege noch, ob ich den englischen Freunden zwecks Anreicherung der Anekdote mal Cervelat zubereiten sollte. Als augenzwinkerndes Budget-Menü nach dem Galadiner am 1. Januar vielleicht? Mit Kartoffelsalat könnte das hinkommen.

Das Wichtigste am Cervelat-Palast ist auf dem Bild oben nicht zu sehen: das Kino Capitol. Ihm wird mein nächstes Beitrag gewidmet sein.

 

Into the Wild

Wer Internet-Kritiken von Jon Kracauer’s „Into the Wild“ liest, stellt verblüfft fest: Viele Leute verstehen nicht, um was es in diesem Buch geht. Klar, es ist die Biographie von Christopher McCandless, einem jungen Mann aus gutem Hause im Osten der USA, der tatsächlich existiert hat. Kurz nach Beendigung des Gymnasiums liess McCandless alles hinter sich, Freunde, Familie, beste Karrierechancen und begab sich auf einsame Abenteuer in die dünner besiedelten Weiten seines Landes. Er strandete schliesslich in Alaska, wo er 1992 mit nur 24 Jahren einen jämmerlichen Hungertod in einem verlassenen Bus in der Wildnis starb. Viele Amateur-Kritikerinnen und Kritiker erklären McCandless vorschnell zum untauglichen Helden. Er war so egoistisch, seine Familie mehrere Jahre lang ohne Nachrichten zurückzulassen.

Aber dem Autor Jon Kracauer, selbst ein angefressener Bergsteiger, geht es nicht um ein schnelles moralisches Urteil. Er widmet sich vielmehr der Frage: Wie konnte ein an sich intelligenter Mensch derart kläglich scheitern? Diese Frage liegt den Tragödien der Weltliteratur zugrunde.  Kracauer zitiert auch immer wieder Werke der grossen literarischen Aussteiger-Tradition Amerikas, Henry David Thoreau und Jack London’s „Call of the Wild“. In diesen Büchern geht es um die Sehnsucht nach einem ursprünglicheren und intensiveren Leben ausserhalb der Gesellschaft, in der Natur. Das spricht viele Leute an, auch mich. Oft fühlte ich mich bei der Lektüre an meine eigenen, zahmen Spaziergänge erinnert, bei denen ich voller Glück novemberfarbene Bäume und vom Regen angeschwollene Bäche bestaune und gestern drei Regenbögen sah. Es sind intensive Momente. Da draussen in der Kälte schwingt auch die Frage mit: Wie lange würde ich es aushalten hier draussen, ganz allein? Mit wie wenig könnte ich leben? Mit wie wenig Lohn, Rente und Rendite? Mit wie wenigen Connections und Konventionen? Mit wie wenig menschlicher Wärme?

Die Helden von Henry David Thoreau und Jack London überleben, wachsen an ihren Abenteuern und kehren in die Zivilisation zurück. Der junge McCandless stirbt, weil er hirnrissige Risiken eingeht und guten Rat konsequent in den Wind schlägt. Kracauer legt nahe, dass McCandless auch deshalb das extreme Abenteuer gesucht hat, weil er die Erwartungen seines extrem erfolgreichen Vaters nicht aushielt. Nun ist Kracauer Journalist und hat mit McCandless senior gesprochen – er kann aber den vermuteten Konflikt nicht nachweisen (oder will dem trauernden Vater keine Mitschuld am Tod seines Vaters unterstellen). Also behilft er sich mit einem Kunstgriff: Er schildert seinen eigenen Konflikt mit Vater Kracauer und wie dessen hohe Erwartungen ihn selbst zu einem irrwitzigen Bergsteiger-Projekt in Alaska verleitet haben.

Ist das Buch also besser als seine Kritikerinnen meinen? Ich bin noch nicht ganz fertig, aber im Moment scheint mir: Es ist besser als viele denken, doch Kracauer kratzt nur an der Oberfläche von dem, was in seinem Stoff drin wäre. Ob er – statt ein Sachbuch zu verfassen – besser eine fiktive Biografie geschrieben und sich mehr Freiheiten genommen hätte?

Jon Krakauer: „Into the Wild“, Pan Paperbacks 1996, 205 Seiten. Der Stoff wurde von Sean Penn unter dem gleichen Titel 2007 verfilmt, mit einem bezaubernden Emile Hirsch in der Hauptrolle. Der Streifen kostet das Grauen des Verhungerns in der Wildnis sehr eindringlich aus.

 

Lippenlesen bei Dr. Aeschlimann

Hörende schwärmen gerne von der Magie des Lippenlesens. Ich sage ihnen dann jeweils leicht ungehalten, ich könne gar nicht lippenlesen, lippenlesen sei eine Zumutung. Klar, Frühertaubte können es oft unglaublich gut. Aber für uns Spätertaubte fällt schon ins Gewicht, dass sich am Mund selbst nur etwa 30 Prozent der im Mund produzierten Laute ablesen (oder eher erraten) lassen. Klar, ich verstehe Leute besser, wenn ich ihren Mund sehe. Aber meiner Meinung nach hat das einfach damit zu tun, dass dann die Schallwellen aus diesem Mund auch ohne Umwege in meine Hörgeräte gelangen.

Nun musste ich diese Woche zu Dr. Aeschlimann, dem Endokrinologen, der in zehn Tagen meine Schilddrüse behandeln wird – eine harmlose Sache, hat man mir versichert. Damit ich schon mal weiss, was auf mich zukommt, simulierten wir kurz die OP-Situation. Das wird alles ohne Narkose vonstatten gehen. Ich werde mich auf einen Schragen legen müssen, und Herr Aeschlimann wird sich von hinten über meinen Kopf beugen. Ich lag also da und sah, wie sie sein Gesicht von oben in mein Gesichtsfeld schob, verkehrtherum, und er redete. Mit verkehrten Lippen! Was für ein verwirrender Anblick! Ich bekam Panik, diese Art von Panik, die ich in letzter Zeit bekomme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Dinge auditiv aus dem Ruder laufen. Ich sagte spontan: „Zunderobsi* lippenlesen ist aber ziemlich schwierig.“

Dr. Aeschlimann ist ein umsichtiger Arzt. Er vergisst nur selten, dass ich nicht gut höre. Er sagte: „Ja, das ist mir eben auch durch den Kopf gegangen.“ Er wird dran denken, wenn ich da auf dem Schragen liege. Mich aber beschäftigt seither die Frage, ob ich tatsächlich intensiver Lippen lese als ich immer behaupte.

*schweizerdeutsch: verkehrtherum

In eigener Sache

Falls jemand von Euch am kommenden Dienstag, 14. November, in Luzern sein sollte: Ich lese am Abend in der Loge Luzern an der Moosmattstrasse 25 drei kurze Texte. Die Veranstaltung heisst „Anlesen“ und bietet literarischen Neulingen einen recht intimen Rahmen, ihre Texte und literarischen Experimente präsentieren könnten. Wir werden zu sechst sein, ich kenne nur eine der ebenfalls lesenden Personen, Astrid von Rotz. Wir beide werden Text zum Thema Schwerhörigkeit vorlesen. Was die anderen machen? Da bin ich auch neugierig. Mehr Infos hier;

Loge – Deine Literaturbühne (logeluzern.ch)

 

Brief von meinem jüngeren Selbst

Bertolt Brecht, den mein jüngeres Ich sehr verehrt hat.

Es ist Mode geworden, dass man Briefe an sein jüngeres Selbst schreibt. Man tut es in der Psychotherapie, man tut es auf X (vormals Twitter). Meist tut man es, um die Ängste seines jüngeren Ichs zu beschwichtigen und ihm zuzuzwinkern: Ist ja alles besser herausgekommen als man mit 20 befürchtet hat. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten war mir aber plötzlich, als bekäme ich einen Brief von meinem jüngeren Selbst. In einem Couvert aus in den achtziger Jahren gebräuchlichem, rauem Recycling-Papier. Als erstes fiel mir daraus ein Blatt mit einem Gedicht von Bertolt Brecht entgegen: An die Nachgeborenen. Ich schmunzelte. Die junge Frau Frogg war eine grosse Verehrerin von Bertolt Brecht. Unterstrichen hatte sie die Verse: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Daneben hingekritzelt die Fragen meines jüngeren Selbst an mich: „Also, dass zu meinen Lebzeiten ähnlich kriegerische Zeiten ausbrechen werden wie damals bei Brecht, damit habe ich nicht gerechnet. Darf man bei Euch jetzt auch nicht mehr ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden? Belastet Euch die Nachrichtenlage? Muss ich mir Sorgen um Euch machen?“

„Gemach! Gemach!“ antwortete ich meinem jüngeren Selbst unverzüglich. „So schlimm ist es jetzt doch noch nicht. Bedenke doch: Brecht schrieb dieses Gedicht im Exil in den dreissiger Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, die ihn wegen seiner kommunistischen Haltung staatenlos gemacht hatten. Die Verhältnisse waren damals für ihn und für viele in Europa unmittelbar und existenziell bedrohlich. Natürlich sind wir aufgewühlt, natürlich denken wir an die Opfer dieser entsetzlichen Hamas-Verbrechen. Natürlich streiten wir darüber, auf welcher Seite wir stehen. Aber wir erleben auch (leider), wie man gegen schlechte Nachrichten unempfindlich wird, wenn sie nicht gleich aus dem Nachbardorf kommen. Die Lage in der Ukraine? Im Moment eher nebensächlich. Und am letzten Wochenende verfolgten wir geradezu euphorisch ein Gott sei Dank stinklangweiliges Ritual: Parlamentswahlen in der Schweiz. Die Stimmung in den Fernsehstudios war ¨überschwänglich, dabei waren die Wähleranteilverschiebungen minim (und fielen leider zugunsten der Rechtsbürgerlichen SVP aus). Das Hochgefühl mag – zugegeben – auch damit zusammenhängen, dass Wahlen, deren Resultate niemand in Zweifel zieht, auch in so genannt demokratischen Staaten keine Selbstverständlichkeit mehr sind. (Edit: Kurz nachdem ich das hier geschrieben hatte, kam heraus, dass man auch den Schweizer Wahlen nicht mehr trauen kann: Das Bundesamt für Statistik  hatte sich um ein paar Promillepünktchen verrechnet. Kurze Entrüstung in den Medien, mehr nicht).

Haben wir deshalb aufgehört, über Bäume zu reden? Oder über das Wetter? Nein, im Moment dürfen wir zum Glück wieder freundlich sein zu unseren Bekannten. Zugegeben: Während der Pandemie war das manchmal anders. Aber das vergessen wir jetzt lieber.“

Im Nebel des Vergessens

Neulich kaufte ich in einer Confiserie ein paar Schöggeli. Ich nahm gerade meine Karte zum Bezahlen aus dem Portmonee, als die Kassiererin zu jemandem hinter mir sagte: „Bitte warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich bei Ihnen.“ Ich zahlte, drehte mich um und sah hinter mir eine alte Frau mit wirrem Haar. Sie hatte ein Vollkornbrötchen schon halb verschlungen und riss mit den Zähnen gerade ein weiteres Stück Krume ab. Ein verstörender Anblick – weil die Frau so gierig ass und auch, weil sie gegen drei Regeln des Verhaltens im Laden einer europäischen Stadt verstiess: Man hält sich dort nach Möglichkeit frisiert auf. Wenn man etwas zu Essen kauft, bezahlt man, bevor man isst. Man schlingt unter den Blicken anderer nicht gierig Dinge in sich hinein. Die Frau sah nicht aus, als wäre sie soeben aus einem Land mit komplett anderen Regeln in unsere Stadt gekommen. War sie derart hungrig? War sie dement? Hatte sie einfach vergessen, wie man sich im Laden benimmt? Ich vermutete letzteres. Sie tat mir leid, aber ich sah nur eine Handlungsmöglichkeit: aus dem Weg gehen und sie ihr Brötchen bezahlen lassen.

Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, 1818 – wenn wir älter werden, versinkt die Welt immer mehr im Nebel. Da fragen wir uns manchmal, ob wir noch über der Sache stehen. (Quelle: Wikipedia).

Ich habe in letzter Zeit beruflich viel mit älteren Menschen zu tun. Viele der Kundinnen und Kunden, die bei mir schriftlich ihre Meinung zum Tagesgeschehen deponieren, sind über 80. Einige beliefern mich seit einem Jahrzehnt oder mehr. Ich kann aus der nachlassenden Kohärenz ihrer Texte, aus ihren Wiederholungen ablesen, wie bei vielen die geistigen Kräfte nachlassen. Auch im Familienleben: mehr alte Leute, bei denen die immer gleichen, alten Ängste und Kümmernisse aus dem Nebel des Vergessens ragen. Ich frage mich oft, ob das bei mir jetzt auch anfängt.  Zum Beispiel dann, wenn ich nachts nicht schlafen kann und mich wieder mal eine unerklärliche Wut auf jemanden packt, der mich – so sehe ich das um fünf Uhr morgens – irgendwann in meinem Leben gekränkt hat. Als ich jung war, war Erinnerung für mich vieles: Identität, Nostalgie, Verbindung mit meiner Grossmutter. Als ich  fünfzig geworden war, zählte Erinnerung für mich ein Jahrzehnt lang gar nicht. Die Welt veränderte sich schnell, und nur zu gerne liess ich manche Dinge im Nebel des Vergessens ruhen. Jetzt tauchen zwischendurch Geschichten aus meinem Leben wieder auf, die es wert sind, von der Sonne des neuen Tages neu beleuchtet zu werden. Deshalb habe ich hier eine neue Kategorie erstellt: die Nebel des Vergessens.

The Sound of Metal

Ruben ist eben ertaubt und hilflos – aber nur am Anfang. Da muss seine Freundin Lou noch für ihn telefonieren. (Quelle: guardian.co.uk)

The Sound of Metal ist ein feinfühliger Film über einen Menschen, der sein Gehör verliert. Ruben Stone (Riz Ahmed)  ist Drummer und gerade auf Tour, als er Gespräche plötzlich nur noch als fernes Glucksen hört. Wie befremdlich das für Betroffene tatsächlich klingt, ist im Film sehr gut dargestellt. (Jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte – ich bin selbst hochgradig schwerhörig und bekomme auch bei der besten Vertonung nie ganz mit, wie ein Film tönt). Der Film wechselt ab zwischen der in Filmen normalen Vertonung und der Darstellung von Rubens Hörerlebnis, auch als bei Ruben dann alles weg ist. Stille.

Was in einem Menschen in einem solchen Moment vor sich geht, ist überwältigend, aber schwierig sichtbar zu machen. Ich selbst habe nach den ersten, schweren Hörstürzen in meinem guten Ohr wochenlang Tränenströme vergossen, aber das hätte kaum bildschirmtauglich ausgesehen. Ruben hat einen oder zwei Wutanfälle und guckt sonst meist mit riesigen Augen verwirrt bis panisch um sich. Das sieht glaubwürdig aus. Seine Partnerin und Bandkollegin Lou (Olivia Cooke) muss ihm erst mal helfen, seine dringendsten Probleme zu lösen. Dann kommt er in eine Institution auf dem Land, wo er in einem Crash-Kurs in Gebärdensprache lernt und mit seinem neuen Ich ins Reine kommen kann. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, in sein altes Leben zurückzukehren.

Das Werk ist mehrfach preisgekrönt. Ich glaube daher, dass es auch Menschen etwas gibt, die sich herzlich wenig für Gehörprobleme interessieren. Erstens ist die Musik am Anfang abgefahren (soweit ich das beurteilen kann). Zweitens ist es ein Film über etwas, was jedem Menschen passieren kann: dass er etwas verliert, was ihm Leib und Seele zusammenhält. Drittens ist die Geschichte  aus Rubens Perspektive erzählt, und eins ist Ruben nie: ein armer Behinderter, einer von den anderen, einer, zu dem man auf Distanz gehen muss. In seiner neuen Umgebung findet er sich schnell zurecht. Er hat einen Plan, und er findet Mittel und Wege, ihn ins Werk zu setzen.

Dennoch habe ich Fragen an den Film. Erstens wird bei Rubens Eintritt in die Institution klar, dass er vier Jahr zuvor heroinsüchtig gewesen ist. Warum ist das relevant? Weil das Heroin mit ein Grund für die Ertaubung sein könnte? Weil der Film einen Protagonisten braucht, der schon vorher in einer prekären Verfassung war? Suchtprobleme als Folge von Schwerhörigkeit sind nichts Ungewöhnliches. Aber so wie sie hier daherkommen, als unerklärte, alte Geschichte, überzeugen sie mich dramaturgisch nicht. Zweitens frage ich mich, warum der Film genau an der Stelle endet, wo er eigentlich anfangen sollte: Als Ruben merkt, dass der Weg zurück in die Welt der Hörenden auch mit bester Technologie sehr schwierig wird.

Übrigens: Danke, Herr Hopkins

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