Schweizerdeutsch 46: Die Wirkungslosigkeit unseres Tuns

Das hed käi Iifloss of d’Vermehrig vo de Waudamäisi

Standarddeutsch: Das hat keinen Einfluss auf die Vermehrung der Waldameisen. Sinngemäss: Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, das hat keinerlei Auswirkung.

Herr T. und ich sind zu Besuch bei der alten Dame (89), meiner geliebten Freundin. Sie ist gebrechlich geworden und besorgt über die Weltlage. So viele Staaten üben gerade Gewalt aus, gegen ihre eigene Bevölkerung oder gegen jene unmittelbar benachbarter Territorien! Herr T. sagt, dass er die Produkte aus einem dieser Staaten boykottiere, schon seit einiger Zeit – Orangen zum Beispiel. Die alte Dame ist sofort besorgt, sie will doch alles richtig machen, schaut nach ihrer Obstschale und sagt zu mir, die direkt neben der Schale sitzt: „Schau mal auf das Label! Ist sie von dort?!“ Mir tut es bereits leid, dass wir sie verunsichert haben, und überhaupt ist das Label grün und ohne Länder-Herkunftsbezeichnung. Ich möchte sagen: „Mach Dir keine Sorgen wegen dieser einen Orange! Das hed käi Iifloss of d’Vermehrig vo de Waudamäisi.“ Das hat unsere Mutter jeweils zu uns Kindern gesagt, wenn wir etwas getan hatten, was vielleicht Auswirkungen hätte haben können, die wir nicht bedacht hatten. Aber nun bekam es plötzlich auch noch eine andere Bedeutung: Ich sah diese einzelne Orange einer alten Frau und mir wurde bewusst, wie erbärmlich gering unsere Einflussmöglichkeiten auf das Weltgeschehen sind.

Schweizerdeutsch 44: Grillieren

grilliere (V)

Hochdeutsch: Grillen. Und damit sind in diesem Fall nicht jene Insekten aus der Familie der Langfühlerschrecken gemeint, die man an Sommerabenden stridulieren – das heisst: mit ihrer Schrillader auf der Unterseite des rechten Vorderflügels zirpen – hören kann. Die heissen bei uns einfach „Grille“, singular und plural. Gemeint ist hier die Tätigkeit, bei der man Fleisch über dem offenen Feuer brät, oft an Sommerabenden unter freiem Himmel.

Ich weiss, dass man Deutsche gut damit amüsieren kann, dass wir in der Schweiz in das einfache, zweisilbige Verb „grillen“ eine verkomplizierende dritte Silbe einbauen. Dazu zitiere ich gerne den Autor Kevin von premium-grill.ch: „Wir sprachlich etwas gewandteren Deutschschweizer wissen um den Umstand, dass das Wort für „Fleisch braten“ vom französischen ‚griller‘ stammt und als Fremdwort eine ‚-ieren‘-Endung enthält. Der gleiche Unterschied besteht auch bei ‚parken‘ und ‚parquer‘, aber das nur nebenbei.“

Und eben: Mit dieser Extra-Silbe lassen sich Doppeldeutigkeiten eliminieren.

Schweizerdeutsch 43: Vater sucht ein Restaurant

Do chasch nüd säge.

Standarddeutsch: „Da kannst Du nichts sagen.“ Sinngemäss: „Dagegen ist nichts einzuwenden.“

Gestern wollten Herr T. und ich online drei Hotelübernachtungen in einer kleinen Stadt im Westen Deutschlands buchen. Wir klickten uns durch rund ein halbes Dutzend Angebote, irgendwann hatten wir ein zentral gelegenes Haus vor uns, erschwinglich, leidliche Bewertungen, und ich sagte: „Do chasch nüd säge.“

Diesen Satz hatte ich seit Jahren nicht gehört und sowieso nicht gesagt. Woher kam das jetzt wieder!? Da sah ich meinen kleinen Bruder und mich im Schlepptau unserer Eltern in der französischen Kleinstadt Evian, bei einem Tagesausflug über die Landesgrenze, um 1980, vielleicht unser erster. Bei meinen Eltern hatte sich bescheidener Wohlstand eingestellt. Es war Mittag. Wir gingen hungrig in der Stadt umher, Vater und Mutter studierten vor jedem Restaurant die Speisekarte mit den Preisen und etwa jedes zweite Mal sagte mein Vater: „Do chasch nüt säge“, das heisst: Er fand es akzeptabel. Aber ich glaube, die Preise waren überall ähnlich, und wo das Essen gut war, wussten wir halt auch nicht. Wir standen ratlos da, als der Briefträger mit einem Töffli den Hang herauftuckerte und meine Mutter sagte: „Komm, wir fragen ihn. Briefträger wissen immer, wo man gut isst.“ Das tat dann mein Vater, stolz auf sein gutes Französisch. An jenem Tag gab es einen Rindsbraten mit Rotweinsauce. Passabel und erschwinglich.

 

Schweizerdeutsch 41: mundwässernd

gluschtig (Adj. oder Adv.)

Man kann dieses Wort nur annähernd übersetzen. Wir sagen zum Beispiel: Dieses Erdbeertörtchen sieht gluschtig aus, das heisst, ungefähr: Es sieht lecker aus. Oder wir sagen „gluschtig“ und meinen: Beim Anblick dieser in Mozarella ertrinkenden Pizza läuft uns das Wasser im Munde zusammen. Oder: Ich habe solchen Appetit auf diesen Salat mit Avocado und Baumnüssen! So gluschtig. Das Wort „Lust“ steckt in der Vokabel, man verwendet sie aber ausschliesslich für Speisen, und ob etwas „gluschtig“ ist oder nicht, entscheidet immer das Auge.

Auch auf den Kochseiten von Schweizer Medien findet sich das Adjektiv gelegentlich. Früher wurde mir bei ihrem Anblick dort aber immer ein bisschen übel, weil ich sie so anbiedernd fand.

Schweizerdeutsch 40: Dieses Frühlingsgemüse

Schpargle (N, hier im Plural)

Standarddeutsch: Spargeln, zum Beispiel in „Es gibt Spargeln zum Abendessen“

Eines Tages vor vielen Jahren lud meine deutsche Freundin Helga uns zum Essen ein. „Es gibt Spargel“, sagte sie. Ich war befremdet, denn bis zu jenem Tag hatte ich nicht gewusst, dass „Spargel“ für Deutsche etwas Unzählbares ist, wie für Engländer „fish“ oder „sheep“. Wo doch die Zahl der weissen oder grünen Gemüsepfähle, die man beim Spargelessen auf dem Teller hat, meist gut überschaubar ist. In der Schweiz kommt die Spargel daher im Plural auf den Tisch, das lässt sich unschwer in schweizerischen Internet-Kochrezepten nachprüfen, zum Beispiel hier. Wir sagen: „Zom Znacht gits Schpargle.“ Es hat möglicherweise auch damit zu tun, dass das Wort „Schpargel“ für uns ein Zungenbrecher wäre, gewiss würden wir – jedenfalls im Luzernischen – schnell vom „Schpargu“ sprechen, das könnte dann auch singular sein, und so wüssten wir nicht sicher, ob wir vielleicht nur einen Spargel auf den Teller bekommen, was auch einen kleinen Hunger niemals stillen würde.

Schweizerdeutsch 38: Osterbrauch

Eiertütsche (N, n)

Standarddeutsch: Eier aneinanderschlagen

Unser Osternest, zwei der farbigen Hühnereier haben wir bereits weggetütscht.

Am Eiertütsche können zwei oder mehr Personen teilnehmen. Jede wählt ein österlich bemaltes, zehn Minuten gekochtes Hühnerei. Nun erfolgt ein Wettkampf, bei dem jeweils zwei Personen mit ihren Eiern gegeneinander antreten. Ziel ist es, die Schale des Gegner-Eis zu beschädigen. Dies geschieht nach strikten Regeln. Zuerst müssen die Gegner ausmachen, wer sein Ei von oben auf dasjenige des anderen hauen darf. Dabei gilt: „Spitz gäge Spitz“ oder „Gupf gäge Gupf“ – man schlägt also stets entweder die Spitzen der beiden Eier aufeinander – oder die unteren, mehr gerundeten Teile. Nach dem Erstschlag, bei dem meist eines der Eier beschädigt wird, dreht man die Eier um und schreitet zum Zweitschlag. Wenn danach beide Eier beschädigt sind, gibt es einen Drittschlag, Spitz gegen Gupf. Gesiegt hat, wer weniger Schäden am Ei hat. Danach isst man die Eier mit Aromat oder Salz.

Und an Euch alle noch der momentan am häufigsten gehörte Gruss: „schöni Oschtere!“

Schweizerdeutsch 23: Auf dem Bauernhof

Zobig (N, m oder n)

Standarddeutsch wörtlich: „Zu Abend“, eine Zwischenmahlzeit.

Erläuterung: Wir Städter essen kaum noch Zobig, die Leute auf dem Land schon, meist so um 16 oder 17 Uhr. Auf dem Bauernhof wird nach dem Zobig noch gemolken, erst dann gibt es Znacht. Als ich ein Kind war, waren wir manchmal bei meinem Onkel auf der Winterweid zum Zobig. Dort war mein Vater aufgewachsen.

Es kamen alle, die dort wohnten, bei der Ernte geholfen hatten oder sonst gerade in der Gegend waren : „de Vatter“ (Grossvater), „de Onku Wiisu“ (Grossonkel Alois, der Knecht), Onkel Jakob, Tante Lisebeth oder Tante Theres, in den siebziger Jahren nach und nach drei kleine Cousinen und ein kleiner Cousin und wir vier aus der Stadt. Oft rumpelte auch noch Onkel Kari mit seinem alten Chlapf durch die Einfahrt, manchmal waren Handwerker da oder weitere Verwandte. Es konnte laut und fröhlich werden.

Die Leute kamen vom Heuen oder aus dem Stall, durch die Haustür direkt in die grosse Küche. Ein langer Tisch füllte den Raum, hinten links war „de Füürhärd“, die eiserne Feuerstelle, die zugleich Kochherd und Heizung war. Es gab Most, Brot und Käse aus der nahen „Chääsi“, „und weissen Kaffee“, erinnert sich mein Vater, also Kaffee mit Rahm von der eigenen Milch. „Anke“, also Butter, gab’s auch. „Aber damit waren sie sparsam“, sagt mein Vater heute. Und: „Überhaupt: Alles andere wäre Luxus gewesen.“

An der Decke hingen klebrige Fliegenfänger wie Zapfenlocken, Fliegen hatte es trotzdem, und unter dem Tisch tummelten sich Katzen jeden Alters, mehr oder weniger gesund. Ich liebte die Katzen.

Danke Edith, Du hast mit Deiner Frage nach dem Zobig eine Flut von Erinnerungen ausgelöst! Falls jemand Fragen hat: gerne!

Schweizerdeutsch 22: Nachhilfe für den Hamburger Kollegen

Znüni (N, n)

Wörtlich: „Zu neun Uhr“

Standarddeutsch: kleine Zwischenmahlzeit am Morgen, oft verbunden mit einer kurzen, geselligen Pause.

Erläuterung 1: Mein Gottenbub ist jetzt Zivi. Er arbeitet in einer Werkstätte für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf dem Land. Auch einen jungen Betreuer aus Hamburg hat es in die Institution verschlagen, berichtet Tim. „Er versteht Schweizerdeutsch. Was er aber gar nicht verstanden hat, ist das Wort Znüni. Dabei ist es so einfach. Funktioniert doch genau gleich wie Zvieri.“ Überhaupt heissen unsere Mahlzeiten: Zmorge, Znüni, Zmittag, Zvieri, auch Zobig, und Znacht.

Erläuterungen 2: Über das Znüni im Handwerksbetrieb singt die unvergessliche Band Stiller Has, hier geht’s zum Video.

Schweizerdeutsch 16: Haferflocken und Mäuschen

Müesli (N, n) oder Birchermüesli (N, n)

Hochdeutsch: Müsli

Erläuterungen 1: Erfunden vom Schweizer Arzt Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867 bis 1939) für seine Kurklinik in Zürich, gehört das Birchermüesli zu den wenigen Schweizer Speisen, die auch in anderen Ländern gegessen werden. Hier das Originalrezept.

Erläuterungen 2: Meine Freundin Ella hat mir einige Tipps für diese Rubrik gegeben. Zum Thema Müesli sagte sie: „Ich finde es seltsam, dass die Deutschen sich nie die Mühe nehmen, ‚Müesli‘ richtig auszusprechen. Immer sagen sie Müüsli. Aber das heisst doch etwas ganz anderes!“ Wir lachen beide, denn Müüsli heisst „Mäuschen“. „Ach, da musst Du Nachsicht haben mit den Deutschen“, sagt Linguistin Frogg, „Wenn Du so einen Diphthong nicht schon als Kleinkind lernst, musst Du Dich später richtig, richtig anstrengen, ihn aussprechen zu können.“

Schweizerdeutsch 8: Milchhaut

Gschiider Schlämpe n als Lämpe
Heisst auf Hochdeutsch: Besser Milchhaut als Streit

Erläuterungen: Es taugt fast zum Aphorismus, was unser Freund, der Stauffacher, gestern wohl spontan erfunden hat. Wir sassen bei ihm und der Stauffacherin auf 850 Metern über Meer in einer Alphütte, dem Wochenendhaus der Familie. Draussen lag Schnee. Die Stauffacherin bot uns heisse Schokolade zum Aufwärmen an, mit frischer Kuhmilch vom Bauernhof nebenan. Wir nickten enthusiastisch. „Aber Achtung!“ sagte sie, „Die Milch ist noch nicht entrahmt, ihr müsst viel rühren, sonst gibt’s Schlämpe.“ Ich mache eine wegwerfende Geste: „Schlämpe machen mir keine Angst.“ Und „Lämpe“ ist ein Wort, das wohl in den achtziger Jahren Eingang in unsere urbane Alltagssprache fand. „Si hed Lämpe mit ihrem Ex.“ Hier mehr zu diesem Wort.