Im Herbst 2009 sass ich im Kantonsspital und weinte. Ich hatte gerade mehrere Hörstürze auf meinem guten Ohr gehabt. Ich gab mir eine schlechte Prognose, auch wenn der Ohrenarzt auf Zweckoptismus machte.
Eine Pflegerin wollte mich trösten, setzte sich zu mir ans Bett und sagte: „Sie müssen das jetzt einfach mit der Einstellung nehmen: Mein Gehör ist schwach, jetzt müssen andere Sinne ran!“ Ich schätzte die Geste, konnte aber schon damals nicht viel mit ihrem Rat anfangen. Heute, nach mehr als 15 Jahren, in denen meine Prognose sich allmählich bewahrheitete und doch alles nicht so schlimm kam, muss ich es einmal sagen: Kein anderer Sinn kann das Gehör auch nur annähernd ersetzen.
Eine kurze Geschichte, die umreisst, wie ich das meine: Vor etwa zwei Jahren war ich am Konzert einer Band, deren Lead-Sängerin ich persönlich kenne. Die Musik war elektronisch verstärkt, deshalb musste ich die Hörgeräte abstellen. Merke: Hörgeräte sind eine extrem hilfreiche Erfindung, aber Musik können sie, zumindest für mein Gehör, nicht adäquat wiedergeben.
So sass ich eine Stunde da und bekam von der Musik nur ganz wenig mit. Mein Blick aber klebte am Gesicht der Leadsängerin folgte geradezu besessen ihrer Mimik. Ihr Gesicht war erstens das am wenigsten langweilige im Saal. Zweitens merke ich in solchen Momenten, dass mein Auge Information sucht, die meine Ohren mir nicht liefern können. Nun denken wohl einige: Zum Glück kannst Du von den Lippen lesen, da hast Du wenigstens den Text verstanden! Aber Lippenlesen können ist für die meisten Spätertaubten ein Mythos, sowieso in einer Fremdsprache, und die Sängerin sang Englisch.
Ihre Miene war mal schalkhaft, mal etwas selbstgefällig; mal angestrengt, mal leicht und fröhlich, immer sympathisch. Aber es war eine ungeheuer ermüdende Stunde, denn ich konnte meine Augen noch so sehr anstrengen, sie konnten mir nicht das geben, was ich eigentlich von diesem Abend gewollt hätte.
Ich muss aber einräumen: Es gibt Moment, da merke ich, dass ich dank der Mehrarbeit meiner Augen (und meines Geruchssinns) mehr von meiner Umgebung mitbekomme als andere. Manchmal kann ich meine Erkenntnisse sogar für die Allgemeinheit nutzbar machen – aber davon erzähle ich ein andermal.