Im Namen aller Mütterchen in Beige

In den Jahren zwischen 50 und 59 fühlte ich mich beinahe sicher vor den  ungebetenen Tipps irgendwelcher Lifestyle-Päpstinnen. Aber kaum rückt der 60. Geburtstag näher, diskutieren wir plötzlich über Longevity oder über die Frage: Was heisst gut altern?

Neulich las mir Herr T. eine Passage des Buches „Altern“ von Elke Heidenreich vor, die ich selbst gnädig überlesen hatte. Die 81-jährige Autorin schreibt: „Ich sehe um mich herum Frauen, die anders altern als ich, und manchmal, wenn nach Lesungen eine Frau beim signieren zu mir sagt: ‚Wir sind derselbe Jahrgang‘, und ich sehe hoch, und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin nicht ich.“*

Sofort empörte sich mein Herz für alle „Mütterchen in beige“, obwohl ich selbst kein einziges beiges Kleidungsstück besitze. Ich wurde richtig laut und sagte schliesslich das, was ich zu Fragen des Kleidungsstils schon mein ganzes Leben lang sage: „Jede und jeder lebt nach bestem Wissen und Gewissen sein bestmögliches Leben!“ Mit 59 Jahren Lebenserfahrung würde ich einräumen, dass es gierige und zynische Menschen gibt. Aber die erkennt auch die Lifestyle-Päpstin nicht unbedingt an der Farbe der Bekleidung.

*Elke Heidenreich: „Altern“, Hanser Berlin, 2024, S. 62. Um eins klarzustellen: Ich möchte keiner Person die Lektüre vergällen, die das Buch vielleicht bald lesen wird. Es stehen auch einige sehr gute Dinge drin!

Bewegungsmuffel im Fitness-Center

Seit April gehe ich zweimal in der Woche zum 30 Minuten-Training ins Mrs Sporty. Ich weiss meist gar nicht mehr, weshalb ich damit angefangen habe. Ich merke einfach, dass es mir guttut. Das Lokal ist nur für Frauen. Man sieht dort sehnige Mädels, die sich wohl auf den nächsten Halbmarathon vorbereiten. Aber auch Bewegungsmuffel wie mich. Die Älteste, die ich dort getroffen habe, ist meine über 90jährige Nachbarin, die Kunstsinnige.

So siehts aus, wenn niemand da ist (Quelle: Mrs Sporty).

Geschenkt, dass ich von der Musik dort nur Gerassel höre. Geschenkt, dass ich es seltsam finde, meine individuell auf mich abgestimmten Übungen vor hochformatigen Bildschirmen zu machen und mir dabei wie in einem Spiegel zuzuschauen. Auf der oberen Hälfte des Bildschirms sieht man jeweils eine Vorturnerin, die zeigt, wie’s geht. Es sind unterschiedliche Frauen, echte Frauen, nicht KI, und sie schauen beim Vorturnen stets in eine unergründliche Ferne. Ich habe Spitznamen für sie: The Bitch (bei der einen Übung, die ich einfach nicht kann), the Witch (bei der Übung, die ich hasse) und die gestrenge Annette (so hiess meine Schwiegermutter selig). Mit Annettes Übungen habe ich mich arrangiert. Bei ihr bekomme ich fast immer auf eine ansprechende Punktzahl.

Es sind 16 Übungen, und eigentlich warte ich vor allem auf diesen einen Moment: dass mir ein Schweisstropfen von einer Haarsträhne an der Schläfe ins Gesicht rinnt. Das geschieht meist nach Übung 9. Ich liebe es, wenn ich spüre, wie mir der Körper Schweiss schluckweise durch die Poren pumpt.

Als der Sommer vorbei war und es kühler wurde, machte ich wieder öfter lange Spaziergänge. Da merkte ich wieder, weshalb ich überhaupt mit all dem angefangen habe: Wenn ich lange gehe, tun mir die Kniegelenke abartig weh. Früher spürte ich das bei jeder einzelnen Steigung, bei jeder verdammten Treppenstufe. Jetzt nur noch, wenn ich viel unterwegs bin oder wenn der Herbstwind um die Ecken pfeift.

Carmen an der Abwaschmaschine

Sprechen wir also über die Kaffee-Ecke! An einem Vormittag letzte Woche fand ich dort eine zierliche Gestalt mit hell gesträhnter Mähne vor. Sie beugte sich mit dem Rücken zu mir über die Abwaschmaschine. Ach, der weiblich gelesene Mensch II, dachte ich. Aber manchmal besiegt mein spontaneres Ich meine Ressentiments. Es sagte freundlich: „Oh, hallo Carmen, Du bist also die tapfere Seele, die diese Abwaschmaschine ausräumt!“ Ich wusste, dass das Geschirr in der Maschine zwar sauber war – aber das Ding so voll, dass ich bei meinem vorherigen Besuch nicht genügend Zeit gehabt hatte, es auszuräumen. Dabei stapelten sich neu verschmutzte Tassen schon in der Spüle. „Kann ich Dir helfen?“ fragte ich.

Sie lehnte ab. Aber dann hatten wir eine nette Konversation über das viele Geschirr überall. Das ist schon wegen meiner Schwerhörigkeit nicht selbstverständlich. Und dann hatte ich ja auch noch Ressentiments, und die reichten bis zum Frauenstreiktag 2024 zurück. Damals, am 14. Juni, hatte ich als Frau und potenzielle Teilnehmerin am feministischen Streik mich in unserer Zeitung als „weiblich gelesener Mensch“ bezeichnen lassen müssen. Zuoberst im Frontkommentar! Ich war so wütend, dass ich an jenem Tag nicht einmal den Frontkommentar zu Ende las, geschweige denn den Rest der Zeitung. Ich beschwerte mich sogar bei der Autorin des Kommentars.

Ich meine: Die Abschaffung des generischen Maskulinums ist eine 40 Jahre alte feministische Forderung. Doch bei unserer Zeitung war dessen Gebrauch bis 2021 Vorschrift. In den zehn Jahren vor der Pandemie mogelte ich mich um diese Regel herum (warum, siehe hier). Ich war mir aber stets bewusst, dass unsere Hausregeln die Existenz des weiblichen Geschlechts in der Sprache eigentlich nur in Ausnahmefällen vorsah. Und nun werden wir Frauen schon wieder überfahren, erst noch von so genannten Feminist*innen! Sorry, aber da finde ich sehr wohl, dass man uns Frauen „etwas wegnimmt“!

An jenem Tag also begegneten mir in der Kaffee-Ecke Carmen Zimmerhäckel und ihre Kollegin, Marina Hartkiesel, beide junge Redaktorinnen. Seither heissen die beiden bei mir der weiblich gelesene Mensch II und der weiblich gelesene Mensch I. Denn an jenem Tag sprach ich sie an, vielleicht zum ersten Mal ohne äussere Notwendigkeit. Ich nahm all meinen Mut zusammennehmen und fragte: „Sagt mal, fühlt ihr Euch angesprochen, wenn man Euch als weiblich gelesene Menschen bezeichnet?“

Sie sahen mich an, als wäre ich vom Mars und von oben bis unten grün. Dann sahen sie einander an, lächelten, liessen beim Nicken ihr Frisuren wippen und sagten: „Ja.“

Ü50 – die Vorteile

Neulich in der Stadt ging ein Mann an mir vorbei, der nach DKNY roch. Düfte lösen Erinnerungen aus, und so erwartete ich, dass ich mich sofort an der ewiggleichen, alten Gedankenkette würde entlanghangeln müssen. Dass sich mir die Frage stellen würde, warum DKNY mich zugleich anmacht und anwidert. Dass ich mich sodann an die verstörendste Liebesgeschichte meines Lebens erinnern würde – und dass ich wieder alle ihr zugehörigen Fragen über das Warum und Wozu und überhaupt würde durchdeklinieren müssen.

Aber nichts geschah. Das alles interessierte mich einfach nicht mehr.

Einsetzende Demenz? Nöö, wahrscheinlich nicht, dachte ich. Wahrscheinlich fühlt sich so die Permanenzphase an. So nennt Frank Bascombe seine Zeit als Mittfünfziger. Bascombe ist ein fiktiver Immobilienmakler, der über alles sehr gepflegt nachdenkt, während er mit dem Auto in New Jersey umherkurvt. Er ist der Held einer Romantrilogie von Richard Ford, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Nach Meinung von Bascombe kündigte die Permananenzphase „ein Ende des ständigen Werdens an, ein Ende der Überzeugung, dass das Leben mir ständig wunderbare Veränderungen bringen würde, auch wenn es dies gerade nicht tat. Sie kündigte einen Bruch mit der Vergangenheit an und verschaffte mir die Freiheit, nur undeutlich über sie nachzudenken.“*

Die Stelle habe ich mit Anfang 40 gelesen, und sie hat mir derart imponiert, dass sie mir in Erinnerung geblieben ist – was man vom Rest des Buches nicht behaupten kann. Ich hoffe, ich erreiche die Permanenzphase auch, wenn ich Ü50 bin, dachte ich damals. Ja, ich denke, ich habe sie erreicht. Ich denke nicht mehr jeden Tag darüber nach, wer ich bin und wer ich werden sollte, könnte oder dürfte. Ich bin, wer ich bin, und das ist jetzt erst mal ok so.

Ich wiege mich mit 56 nicht in der Illusion, dass ich unerschütterlich bin. Bei Frank Bascombe wurde die Permanenzphase jedenfalls ziemlich turbulent, daran erinnere ich mich auch noch. Aber im Moment habe ich einen Boden, auf dem ich stehe.

* Richard Ford: „The Lay of the Land“, London, Bloomsbury Paperback, 2006, S. 76. (Übersetzung von mir)

Übers Spazieren

Wenn wir nichts mehr beweisen müssen, werden wir wie unsere Urahnen: Wir streifen durch die Wälder und suchen Pfade über die Wiesen. Wir werden Wildbeuter ohne Wild, Nomaden ohne Zelte. Wir lassen uns von unseren Launen von Ort zu Ort tragen. Es hat keinen Sinn und Zweck, aber es gehört zu den Dingen, für die unsere Körper gemacht sind. Wenn wir es tun, werden wir Teil der Welt, aus der wir gefallen sind.