Selbstverständlich

Beim Einkaufen im Coop muss ich mich mal kurz an dem Gestell mit den Duschgel-Aktionen festhalten. Mein Gleichgewichtssin spinnt wieder. Nur wenn ich mich irgendwo festhalten kann, fühle ich mich sicher. Ich versuche, nicht aufzufallen. Ich beobachte die Kundinnen, die an mir vorbeihasten. Wie sicher sie die Kurven nehmen! Mit welch tänzerischer Leichtigkeit sie sich drehen und wenden! Beneidenswert. Sie sehen dabei ein bisschen arrogant aus, finde ich. Wie Töchter aus gutem Hause, die Gewissheit haben, dass die Dinge ihnen ganz selbstverständlich zustehen.

Darf man Trübsal blasen?

Soll man in seinem Blog Trübsal blasen? Soll man über seine Schwerhörigkeit, seine Schwindelanfälle, seine Depressionen, seine Krampfadern, seine Schwierigkeiten mit dem Arbeitsamt bloggen? „So etwas will doch kein Mensch lesen!“ sagen Bekannte von mir – typischerweise solche, die meinen Blog nicht lesen. Sonst wären sie wohl zu höflich, um so etwas zu sagen. Aber sie sind Vertreter der Haltung: Man soll andere nicht mit seinem Elend herunterziehen. Oder: Man zeigt anderen besser nicht, wie schwach man ist. Oder: Über so etwas zu schreiben, das ist Befindlichkeitsprosa – wobei Befindlichkeitsprosa ein Schimpfwort ist. Ich weiss aber nicht genau, warum.

Wenn ich über diese Frage nachdenke, dann fällt mir immer eugene faust ein. Sie war eine ideenreiche Bloggerin, witzig, verspielt. Ich las sie gerne, aber unaufmerksam, konnte sie nicht recht einordnen. Erst kurz vor ihrem Tod 2013 schrieb sie ihre Autobiorafie. Die las ich wie gebannt, und erst ab da wusste ich mit Sicherheit, dass sie Multiple Sklerose hatte. Plötzlich begriff ich ihre Blogbeiträge als die Flaschenpost, die sie auswarf, um am Leben teilzuhaben. Hätte ich es früher gewusst, so hätte ich mich ihr verbundener gefühlt. Für mich als Menière-Patientin war und ist das Internet auch in mehreren Hinsichten die beste Art, mit Menschen in Kontakt zu bleiben. Das heisst ja nicht, dass man zu jener oft belächelten Spezies gehört, die keine anderen Freunde hat. Ich fühlte mich um etwas Wichtiges über Eugene Faust betrogen.

Heute verstehe ich, dass sie wohl gute Gründe für dieses Vorgehen gehabt hat. Dennoch werde ich weiterhin den Weg der Offenheit gehen. Ich werde – nicht nur, aber auch – über meine Krankheit schreiben:

– Weil ich glaube, mit der Sprache das Elend nicht nur beschwören, sondern auch bewältigen zu können
– Weil das hier mein Weblog ist – und ich verstehe ihn als öffentliches Tagebuch (ein im Moment zu sporadisch geführtes Tagebuch, zugegeben).
– Weil andere wissen sollen, dass sie mit ihrer Menière-Erkrankung nicht allein sind
– Weil endlich ein paar Ärzte merken sollten, dass man dieser Krankheit mehr Aufmerksamkeit widmen sollte

Falls ich auf dem Holzweg bin, erhebt bitte Einspruch!

Dies ist mein Beitrag zu Dominik Leitners grossartigem Projekt *txt. Das vierte Wort lautete: „trüb“.

Totenstille

Für manche Leute ist gesund zu bleiben eine heikle Gratwanderung. Wer eine chronische Krankheit hat, weiss, was ich meine. Ich zum Beispiel habe Morbus Menière. Bei mir lässt das Gehör nach, sobald ich Stress habe. Habe ich starken Stress, dann bekomme ich neuerdings wieder Schwindelanfälle. Und damit wir uns richtig verstehen: Stress sind für mich zwei, drei hektische Arbeitstage. Manche Familienfeste sind für mich so viel Stress, dass ich schon mal praktisch taub an einem runden Geburtstag eingetroffen bin. Und starker Stress ist für mich zum Beispiel eine Ferienreise – auch wenn sie vielleicht nur ins Tessin geht.

Zu viel Ruhe ist aber auch nicht gut. Das musste ich feststellen, als ich letzte Woche Ferien hatte. Ich hatte mir ein paar Tage genommen, um zu schreiben. Ich traf ganz wenige Abmachungen. Über die Festtage tauchen ja oft überraschend ausgewanderte Freundinnen auf Heimaturlaub auf – da will man sich nicht zum Vorneherein alles zukleistern mit Terminen. Und ich wollte wirklich Zeit haben, an meinem vermaledeiten vierten Roman zu arbeiten. Das ist kein Stress. Dachte ich. Und tatsächlich blieb alles ruhig. Und so stieg ich stieg tief hinunter in den dampfenden Maschinenraum des Geschichtenschreibens. Fast glaubte ich, die Mechanik meiner Story endlich verstanden zu haben.

Gleichzeitig aber bohrte sich ein Gefühl abgrundtiefer Einsamkeit in meine Magengrube. Täglich tiefer. Es schmerzte. Es blutete. Es lag wohl daran, dass dann die Freundinnen aus dem Ausland doch nicht kamen. Dass Herr T. vergrippt und reizbar war. Dass zwei alte Freundinnen gerade sang- und klanglos aus meinem Leben verschwinden. Ich kann mir schon einreden, dass ja neue dazu gekommen sind. In meiner Seele herrschte dennoch Totenstille. Die Ruhe begann mir auf die Ohren zu schlagen.

Gott, was war ich froh, dass ich wieder zur Arbeit durfte! Auch wenn es dort schnell ein bisschen stressig wurde.

Besser spät als nie: Mein Beitrag zum 17. Wort des Projekts *txt auf neonwilderness. Das Stichwort: „ruhig“ – danke, Dominik!