Schweizerdeutsch 40: Dieses pfahlförmige Gemüse

Schpargle (N, hier im Plural)

Standarddeutsch: Spargeln, zum Beispiel in „Es gibt Spargeln zum Abendessen“

Eines Tages vor vielen Jahren lud meine deutsche Freundin Helga uns zum Essen ein. „Es gibt Spargel“, sagte sie. Ich war befremdet, denn bis zu jenem Tag hatte ich nicht gewusst, dass „Spargel“ für Deutsche etwas Unzählbares ist, wie für Engländer „fish“ oder „sheep“. Wo doch die Zahl der weissen oder grünen Gemüsepfähle, die man beim Spargelessen auf dem Teller hat, meist gut überschaubar ist. In der Schweiz kommt die Spargel daher im Plural auf den Tisch, das lässt sich unschwer in schweizerischen Internet-Kochrezepten nachprüfen, zum Beispiel hier. Wir sagen: „Zom Znacht gits Schpargle.“ Es hat möglicherweise auch damit zu tun, dass das Wort „Schpargel“ für uns ein Zungenbrecher wäre, gewiss würden wir – jedenfalls im Luzernischen – schnell vom „Schpargu“ sprechen, das könnte dann auch singular sein, und so wüssten wir nicht sicher, ob wir vielleicht nur einen Spargel auf den Teller bekommen, was auch einen kleinen Hunger niemals stillen würde.

Schwerhörig: Jetzt müssen andere Sinne ran!

Im Herbst 2009 sass ich im Kantonsspital und weinte. Ich hatte gerade mehrere Hörstürze auf meinem guten Ohr gehabt. Ich gab mir eine schlechte Prognose, auch wenn der Ohrenarzt auf Zweckoptismus machte.

Eine Pflegerin wollte mich trösten, setzte sich zu mir ans Bett und sagte: „Sie müssen das jetzt einfach mit der Einstellung nehmen: Mein Gehör ist schwach, jetzt müssen andere Sinne ran!“ Ich schätzte die Geste, konnte aber schon damals nicht viel mit ihrem Rat anfangen. Heute, nach mehr als 15 Jahren, in denen meine Prognose sich allmählich bewahrheitete und doch alles nicht so schlimm kam, muss ich es einmal sagen: Kein anderer Sinn kann das Gehör auch nur annähernd ersetzen.

Eine kurze Geschichte, die umreisst, wie ich das meine: Vor etwa zwei Jahren war ich am Konzert einer Band, deren Lead-Sängerin ich persönlich kenne. Die Musik war elektronisch verstärkt, deshalb musste ich die Hörgeräte abstellen. Merke: Hörgeräte sind eine extrem hilfreiche Erfindung, aber Musik können sie, zumindest für mein Gehör, nicht adäquat wiedergeben.

So sass ich eine Stunde da und bekam von der Musik nur ganz wenig mit. Mein Blick aber klebte am Gesicht der Leadsängerin folgte geradezu besessen ihrer Mimik. Ihr Gesicht war erstens das am wenigsten langweilige im Saal. Zweitens merke ich in solchen Momenten, dass mein Auge Information sucht, die meine Ohren mir nicht liefern können. Nun denken wohl einige: Zum Glück kannst Du von den Lippen lesen, da hast Du wenigstens den Text verstanden! Aber Lippenlesen können ist für die meisten Spätertaubten ein Mythos, sowieso in einer Fremdsprache, und die Sängerin sang Englisch.

Ihre Miene war mal schalkhaft, mal etwas selbstgefällig; mal angestrengt, mal leicht und fröhlich, immer sympathisch. Aber es war eine ungeheuer ermüdende Stunde, denn ich konnte meine Augen noch so sehr anstrengen, sie konnten mir nicht das geben, was ich eigentlich von diesem Abend gewollt hätte.

Ich muss aber einräumen: Es gibt Moment, da merke ich, dass ich dank der Mehrarbeit meiner Augen (und meines Geruchssinns) mehr von meiner Umgebung mitbekomme als andere. Manchmal kann ich meine Erkenntnisse sogar für die Allgemeinheit nutzbar machen – aber davon erzähle ich ein andermal.

Schweizerdeutsch 39: Die Unplanbarkeit der Dinge

Bis dee schlüüft no mängi Muus ines anders Loch!

Standarddeutsch: Bis es soweit ist, schlüpft noch manch eine Maus in ein anderes Loch.

Sinngemäss: Über gewisse Dinge sollte man sich nicht zu früh Sorgen machen.

Am Dienstagnachmittag vor Ostern kommt unser Seitendisponent bei mir vorbei. „Wie viel Platz brauchst Du in den Ausgaben vom Gründonnerstag, vom Karsamstag und vom vom nächsten Dienstag?“ fragt er. Er ist etwas nervös. Vor Feiertagen sind wir bei der Tageszeitung immer etwas nervös. Alle müssen dann ihren Stoff in weniger Ausgaben als sonst unterbringen. Und jetzt will er tatsächlich alle Seitenumfänge bis zum kommenden Dienstag planen!

Dabei weiss ich noch überhaupt nicht, wie viel Platz ich in der Ausgabe vom nächsten Dienstag brauche! Die Mails mit meinem Stoff kommen unangekündigt, täglich, stündlich. Ich lächle ihn an, denn ich weiss, dass er morgen und am Donnerstag auch noch arbeitet: „Äh, ke Schtress, bis dee schlüüft no mängi Muus ines anders Loch!“ Seit ich mich hier mit Schweizer Redensarten auseinandersetze, kommen solche Sätze aus meinem Mund, bevor ich sie gedacht habe. Meine Mutter redete so zu uns Kindern, wenn wir uns viel zu früh über etwas ängstigten. Ich hütete mich stets, darüber nachzudenken, warum es früher bei der Planung eine Rolle spielte, in welchen Löchern die Mäuse sassen.

Aber der Seitendisponent kann weder mit meinem Lächeln noch mit Mauslöchern etwas anfangen. Er sagt: „Ach, ich trage Dir einfach mal die Normmenge ein!“

Am Karfreitag sehe ich dann endlich, wie die Mäuse sitzen  – und dass jetzt nicht genügend Löcher für sie da sind. Aber da hat der Seitendisponent frei.

Spazieren: Der Hauch der Erinnerung im Strassendorf

Neulich hörte ich auf, über die schwierige Sache mit dem Club der Flaneure und der Schwerhörigkeit nachzudenken. Ich stieg in Ebikon aus einem Bus und spazierte einfach los. Ebikon ist ein Strassendorf mit zahlreichen berotlichterten Übergängen, deshalb auch Amplikon genannt. An den Hängen stehen Neu- und Altbauten kreuz und quer wie wild parkierte SUVs an einem Grümpeltournier. Ich marschierte los und flüsterte: „Oh Agglo, offenbare Deine Geheimnisse!“ Aber der Ort blieb öd und verlassen.

Bis ich an die Strassenecke kam, an der einst Herr und Frau Nitroglyzerin  – kurz: Nitro – gewohnt hatten, in einem von der Bauwut vergessenen Bauernhaus. Hier pflegten die beiden in den neunziger Jahren einen Salon abzuhalten. Herr T. und ich waren oft dort. Es kamen allerhand Intellektuelle, zum Teil von weit her. Wir diskutierten über Paul Virilio, über Utopien und über die Genderfrage. Wir assen und rauchten und tranken und lachten, bis tief in die Nacht.

In den nuller Jahren mussten Herr und Frau Nitro dann doch ausziehen, das alte Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie zog in einen anderen Vorort, er verliess die Gegend ganz. Jetzt stehen dort gesichtslose Wohnblocks. Mir aber hauchte mit einem Mal aus dem Keller des Betonklotzes, der genau an der Stelle des alten Holzhauses steht, der dionysische Geist von damals entgegen. Er warf mich beinahe um. Ob dieser Geist abends auch in die Wohnungen der Menschen steigt, die in den neuen Häusern wohnen? Beschleicht sie nachts manchmal geistige Unruhe und eine seltsame schöpferische Gefrässigkeit? Hören sie ferne Stimmen über Paul Virilio reden? Riechen sie gar Wein? Oder – Gott bewahre! – Zigarettenrauch?

Ist die Erinnerung mächtiger, wenn man schwerhörig ist? Ich weiss es nicht.

Schweizerdeutsch 38: Osterbrauch

Eiertütsche (N, n)

Standarddeutsch: Eier aneinanderschlagen

Unser Osternest, zwei der farbigen Hühnereier haben wir bereits weggetütscht.

Am Eiertütsche können zwei oder mehr Personen teilnehmen. Jede wählt ein österlich bemaltes, zehn Minuten gekochtes Hühnerei. Nun erfolgt ein Wettkampf, bei dem jeweils zwei Personen mit ihren Eiern gegeneinander antreten. Ziel ist es, die Schale des Gegner-Eis zu beschädigen. Dies geschieht nach strikten Regeln. Zuerst müssen die Gegner ausmachen, wer sein Ei von oben auf dasjenige des anderen hauen darf. Dabei gilt: „Spitz gäge Spitz“ oder „Gupf gäge Gupf“ – man schlägt also stets entweder die Spitzen der beiden Eier aufeinander – oder die unteren, mehr gerundeten Teile. Nach dem Erstschlag, bei dem meist eines der Eier beschädigt wird, dreht man die Eier um und schreitet zum Zweitschlag. Wenn danach beide Eier beschädigt sind, gibt es einen Drittschlag, Spitz gegen Gupf. Gesiegt hat, wer weniger Schäden am Ei hat. Danach isst man die Eier mit Aromat oder Salz.

Und an Euch alle noch der momentan am häufigsten gehörte Gruss: „schöni Oschtere!“

Kann man als Schwerhörige flanieren?

Flanieren kann doch jede und jeder, denkt man. Aber das stimmt eben nicht so richtig. Louis Huart, einer der Väter der Flanerie, definierte 1841 sehr genau, wer in den exklusiven Club der Flaneure aufgenommen wird. Es sind selbstverständlich Männer, und sie haben: „Gute Beine, gute Ohren und gute Augen (siehe hier).“ Ich bin also gleich doppelt für die Mitgliedschaft im Club der Flaneure disqualifiziert – als Frau und als Schwerhörige. Die begnadete Amerikanerin Lauren Elkin erledigte 2016 in ihrem Buch „Flâneuse“ zum Glück die Geschlechterfrage. Überhaupt ist das Flanieren ja kein Wettkampfsport, sondern etwas im Grunde Verspieltes, ja, Subversives.

Und doch nagte die Disqualifikation wegen schlechten Gehörs an mir. Huart findet, man brauche ein gutes Gehör, damit einem keiner der Dialogfetzen von Passantinnen und Passanten entgeht in einer Stadt, in der Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten sich begegnen. Da kann ich leider tatsächlich nicht mithalten. Und es stimmt ja: So ein Tinnitus als einziger Begleiter beim Durchstreifen einer Stadt kann sehr langweilig sein.

Was also soll ich machen, um allen Ernstes als Flaneuse gelten zu dürfen? Soll ich Inklusion im Club als mein Menschenrecht einfordern? Oder soll ich dem Club etwas anzubieten versuchen, was den anderen Mitgliedern imponiert?

Schweizerdeutsch 37: Wenn die Obstbäume blühen

Machemer es Blueschtfährtli!

Standarddeutsch: Machen wir doch eine kleine Blustfahrt!

Wenn die Obstbäume blühen, fahren Herr T. und ich manchmal mit der S-Bahn hinaus ins Seetal. „Machemer es Blueschtfährtli!“ sagen wir, bevor wir in den Zug steigen. „Blueschtfährtli“ klingt, als käme es aus dem Vokabular unserer Grosseltern, und so stellen wir uns denn Grosseltern vor, die nach Jahren harter Arbeit wohl verdiente Zeit haben, um mit einem altmodischen Auto über noch einspurige Landstrassen zu tuckern. Links und rechts nicken ihnen Kirschbäume mit himmlisch weissen, wogenden Frisuren zu. Grossvater sagt fachmännische Dinge über Chlöpfer und Brönner und irgendwo besuchen sie ein Kapälleli, vielleicht dasjenige in Ursmu, danach kehren sie in einer Gartenbeiz ein, er gönnt sich ein Rivella, sie eine Cremeschnitte.

Für ein Blueschtfährtli hatte ich dieses Jahr noch keine Zeit, aber für ein Blueschtschpaziergängli am 11. April im Maihof Luzern.

 

Schweizerdeutsch 36: Zipperlein

Was emmer echli lödeled, lod ned.

Standarddeutsch: „Was immer ein wenig klapprig ist, geht nicht kaputt.“ Oder, sinngemäss: „Unkraut vergeht nicht!“ Ältere Leute brauchten diesen Aphorismus früher, wenn sie Zipperlein hatten und unsere Sorge um sie beschwichtigen wollten.

Was „lödele“ heisst, habe ich hier erklärt. Das Verb „lo“ brauchen wird, wenn ein Gebrauchsgegenstand kaputtgeht, zum Beispiel: Der Tragriemen meiner Tasche „hed glo“ – er ist abgerissen.

Ich möchte unbedingt auf den nicht ganz reinen Binnenreim „lödeled – lod“ hinweisen, der hier – vielleicht allzu zweckoptimistisch – einen Gegensatz zwischen klappern und kaputtgehen behauptet.

Schweizerdeutsch 35: Lottrig

lödele (V)

Standarddeutsch: lottern, klappern, ein wenig Spiel haben. Man stelle sich zum Beispiel einen alten Fensterladen vor, der lose Scharniere hat und an dem Windstösse zerren. Meist erzeugt „lödele“ auch ein Geräusch, etwa wenn Holz auf Mauerwerk oder Plastik auf Steingut stösst.

Schwerhörig: Dichtestress im Park

Frühlingsstimmung. Herr T. und ich spazieren auf der Allmend. Wir wollen gerade das Paar vor uns überholen und setzen zu einer nicht optimal koordinierten Richtungsänderung an. Da gellt von hinten eine Frauenstimme: „Achtung, Joggerin!“ Ich bin noch verdutzt, da schiesst schon eine Frau in roten Shorts zwischen uns nach vorne. Herr T. empfindet ihren Warnruf als Zumutung: „Sie kommt von hinten und will uns überholen. Sie soll gefälligst selbst dafür sorgen, dass sie ohne Rempelei an uns vorbeikommt!“ schimpft er.

Früher sah ich das genauso wie er. Ich empfand es als Übergriff, wenn zum Beispiel Radfahrer hinter mir mich mittels Klingeln aufforderten, gefälligst für sie vom Weg zu jucken. „Heute sehe ich das anders“, sage ich zu Herrn T. „Ich habe keine Chance mehr, Fahrräder zu hören. Ausserdem mache ich wegen meiner Gleichgewichtsstörungen zuweilen unerwartete Gehschlenker. Da ist es mir mittlerweile lieber, wenn Zweiradfahrer klingeln.“

Herr T. ist nicht restlos überzeugt. Und es stimmt ja: Ein Warnruf oder Klingeln allein erklärt noch nicht, ob die Person von hinten links oder rechts überholen will. Vor allem nicht denjenigen, die ein so schlechtes Richtungsgehör haben wie ich.